Ich rege mich jedes Mal von Neuem darüber auf, aber so langsam platzt mir echt der Kragen.
Gibt es in Deutschland eine Möglichkeit, stipendiare oder sonstige Studien- und Ausbildungszuschüsse zu erhalten, ohne dafür überdurchschnittliche Leistungen in Schule UND Studium UND gesellschaftspolitisches Engagement UND eine gewisse Meinungs- oder religiöse Orientierung vorzuweisen?
Ernsthaft, wenn ich die Zeit hätte, mich auf meine Studienaufgaben ordentlich vorzubereiten, mit lückenloser Anwesenheit zu glänzen, die entsprechenden Noten zu schaffen, mich dann noch außerordentlich politisch und/oder gemeindlich zu engagieren und das in Überschneidung mit dieser oder jenen Lebensweise... wenn ich dafür bisher die finanzielle Absicherung genossen hätte, dann bräuchte ich wohl kaum ein Stipendium.
Aber nein, leck uns am Arsch, sagen sie, deine Leistungen sind mittelmäßig und dein Engagement liegt unter dem Durchschnitt, dass du deine Situation verbessern willst und dass du dafür Geld brauchst, weil du kein wohlhabendes Elternhaus hast und dir das Geld nich aus dem Arsch regnet, dafür haben wir kein Verständnis und es ist auch nicht wichtig, denn du brauchst kein gesundes Umfeld, in dem du nicht mehr Stunden in der Woche für deinen Lebensunterhalt sorgst als für deine Studienleistung.
Leute, ich weiß, dass ihr hier die Hand ausstreckt und euch in finanzielle Risiken begebt, selbst mit vollständig zu erstattenden Darlehen. Ich weiß, dass blindlingses Vertrauen keine sonderlich schlaue Philosophie ist in dieser Gesellschaft. Aber ein Konzept, das nur die Leistungsstarken oder die bereits Abgesicherten unterstützt - was ist der Sinn dahinter? Wieso hält man das für sozial?
Und nein, ich kann kein unentgeltliches Vollzeitpraktikum machen, weil mir in dieser Zeit Einnahmen fehlen würden, die ich und meine Familie zum Leben brauchen. Dass ich so ein Praktikum für meinen Abschluss benötige und dass ich ohne allermindestens ein solches Praktikum niemals im Berufsleben Fuß fassen werde, ist da kein sonderlich kleiner Faktor.
Leck uns am Arsch, sagen sie, andere machen's ja auch. Ja, andere machen das auch. Sogar um ein Vielfaches mehr als Leute wie ich. Mir ist klar, dass ich zu einer 3,5%-Minderheit in Deutschland gehöre, was das angeht. Damit bin ich aber immer noch einer von über einer Million. Und dafür greift nichts? Ist es wirklich so unanständig arm zu sein und zu studieren?
Ich bekomme ab Ende des Sommersemesters ein Darlehen von den Eltern meiner toten Freundin; leihe mir Geld von Menschen, zu denen ich eine nicht sonderlich enge, aber zumindest persönliche Verbindung von 3 Jahren besitze ich die ich in den vergangenen 4 Jahren 3 mal vis-à-vis gesehen habe. Und ich weiß, dass ich damit einen Menschen ersetze, den sie jetzt nicht mehr finanziell unterstützen können, und dass ich das nur aufgrund meiner ehemaligen Bindung zu diesem Menschen tue.
Ich werde also auf jedem zweiten Kontoauszug eine Zahl sehen, die mich immer wieder daran erinnert, dass ich mein ganzes restliches Leben einer Beziehung verdanke, die ich in meiner Schulzeit geführt habe; dass mein gesamter gesellschaftlicher Wert sich nur auf diese eine Sache und unter 200 Euro BAföG beschränkt, mit denen ich meine Niedrigmiete bezahle; dass Schnee weiß ist und das soziale Auffangnetz in Grauzonen nur mit persönlichen Opfern sehr lieber und zuvorkommender, aber dann doch ziemlich fremder Menschen funktioniert.
Im Endeffekt kann ich's denen, die sich so ein System ausgedacht haben, nicht einmal übel nehmen. Es funktioniert in soundsovielen überwiegenden Fällen zumindest wackelig. Aber das macht die Situation nicht weniger bescheuert und es kostet deshalb nicht weniger Überwindung, Geld anzunehmen, für das ich weder mit Leistung noch mit gesellschaftlicher Rechtfertigung noch mit höherem Verwendungszweck aufkommen könnte.