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Thema: Gut und Böse

  1. #41
    Zitat Zitat von real Troll Beitrag anzeigen
    Ein Schlenker: Ich finde nicht jedes böse Motiv spielerisch befriedigend, vor allem, wenn es zu grau wird. Der böse König beschließt, tausend Menschen umbringen zu lassen. Unser Held stemmt sich dagegen, metzelt die Schergen des Königs dahin, steht endlich im Thronsaal und erfährt, der König habe nur den Großteil seiner Untertanen retten wollen, weil eine fürchterliche Krankheit drohe und nicht gegenügend Arzneien für alle Menschen vorhanden seien. Bevor alle unterversorgt sind, rettet der König lieber die Mehrheit auf Kosten der Wenigen. Bäh, was soll
    Wobei ... wenn das schön inszeniert wird, und einen gar emotional bewegt kann das auch ein "tolles" Ende sein...

    Ich könnte mir zum Beispiel gut eine Revolutionsgeschichte vorstellen, bei der sobald das Regime - unter Hilfe des Heldens - gestürzt ist, der Held herausfindet, dass eigentlich auch die vermeintlich Guten eigentlich nur machtgeil waren, und nun ein eventuell sogar schlimmeres Regime errichten als zuvor.
    Funktioniert in der Realität ja auch. (NLA / FSA).

  2. #42
    Hm. Ich finde, es kann ein guter TWIST am Ende sein, aber aufhören sollte man dort lieber nicht. Dann fühlt sich wie erwähnt die gesamte Spielzeit etwas verschwendet an. Sage ich aus Erfahrung. Wenn man noch auf die Ergebnisse eingehen kann, ist es aber schon wieder etwas gänzlich anderes.

    Es sei denn natürlich, man will echt einen auf total-artsy machen und auf die Motivationen der meisten Spieler scheißen.

    Zitat Zitat
    Funktioniert in der Realität ja auch. (NLA / FSA).
    Das ist aber ein echt schlechtes Argument. ^^'' In einem Rollenspiel hast du die ROLLE des Helden -- das heißt, du darfst es nicht mit einem realen Ereignis vergleichen, das du von irgendwo hörst (das mag durchaus eine schöne Geschichte sein!), sondern mit einer Erfahrung, die du selbst machst. Und glaub mir, das ist für die entsprechenden realen Menschen genau so deprimierend wie für den Spieler. Zumindest, wenn es an der Stelle aufhört.

  3. #43
    Ja naja. Von der Realität abgesehen (die aber halt gut ist, um das ganze "Realistisch" zu machen, bzw. eine auf die Realität anwendbare Botschaft zu vermitteln), funktioniert das ganze doch auch in Romanen recht gut.
    Es gibt so viele Romane in denen der Hauptcharakter sich am Ende umbringt, getötet wird, scheitert, oder sonstwas. Und teilweise sind das gefeierte Bücher, die gerade deswegen so toll sind.

    EDIT: Gilt freilich auch ab und an für Filme, zumindest solche die in Richtung Drama gehen. "Z" zum Beispiel würde selbst wenn das ganze nicht in echt passiert wäre, ohne den "Magenschlag" ganz am Ende einfach nicht funktionieren ...

    Geändert von Jerome Denis Andre (30.08.2012 um 12:46 Uhr)

  4. #44
    Ich denke, dass das (Rollen)Spiel von allen Medien am stärksten auf eine positive Identifikationsfigur angewiesen ist. Man empfindet ja nicht nur nach, sondern man steuert die Figur auch. Romane mit einem tragischen Ende wollen wohl meistens mit dem Scheitern des Helden etwas aussagen, ich weiß nicht ob Spiele, also vor allem Rollenspiele, in denen man sich wegen dem Grinden und Erkunden nie ganz auf die Geschichte konzentriert und der Spielspaß auch nicht nur durch sie entsteht, dafür so geeignet sind. Und Tragik, die nur dazu da ist, damit am Ende alle schön schluchzen, ist nichts besonders Erstrebenswertes. Die wäre dann auf dem Niveau der Telenovellas und Seifenopern.

  5. #45
    Wie gesagt, in einem ROLLENspiel übernimmt man eine oder mehrere ROLLEN. Das ist schon der entscheidende Unterschied zu Büchern, Filmen etc. Das heißt nicht mal, dass ein Spiel nicht tragisch sein darf, aber es darf nicht alles, was der Spieler geschafft hat, Null und nichtig machen.

    Letztendlich kann ich mir aber sogar vorstellen, dass das klappt. Dann darf nur keine allzu starke Identifikation mit dem Helden sein, die Story muss weit wichtiger sein als ein individuelles Spielgefühl und wahrscheinlich wäre es sogar vorteilhaft, wenn das Ganze möglichst wenig "Spiel" ist.

  6. #46
    Zitat Zitat
    Es gibt so viele Romane in denen der Hauptcharakter sich am Ende umbringt, getötet wird, scheitert, oder sonstwas. Und teilweise sind das gefeierte Bücher, die gerade deswegen so toll sind.
    Naja, es ist aber ein Unterschied, ob ein Held am Ende "einfach nur" stirbt, oder ob man ein "Übrigens, alles, was passiert ist, war völlig sinnlos" ins Gesicht geklatsch bekommt.

    Einfaches Beispiel:
    Jungfrau soll bösem Drachen geopfert werden.
    Gut: Vater von Jungfrau kämpft gegen Drachen, erschlägt ihn, wird aber schwer verwundet. Er stirbt in dem Wissen, dass er seine Tochter gerettet hat.
    Schlecht: Vater von Jungfrau kämpft gegen Drachen, erschlägt ihn, wird aber schwer verwundet. Er stirbt in dem Wissen, dass er seine Tochter gerettet hat. Eine Woche später kommt ein neuer Drache und verspachtelt die Jungfrau doch noch.

  7. #47
    Die Sache ist doch ganz einfach:

    Was eine Geschichte vermitteln soll, ist am Ende das gefühl, das der Spieler durch seine Handlungen etwas BEWEGT hat. Das muss aber nicht immer das klassische Happy-End sein. Natürlich darf die Welt, nachdem der Held sie gerettet hat, in trümmern liegen. Aber das wichtige ist, dass der Spieler das Gefühl bekommt, es ist sein Verdienst, das die Welt überhaupt noch existiert.
    Wenn den Leuten im Spiel am Ende nichts anderes bleibt, als Tod, Zerstörung, Elend ... und ein winzig kleiner Schimmer Hoffnung, auf eine bessere Zukunft, dann ist das ein tolles, tragisches Ende, finde ich. Aber wenn dieser Schimmer Hoffnung einfach weggewischt wird, und der Spieler da da sitzt und sich fragt "Und wozu nun alles?" Dann ist das Ende Mist.

  8. #48
    Antwort spät nachgelegt, eine Reise nach Strassburg ist jenseits von Gut und Böse!

    Zitat Zitat von real Troll Beitrag anzeigen
    Wäre so ein äußerliches Böses nicht lediglich eine bloße Zustandsbeschreibung?
    Ich würde nicht unbedingt und von vornherein von einer Zuschreibung sprechen. Das Konzept "Böse", das der Mensch hat, ist relativ universell (Jung würde womöglich von einem dunklen Archetypen sprechen); es ist das andere, bedrohliche Etwas. Ethisch böse ist ja auch nur das, das die uns konstruierte Ethik gefährdet -- wie böse ist einer, der ganze Volksstämme zum Sklavendienst unterjocht? Nach unserer modernen Auffassung womöglich ziemlich. Dann wiederum steht unsere Gesellschaft auf der Basis von Gesellschaften, die genau das über Jahrhunderte hinweg getan haben, kollektiv und ohne viele Skrupel.
    Was heißt das für diesen Fall hier? Das "Böse" ist ein füllbares Konzept, aber es ist ein beständiges. Egal wo man es jetzt herleitet, sei es aus den Urinstinkten, aus der kulturellen Genese oder aus einer Prägung, die jeder von uns erfahren hat: Das Böse ist als Vorstellungsobjekt irgendwie da und vielseitig mit Konnotationen belegbar. In unserer Gesellschaft ist das beispielsweise das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einst gehörte dazu auch das Verbrechen gegen göttliches Gebot (der Pakt mit dem Teufel hat noch heute so einen Anklang von Urbösem).

    Ach ja, das Urböse (oder auch Archetypus des Bösen). Hier steckt meiner bescheidenen Einschätzung nach die Quelle jeder Vorstellung des Bösen, gerade eben weil das Böse in der Regel keine Motivation und Erfahrbarkeit haben kann. In der Instinkt-These würde man hier wohl mit dem Bedrohlichen der Natur argumentieren, mit den natürlichen Feinden der frühen Menschen. Die Kultur-These würde eher vom Eigenen (das Gute) und dem Anderen (das Böse, potentiell Gefährliche) ausgehen, individuell sähe man darin womöglich nicht-hinterfragte Grenzerfahrungen. So oder so führt offengelegte Motivation zu Vertrautheit, Vertrautheit zu Abschwächung und letztendlich zu Verlust des "Böse"-Charakters -- das Böse würde quasi domestiziert. Dabei ist doch aber Auslöschung das Ziel. Die Domestikation ist eher eine Zwangsvorstellung vor allem moderner Gesellschaften, deren Moralkodex Auslöschungsgedanken unterdrücken macht.

    Versteh mich dabei nicht falsch, ich persönlich finde wie erwähnt die Erfahrbarmachung des Bösewichts ebenfalls unheimlich spannend. In diesem Moment löst sich allerdings die Gut-Böse-Dichotomie beinahe auf (meiner Meinung nach auch Intention der Perspektivierung bzw. Domestikation). Wir sprechen dann meiner Meinung nach über ein anderes Erzählschema. Beide sind inhärent spannend, was ja auch der Grund ist, warum beide sich noch immer halten und teilweise miteinander spielen. Heutzutage spielt auf beiden Ebenen die ethische Komponente eine große Rolle, was im Gut-Böse-Schema zu erwähnten etwas lächerlichen Situationen führt, wo die Handlungsmotivation händeringend überkleistert werden muss.

    Darüber hinaus habe ich mich auch stellenweise etwas unklar ausgedrückt: Es geht nicht ausschließlich um komplett unmotivierte Bösewichte, allerdings kommt es eben, je mehr Perspektive man vom Bösen erhält, zum Domestikationsphänomen. Will man die Dichotomie der Bedrohlichkeit aufrecht erhalten, müssen diese Ausdrücke ausbleiben, oder aber die Andersartigkeit und Gefahr bestätigen: Der Nazi-Offizier, der für Frau und Kinder (Maxime des Verantwortungsbewusstseins) sorgen muss und nur Befehle ausführt, um für sie am Leben zu bleiben (Maxime der Notwehr), ist eine vollkommen andere Figur als der sadistische Schlächter, der völlig ohne Grund (Maxime der Rationalität) und ohne Skrupel (Maxime des Bewusstseins von Grenzen) foltert und tötet. Die Grusel-Faszination beispielsweise des Geisteskranken geht vor allem von dessen Unberechenbarkeit und Unmotiviertheit aus -- es gibt keine abschätzbaren Gründe für sein Handeln, deshalb steht er sehr nah am Urbösen, das uns auch ohne erkennbaren Grund Leid zufügt.


    Zitat Zitat
    Ein Schlenker: Ich finde nicht jedes böse Motiv spielerisch befriedigend, vor allem, wenn es zu grau wird. Der böse König beschließt, tausend Menschen umbringen zu lassen. Unser Held stemmt sich dagegen, metzelt die Schergen des Königs dahin, steht endlich im Thronsaal und erfährt, der König habe nur den Großteil seiner Untertanen retten wollen, weil eine fürchterliche Krankheit drohe und nicht gegenügend Arzneien für alle Menschen vorhanden seien. Bevor alle unterversorgt sind, rettet der König lieber die Mehrheit auf Kosten der Wenigen. Bäh, was soll das denn? Schlimmer noch: Weil wir auf unserem Abenteuer an die tausend Schergen getötet haben, haben wir dem König die eklig schwere Aufgabe bereits abgenommen.
    Genau SO (in etwa) motiviert Wolfgang Holbein seine Geschichten. ^^

    Zitat Zitat

  9. #49
    Zitat Zitat
    Genau SO (in etwa) motiviert Wolfgang Holbein seine Geschichten. ^^
    Oh mein Gott, das stimmt.
    Jetzt weiß ich auch, warum die ein, zwei Bücher, die ich gelesen habe, kurz nach dem Lesen immer extrem deprimierend schlecht waren, mir mit etwas Abstand dann aber (zumindest in dieser Hinsicht) ganz gut gefallen haben. xD

  10. #50
    Beim Stichwort Hohlbein fällt mir noch ein Beispiel für "So nicht!" ein: Die Insel der Sternenbestie, ein Spielbuch auf Enwor.


  11. #51
    @ Mordechaj
    Wenn man das Böse einem generellen Relativismus anheim stellt, kann das erzählerisch zum Spannungsabbruch führen. Das sehe ich ganz ähnlich, denn das vollständig Erklärte (beim Bösen: vollständig schuldentlastet) wird schnell reizlos und gewöhnlich. Belässt man im Schurken bei aller Motivsuche eine Portion "Urböses", erhält man sich das feindliche Fremde als unnahbaren, schillernden Reiz. In den schattigen Fugen hockt noch Mythos.
    Wird das Spiel dadurch platt? Im Ausdruck "Märchen für Erwachsene" liegt Herablassung; zwar habe sich der Autor bemüht und sei dem ganz Simplen entronnen, aber die triviale Herkunft, die Genre-Verwandtschaft hafte unlösbar am Werk. Wer auf grimmigen Grau-Realismus pocht, wird dem Satz, das Böse sei nur das jeweils zeitgemäße Konstrukt einer bestimmten Gesellschaft (Soziologie) oder der Willensfreiheit des jeweiligen Einzelnen (Existenzialismus), folgen wollen, denn dieser verspricht die Aura höheren Verständnisses. Ich halte die Ängste, man verlöre seinen Anspruch, wenn man angeblich unreflektiert vom Wesen "des Bösen" spricht, für übertrieben. Erstens ist alles in einer Geschichte gut aufgehoben, wenn es dramaturgisch funktioniert. Wahrheitsfindung und Erkenntnisvermögen muss man nicht unbedingt aus einem Makerspiel ziehen wollen müssen. Neben dem allgemeinen Argument habe ich noch ein spezifisches. Denn zweitens halte ich die behauptete Konstruiertheit des Bösen in dieser absoluten Aussage für falsch, sehe zumindest hier nicht einmal einen prinzipiellen Widerspruch zum ersten Satz.
    Mord, Diebstahl, Vertrags- oder Vertrauensbruch sind bei allen Wandeln bleibende Verurteilungsgründe. Der Relativismus deutet auf die Grenzen dieser Aussage, setzt dabei allerdings bei einer allgemeinen Menschenmoral an, stochert hier aber im Leeren und demonstriert nur, dass es sie nicht gibt. Er setzt sich ein überdehntes Zugehörigkeitsempfinden als Basis. Fragt man hingegen nicht nach allen Menschen, sondern nur nach den Zugehörigen einer Gruppe (ja, deren Grenzen sind nicht schicksalsgegeben), gewinnt das Böse klarere Kontur. Es ist der Gruppenschädling, der Spalter - schlimmstenfalls ein solcher, der das Vermögen der anderen, überhaupt einen Sozialverband bilden zu können, unterminiert. Bei allem Bemühen, das Böse immer nur als von den den sich ändernden Umständen bedingt ansehen zu wollen, ist der genannte Punkt ein ziemlich stabiler Angelpunkt der ethischen Wertung. Schlage ich nach, lese ich, dass sich der Teufel in der Sprache des Neuen Testaments von "entzweien" ableitet, dass schon Platon von der ursprünglichen Ungeteiltheit der noch nicht für ihr Vergehen gestrafter Menschen sprach und fühle mich total bestätigt.
    Für die Makerpraxis: Das Böse ist urtümlich böser in einer Bürgerkriegsgeschichte als in einer Erzählung über zwei verfeindete Königgreiche.

  12. #52
    @Mordechaj: Ich denke, geht man nach Jung, sind Gut und Böse Zustandsableitungen. Beides entspringt dem Bewusstsein, im Gegensatz zu den Archetypen, die uns nur bei ihrer inhärenten Interpretation bewusst werden können. Die Vorstellung gefällt mir, denn sie erklärt unser gültiges Rechtsverständnis: Wer unbewusst handelt, ist entweder vermindert schuldfähig, gar nicht, oder gehört für immer weggesperrt. Jung würde vielleicht sagen, böse ist, wer die Archetypen kennt, sich ihre Numinosität bewahrt hat und trotzdem wider besseren Wissens handelt. Vielleicht würde er so einen Menschen aber auch einfach als geisteskrank abtun. Menschen ohne Numinosität seien höchsten unmoralisch und das schließt besonders solche Beispiele ein:
    Zitat Zitat
    wie böse ist einer, der ganze Volksstämme zum Sklavendienst unterjocht? Nach unserer modernen Auffassung womöglich ziemlich. Dann wiederum steht unsere Gesellschaft auf der Basis von Gesellschaften, die genau das über Jahrhunderte hinweg getan haben, kollektiv und ohne viele Skrupel.

  13. #53
    Zitat Zitat von real Troll Beitrag anzeigen
    Erstens ist alles in einer Geschichte gut aufgehoben, wenn es dramaturgisch funktioniert. Wahrheitsfindung und Erkenntnisvermögen muss man nicht unbedingt aus einem Makerspiel ziehen wollen müssen.
    Da stimme ich völlig zu, das wäre auch ein fragwürdig übertriebener Anspruch. Es geht mir auch eher um die quasi psychologische Wirkung, also das Warum? der dramaturgischen Funktionabilität. Ich denke, das Böse wird auf Erzähl- und Erfahrungsebene reizvoll, weil es -- verhelfs des ewigen Triumphierens des Guten -- den Exorzismus zulässt. Die Auslöschung hat befreienden Charakter. Gleichzeitig hat aber auch die Erfahrbarmachung und Annäherung ihren Reiz, die Domestikation des Bösen verleiht Macht und Bildungscharakter. Beides erfüllt psychologisch teilweise sogar offenliegende Bedürfnisse des Rezipienten, im ersten Fall die (Selbst-)Überwindung, in zweiterem die Selbstpotenzierung bzw. die Potenzierung der Welt. Zwei grundsätzlich positive Urerfahrungen: Einmal der Sieg durch Vernichtung, ein andermal das Lernen und Weiterentwickeln (das letztendlich ebenfalls ein Abtöten des Überwundenen einschließt). In beiden Fällen lässt sich seine grundsätzliche (Um-)Ordnung erreichen, entweder durch Reinstallation (Beheben des ordo-Bruchs), ein andermal durch Reorganisation (Abschluss einer Entwicklung zum neuen Ganzen). Im Auslöschen der bösen Andersartigkeit kommt der Rezipient dann, den Protagonisten stellvertretend, für eine Weile zur idealen Gänze; im Domestizieren und Übersteigen des bösen Störenfrieds macht er die beruhigende Erfahrung der Veränderlichkeit -- stellvertretend für die Erzählwelt.

    Und da gibt es natürlich Zwischennuancen und Mischverhältnisse, die auf das anvisierte Publikum abgestimmt sein wollen. Dennoch sind beide Erfahrungen grundständig.

    Zitat Zitat
    Mord, Diebstahl, Vertrags- oder Vertrauensbruch sind bei allen Wandeln bleibende Verurteilungsgründe. Der Relativismus deutet auf die Grenzen dieser Aussage, setzt dabei allerdings bei einer allgemeinen Menschenmoral an, stochert hier aber im Leeren und demonstriert nur, dass es sie nicht gibt. Er setzt sich ein überdehntes Zugehörigkeitsempfinden als Basis. Fragt man hingegen nicht nach allen Menschen, sondern nur nach den Zugehörigen einer Gruppe (ja, deren Grenzen sind nicht schicksalsgegeben), gewinnt das Böse klarere Kontur. Es ist der Gruppenschädling, der Spalter - schlimmstenfalls ein solcher, der das Vermögen der anderen, überhaupt einen Sozialverband bilden zu können, unterminiert. Bei allem Bemühen, das Böse immer nur als von den den sich ändernden Umständen bedingt ansehen zu wollen, ist der genannte Punkt ein ziemlich stabiler Angelpunkt der ethischen Wertung. Schlage ich nach, lese ich, dass sich der Teufel in der Sprache des Neuen Testaments von "entzweien" ableitet, dass schon Platon von der ursprünglichen Ungeteiltheit der noch nicht für ihr Vergehen gestrafter Menschen sprach und fühle mich total bestätigt.
    Für die Makerpraxis: Das Böse ist urtümlich böser in einer Bürgerkriegsgeschichte als in einer Erzählung über zwei verfeindete Königgreiche.[/QUOTE]
    Hier aber gerade sehe ich den Punkt: Die Zuschreibungen sind (wie so oft) arbiträr und kontextbasiert. Was unterscheidet denn unser Verständnis von Böse von dem anderer Kulturen? Genau, vor allem das Verständnis des Eigenen, die Definition der eigenen Sphäre und des eigenen Sozialverbandes. Die Konstruiertheit des ethischen Bösen schlägt sich dort nieder, wo ihm kulturelle Zuschreibungen eingeflöst werden, die dadurch innerhalb dieser Kultur beinahe untrennbar mit der Ahnung vom Urbösen verbunden sind. Und auch dieses Konstrukt ist wieder kontext- und nutzenabhängig; beispielsweise ist Mord in jeder Gesellschaft völlig anders definiert, teilweise sogar spaltet dieses Definitionsproblem neue Gruppen in diese Gesellschaft. In manchen ist der Ritualmord alltäglich Gutes, die Todestrafe Erhaltungswerkzeug einer etablierten Ordnung. Jede Gesellschaft definiert sich, was sie für schützenswert erachtet -- Ist es das Leben? Welches und wessen Leben? --, ein Verstoß gegen diese konstruierten Kleinodien ist dann ethisch verwerflich. Das gilt auch für Vertrag und Vertrauen, denn auch diese haben nur intrinsischen Wert, nicht aber über die Grenzen der Sphäre des Eigenen hinaus: Klar, sie sind ja gerade die Konstituenten des Sozialverbandes.

    Ich glaube im Übrigen, wir reden ohnehin gerade über dasselbe und sind eigentlich ganz ähnlicher Meinung, haben da nur einen anderen Wortschatz. Das Konstruierte steht immer im Kontext der jeweils eigenen Sphäre und kommt inklusive eines Konzeptes vom "Anderen" (hebr. שטן satan: "Gegner"; die Nebenbedeutung "Ankläger" kommt aus dem semitischen Gerichtswesen, wo einer dem anderen gegenüberstand) und lässt ihm Gefährdungscharakter angedeihen (griech. διάβολος, diábolos: "Entzweier", "Störer", "Verderber", "Verdreher"; mit διά durch [in der griechischen Multikonnotation], βάλλω werfen, aber auch: gestürzt werden --> "Gefallener", "Verstoßener"; es handelt sich bei διάβολος um ein Wortspiel en façon der mündlichen Tradition im östlichen Mittelmeerraum). Das Andere, Fremde, ist immer bedrohlich -- bis man global denkt.

    Zitat Zitat von Owly Beitrag anzeigen
    Ich denke, geht man nach Jung, sind Gut und Böse Zustandsableitungen. Beides entspringt dem Bewusstsein, im Gegensatz zu den Archetypen, die uns nur bei ihrer inhärenten Interpretation bewusst werden können.
    Auch hier würde ich gern eine Unterscheidung zwischen dem ethischen Bösen und eben dem Urbösen vornehmen. Viele Attribute des Bösen sind nämlich alles andere als bewusst -- beispielsweise das Hässliche und Bedrohliche, Monströse. Ob wir uns da jetzt einbilden, es handle sich um evolutionär potente Überbleibsel der ersten Säugetiere, die noch den fetten Mäulern von Dinosauriern durch instinktive Angstreaktionen entrinnen mussten, oder ob wir darin ein grundlegend gesundes Verteidigungsverhalten sehen, bleibe erstmal außen vor. Das ethische Böse jedenfalls ist bestens noch eine Umlagerung der kulturellen Vorstellung von Verwerflichem auf das grundständige Urböse. Beides ist aber immer noch trennbar, das bedrohliche, unmotivierte Urböse mit all seinen Konsequenzen noch unbewusst verdauert.

  14. #54
    @ Mordechaj
    Klar, im Grundsätzlichen reden wir beide über dieselben Relativismen. Trete ich aus den Bedingtheiten der Gruppe und verschaffe mir den äußeren Blick (per Exil, kulturübergreifender Kontaktfreude oder Zeitreise), sehe ich die Kontextabhängigkeiten der jeweiligen Gruppenmoral, ihre Entwicklung und Wurzeln. Absolutheiten verschwimmen nur zur spezifischen Zwischenstationen des Wandels.
    Warum ich mich trotzdem an der angreifbaren rhetorischen Figur erprobe, etwas Absolutes (Das Böse) auf relativer Grundlage zu behaupten, folgt aus zwei Problemen, die der äußere Blick in meinen Augen mit sich bringt. Im gedanklichen Spiel mit Wahrnehmungen zerfließt ihm das präsente Phänomen bösen Tuns und böser Ziele zur Sinnensstörung. Ausgerechnet auf dem Feld der Moral macht sich der äußere Blick begriffslos, weil er den Hauptgegenstand (gewiss listig) hinweg definiert. Mein zweites Problem ist erkenntnistheoretischer Natur. Der äußere Blick hat eine persönliche Grenze (ich werde nie zum Betrachter der gesamten Erde taugen, schon gar nicht mit der Implikation eines Richters) und auch ein Größerer als ich stößt an die absolute Grenze seiner Weltgebundenheit, denn das Beobachterproblem liegt kurz gesagt darin, dass man die Welt nur in Gänze überschauen könne, wenn man aus ihr herauszutreten vermöchte. Den absoluten äußeren Blick auf unser sich ausdehnenden Universum kann niemand einnehmen, der ihm nachträglich eingeboren wurde. Das ist ein Problem des Relativismus, denn die Sicht auf die letztgültigen Bedingtheiten sind ihm (nach wissenschaftlichen Maßstäben) verwehrt. Genau das, auf was er bei konsequenter Weiterung zielt, kann er nicht sehen. Mir erscheint er daher als final fruchtlos. In Ansätze, die versuchen, Gewinn aus der Binnensicht ziehen, lege ich größere Hoffnungen.

    Zitat Zitat von Mordechaj Beitrag anzeigen
    Und da gibt es natürlich Zwischennuancen und Mischverhältnisse, die auf das anvisierte Publikum abgestimmt sein wollen. Dennoch sind beide Erfahrungen grundständig.
    Und bevor gar kein anderer mehr mitliest, eine handfeste These mit konkretem Basteleibezug: Ich glaube, ein Makerhorrorspiel ist immer stärker, wenn es nicht auf Erfahrbarmachung des Bösen abzielt, sondern auf den Exorzismus(versuch). Darum ist "Prometheus" auch schlechter als "Alien".

  15. #55
    @real Troll: Ich kenne Prometheus nicht, daher habe ich ein Problem Erfahrbarmachung zu verstehen. Meinst du damit, dem Bösen ausgesetzt zu sein, ihm als Spielball zu dienen; die bloße Erzeugung einer Stimmung; oder das Böse als solches zu erklären und ihm damit seines Mysteriums zu berauben? Horror wirkt auf mich sehr breit gefächert. Diablo gruselt mich trotz Überlegenheit meines Avatars, weil das Böse allgegenwertig ist und nicht erst im Begriff, Einzug zu halten. Resident Evil gruselt mich mit seiner parabelmäßigen Spannungskurve, cheap scares und dem Einbruch des Widernatürlichen in das Natürliche. Silent Hill gruselt mich durch Vagheit und das permanente Gefühl keine Kontrolle zu haben. Letzteres ist den meisten Alpträumen am ähnlichsten, aber dann wiederum ist nichts intensiver, als ein kleiner Schreckmoment auf dem Gipfel der Entspannung.

    @Mordechaj und ganz allgemein:
    Interessant ist auch, dass ich in Horrorspielen noch nie bewusst vom Bösen ausgegangen bin, obwohl sie, von allen Spielen, Gefahr und Urängste am gegenwärtigsten machen. Sofern das Eigenschaften sind, die man dem Bösen zuschreibt, wurden sie jedenfalls mir nicht effektiv anerzogen. Wäre es verkehrt, von mir auf andere zu schließen, oder liegt womöglich in der Annahme, das Verständnis vom Urbösen gehe auf noch ursprünglichere Wesen zurück, der Fehler? Ich kann mir irgendwie beides nicht so recht vorstellen.

  16. #56
    Zitat Zitat von real Troll Beitrag anzeigen
    In Ansätze, die versuchen, Gewinn aus der Binnensicht ziehen, lege ich größere Hoffnungen.
    Da gehe ich auch vollkommen mit, es geht mir nur darum, dass das Ur-Phänomen des Bösen quasi-archetypisch durch die Essenz des "Anderen" bestimmt ist und dass das ethische Böse sich dies a posteriori zunutze macht. Das bedeutet zweierlei; einmal dass es sich beim Bösen um ein gesellschaftlich konventioniertes handelt, das in der Binnensicht eben einfach "das" Böse ist; ein andermal dass diese absolute Zuschreibung vor allem durch den Nexus zum Urbösen Wirkung hat: Hier entfaltet der Jungsche Energiekomplex seine Wirkung beim Rezipienten, nicht etwa die (durchaus logische) Zuschreibung via Konvention. Wichtig ist das deshalb, weil das Phänomen des Bösen entweder diese unbewusste Komponente hat (das unmotivierte Böse), oder eben einen rational nachvollziehbaren Kern aufweist (es ist motiviert und domestizierbar). Die Tatsache beispielsweise, dass das simple Gut-Böse-Schema (Bösewicht ist böse, guter Wicht ist gut; guter Wicht siegt, weil er gut ist, et voilà tout) sehr auf Ablehnung stößt, begründet sich ja gerade in der Irrationalität: Der aufgeklärte Mensch forscht nach Gründen, er hinterfragt, stellt fest. Entweder verkauft man ihm das unmotiviert Böse also besonders gut mit wenigen Begründungsversuchen (Voldemort in Harry Potter; Machthunger, Machtkorrumpiertheit, Familiengeschichte) und lässt die Grenzen womöglich durch Stellvertreter verschwimmen (Snape, Malfoy), oder aber man lässt einen weiten Exkurs in die andere Sphäre zu: Schau, das Böse hat einen Ursprung und eine Genese (mir fallen da momentan nur die Naturalisten ein, Papa Hamlet beispielsweise leitet das Böse unter anderem aus sozialen und gesellschaftlichen Missständen her.

    Bei Harry Potter sieht man übrigens sehr schön die Mischform, die meiner Meinung nach auch enorm zur Funktionabilität der Reihe beigetragen hat: Quasi in Personalunion sind die Todesser (zumindest die, die keine Statisten sind) Stellvertreter der persona Voldemort, ihr Zusammentreffen in der persona des Dunklen Lords potenziert das Böse. Hier ist beispielsweise Bellatrix Lestrange Figur des Urbösen, ihr Handeln ist unmotiviert sadistisch und in hohem Maße verachtenswürdig, über ihr Dasein erfährt man nichts als ihre Greultaten -- anders beim Dunklen Lord selbst, der Produkt seiner Macht und teilweise seiner Vorgeschichte ist. Konsequenterweise ist der Tod von Bellatrix auch eine dieser befreienden Stellen im Buch, man hätte die Alte am liebsten ja selbst durch die Seiten des Buchs hindurch erniedrigt und erdolcht. Bei Voldemorts Tod ist das ein wenig anders, hier steht dann die Erlösung im Gesamten im Vordergrund -- er selbst hat uns ja auch keiner Hauptperson beraubt. Mit ihm stirbt das metastasierende Böse ab, dessen Symptom beispielsweise Bellatrix darstellte der Organismus der ordo in der HP-Welt wird geheilt (wie beispielsweise auch Draco Malfoy "geheilt" wird).
    (Das ist alles furchtbar subjektiv.)

    Das Böse hat meiner Meinung nach immer diese zwei Seiten, das was es im Kern ist (das Urböse), und das was es ausmacht (die Zuschreibung). Erstere würde ich als tiefenpsychologisch bestimmbar verorten, zweitere als ethisch, soziologisch bestimmbar: Nichts bringt die Herzen von demokratisch-bürgerlich geprägten Menschen mehr zu Schlagen, als wenn Gefahr und Unheil der auf einen oder wenige vereinten Macht offengelegt wird. Wir müssen da aber natürlich die Binnensicht wahren, allein schon, weil die Draufsicht unser Publikum womöglich eher abstößt und langweilt -- Papa Hamlet ist stellvertretend für die meiste deutsche naturalistische Literatur äußerst ermüdend, da analytisch und eindringlich; von prodesse et delectare (Es soll nützen und unterhalten.) hat man da nix gehört. Ich halte es aber für äußerst wichtig und spannend, die Mechanismen offen zu legen, um ihre Wirkung nachzuvollziehen und daraus zu schöpfen. Und da sticht meiner bescheidenen Meinung nach eben die Trennung der Zuschreibung vom Energiekomplex sehr hervor.
    (Ich möchte Jung hier übrigens keine höhere Wahrheit unterstellen, ich finde gerade sein Geisteskonzept äußerst esoterisch. Sein Vokabular eignet sich an dieser Stelle aber ganz gut, um die Unterschiede zu verdeutlichen.)

    Meiner äußerst bescheidenen Einschätzung nach sind wir im Übrigen bereits dann in der Binnensicht, wenn wir über das Böse reden. Es handelt sich dabei um ein Konzept, das (meiner persönlichen Wahrnehmung nach) keine kulturübergreifende Wirkung hat (das "Urböse" im kollektiven Bewusstsein hingegen schon). Im Gilgamesch-Epos beispielsweise kann ich kein Anzeichen des Bösen entdecken; selbst der fürchterliche Chumbaba, den die Helden töten wollen, kann nur sehr, sehr schlecht hineingeborgt überhaupt irgendwie mit zugekniffenen Augen in das Böse-Konzept gesteckt werden.

    Zitat Zitat von Owly Beitrag anzeigen
    @real Troll: Ich kenne Prometheus nicht, daher habe ich ein Problem Erfahrbarmachung zu verstehen. Meinst du damit, dem Bösen ausgesetzt zu sein, ihm als Spielball zu dienen; die bloße Erzeugung einer Stimmung; oder das Böse als solches zu erklären und ihm damit seines Mysteriums zu berauben?
    Ich meine (einfach mal frech auf eine fremde Frage antwortend), der Troll geht hier von der Offenlegung und Perspektivierung des Bösen aus; man erfährt also als Rezipient, was den Bösewicht ausmacht, was seine Motive sind, worin sein böses Handeln wurzelt. Vergleich Kelvenspiele: In Sonnenschauer wird der böse Herrscher halt einfach böse; ganz unmotiviert und eigentlich auch ohne jede andere Konsequenz, als dass er zum Gegner avanciert. In ZauPri hingegen haben wir es mit einem Bösewicht zu tun, der die (einem jeden Menschen bestens bekannte und damit Ur-)Erfahrung des Verlustes gemacht hat, und deshalb die Ordnung gefährdet. Das Böse in ZauPri (ich bin mir sehr sicher, dass Kelven es mir übel nehmen könnte, dass ich den Begriff des Bösen auf seine Geschichten herunterbreche, spielt er doch gerade dieses Konzept geschickt aus) ist damit motiviert und nachvollziehbar, "erfahrbar". Oder eben das (teilweise) erfahrbar gemachte Böse in Harry Potter; Tom Riddle hatte einen fiesen Muggelvater, eine schwere Kindheit, wurde durch seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten und den falschen Einfluss korrumpiert und immer machthungriger und schließlich -- gänzlich charakterlich verwüstet -- zu Lord Voldemort.

    Zitat Zitat
    Horror wirkt auf mich sehr breit gefächert. Diablo gruselt mich trotz Überlegenheit meines Avatars, weil das Böse allgegenwertig ist und nicht erst im Begriff, Einzug zu halten. Resident Evil gruselt mich mit seiner parabelmäßigen Spannungskurve, cheap scares und dem Einbruch des Widernatürlichen in das Natürliche. Silent Hill gruselt mich durch Vagheit und das permanente Gefühl keine Kontrolle zu haben. Letzteres ist den meisten Alpträumen am ähnlichsten, aber dann wiederum ist nichts intensiver, als ein kleiner Schreckmoment auf dem Gipfel der Entspannung.
    Das nur am Rande noch: Hier finde ich sehr schön an Beispielen das "Gefühl" des Urbösen verdeutlicht. Einer der Gründe, warum Tension, also dramaturgische Spannung, in Unterkategorien unterteilt wird (ich gehe hier jetzt einfach mal mit Surprise, Suspense, Mystery mit, viele Quellen setzen hier sehr berechtigterweise andere Schwerpunkte), ist diese Zerteilung des Urbösen in Urerfahrungen. Der instinktive Schreck (Surprise!) auf eine Bedrohungssituation ist eine intensive und sehr nahegehende Urerfahrung, sie entlädt schnell und sehr potent "Energie" (im eher Jungschen Sinne). Suspense hingegen ist die ständige Bedrohung durch einen imminenten Schrecken; das Gefühl von Hilf-, Macht- und Schutzlosigkeit gegen eine nicht wahrnehmbare, aber numinös erfahrbare Gefahr ist ähnlich potent wie der eigentliche Schreck und versetzt uns in einen Zustand der Urangst zurück.

    Zitat Zitat
    Interessant ist auch, dass ich in Horrorspielen noch nie bewusst vom Bösen ausgegangen bin, obwohl sie, von allen Spielen, Gefahr und Urängste am gegenwärtigsten machen. Sofern das Eigenschaften sind, die man dem Bösen zuschreibt, wurden sie jedenfalls mir nicht effektiv anerzogen. Wäre es verkehrt, von mir auf andere zu schließen, oder liegt womöglich in der Annahme, das Verständnis vom Urbösen gehe auf noch ursprünglichere Wesen zurück, der Fehler? Ich kann mir irgendwie beides nicht so recht vorstellen.
    Die Frage ist hier für mich, was du mit "ursprünglichere Wesen" meinst. Man könnte hier beispielsweise schon sehr berechtigt (berechtigt, weil schon an anderen Stellen geschehen) argumentieren, dass die uns durch die natürliche Auslese verliehenen Instinktängste, also unbewusste und ihre ursprüngliche Funktion größtenteils abgelegte Gefühle, in diesen Horror-Erzählwelten kulminieren. Oder, wieder mit Jung gesprochen, es handelt sich eben um im kollektiven Bewusstsein wahrhaftige Urerfahrungen, denen wir ausgesetzt werden.

    Genau hier würde ich vom Urbösen ausgehen, das keinen Namen trägt (außer eben, man nennt das "Urböses"). Bedrohung und Andersartigkeit machen diese Erfahrungen unberechenbar und potenzieren damit noch die Bedrohlichkeit und die Angstreflexe. Deshalb führt das Erlebnis, das du in solchen Horrorszenarien hast, auch nicht zum "Merke: Das ist grundlegend Böses" -- es ist das bloße Erlebnis dieses Urbösen.

    Um das aber nochmal zu verdeutlichen (denn ich glaube, ich habe das nicht wirklich so verständlich machen können): Ich verwende die Bezeichnung "Urböses" hier genau für dieses Konzept "Bedrohung und Andersartigkeit". Dieses Konzept hat a priori nicht unbedingt etwas mit dem "Bösen" zu tun, das wir kennen und das uns vor allem ethisch bzw. moralisch eingeprägt ist; es ist meines Wissens auch nicht im Wortfeld "böse" im kollektiven Wortschatz abgespeichert. Erst wenn man sich die Überformtheit (sei sie nun kulturell oder auf Medien beschränkt) klar macht, kommt der Nexus zustande: Das Böse ist meist abscheulich Unansehnlich oder sonst irgendwie widerwertig oder eben gar geistesgestört. Oder es fehlen ihm essentielle Werteschranken, wie etwa dem miesen Typen, der aus Kalkül und in vollem Bewusstsein der Fremdkonsequenzen Böses tut. (Das hat irgendwer auch mal als das "Dilemma" des Bösen bezeichnet, glaube ich. Dieses kalkulierte Böse trägt, trotz seines besonders hohen Grades an Rationalität, immer noch die Züge von Gestörtheit, alias Psycho-/Soziopathie.)

    (So, jetzt sind meine "Ur-"s aufgebraucht.)

    Geändert von Mordechaj (04.09.2012 um 21:56 Uhr)

  17. #57
    Ich empfinde es als den größeren Spagat Menschen in ihrer vollen Charakterspanne zu beschreiben- mit guten wie schlechten Seiten. Klares Schwarzweiß Design ist nicht meins, in meinen Augen mittlerweile auch überholt.
    Jeder weiß, das es nicht so einfach ist, und in jedem Monster steckt(e) mal ein Mensch. Für mich stellt es die höhere Kunst da, dies auch so darstellen zu können. Es gibt da kein größeres Drama in einer Geschichte für mich, als wenn man Protagonist und Antagonist gleichermaßen schätzt, weil man in ihrer Menschlichkeit ihre Beweggründe verstehen lernt.

  18. #58
    Zitat Zitat von Jehu Beitrag anzeigen
    Ich empfinde es als den größeren Spagat Menschen in ihrer vollen Charakterspanne zu beschreiben- mit guten wie schlechten Seiten. Klares Schwarzweiß Design ist nicht meins, in meinen Augen mittlerweile auch überholt.
    Jeder weiß, das es nicht so einfach ist, und in jedem Monster steckt(e) mal ein Mensch. Für mich stellt es die höhere Kunst da, dies auch so darstellen zu können. Es gibt da kein größeres Drama in einer Geschichte für mich, als wenn man Protagonist und Antagonist gleichermaßen schätzt, weil man in ihrer Menschlichkeit ihre Beweggründe verstehen lernt.
    In gewissem Sinne gebe ich dir da durchaus recht. Aber man darf nicht vergessen, dass wir hier nicht einfach nur Geschichten erzählen, sondern Spiele machen. Und für die meisten Spieler ist es, so meine ich einmal, befriedigender wenn sie am Schluss das Gefühl haben "Hurrah! Ich habe es geschafft!" und nicht "Hm ... Jetzt habe ich diese Arme Sau niedergeknüppelt die eigentlich gar nichts dafür kann, dass sie ist wie sie ist. Irgendwie fühl ich mich mies...".
    Letzteres passiert immer eher dann wenn man zu sehr versucht das Verhalten seiner Gegenspieler zu entschuldigen.

  19. #59
    @ Mordechaj
    Ich greife mir noch einmal den Exorzismus aus deinem Gedankengang, denn ich glaube, er versenkt sich sehr tief in die Vorstellung vom Bösen als leibgewordener Gegner. Sei das nun der dunkle Herrscher (töten) oder eine schlechte Idee in den Köpfen (Massenbekehrung). Letzteres ist wohl nur umständlich im Spiel darzustellen, ersteres ist - wie zahllose Vorbilder zeigen - wirkungsvoll erprobt.
    Was ist mit Endzeitszenarien? Hier ist das Böse ein amorpher Umstand, der nicht mit dem Knüppel zu erschlagen ist. Dem Problem des ziemlich totalen zivilisatorischen Zusammenbruchs mit allen hässlichen, pulpigen oder hemdsärmelig-fröhlichen Folgen ließe sich zwar gedanklich begegnen, die Erfahrbarmachung hülfe, besser zurecht zu kommen. Aber der Bruch ist irreparabel. Aneignung führt nicht zur Wiederherstellung guter Ordnung, und der Lernende kann sich nicht über einen bösen Meister erheben. Die beiden Siegmittel Auslöschung und Reifung wären in so einem Szenario wohl nur dann geeignete Instrumente, wenn man das Ganze als (Wieder)Aufbaustrategiespiel aufzöge. In einem Abenteuerspiel mit seinem enger gefassten, weil nur auf persönliches Eingreifen beschränkten Wirkungskreis bliebe allerdings ein Drittes, um dem Bösen zu begegnen: fortwährende Behauptung. Das aktuelle "DayZ" stellt so eine Möglichkeit dar. Nur weiß ich nicht, wie befriedigend ein Spielzuschnitt auf Rollenspieler wirkt, der ständig prüft, ob man bestehen kann, ohne eine finale Erlösung anzubieten.

    @ Owly
    Es was so gemeint, wie Mordechaj sagt.
    Vielleicht denke ich zu heroisch, aber beim Bösen im Spiel denke ich gar nicht so sehr an Angst und lauernde Schrecken. Für mich ist das Böse das, was den guten Sinn in den Heldenkampf legt. Eine Art spielmechanische Theodizee, die prinzipiell auch ohne Höllenwesen auskäme.

  20. #60
    @real Troll:
    Das ist eigentlich ein ganz interessanter Gedanke und die ausgehende Frage nach der Wirkungsfähigkeit entscheidet womöglich über Aufstieg und Fall des Konzepts. Dabei denke ich, dass es hier sogar zwei Faktoren gibt, einer davon hat mit der forwährenden Behauptung gegen das Böse, wie du sie erwähnst, zu tun, ein anderer von einer Reperatur der zerstörten Ordnung.

    In ersterem Fall ist denke ich die (und hier werde ich kurz ein bisschen pseudowissenschaftlich) Dopaminwirkung sehr entscheidend; ein Konzept, das keinen Endzustand erreicht, muss zumindest voranbringen und Wettkampf erzeugen. So funktionieren ja beispielsweise auch die Welten in MMORPGs, die niemals abgeschlossen sind, sondern im Idealfall und natürlich zum Erhalt der zahlenden Spielerbasis immer neue Möglichkeiten bieten, besser zu sein als andere, im allgemeinen Fall aber vor allem auch der virtuellen Umwelt Herr zu werden. Auch solche Konzepte kommen nicht ohne das herkömmliche Gegnerschema aus, wobei natürlich neure Entwicklungen wie DayZ da eine große Ausnahme darstellen.

    Hier würde ich dann konventionell vor allem die zweite Variante sehen, sozusagen der "Reset-Knopf". Utopistische Denksysteme finden in solchen Szenarien ihre Kulmination: Nicht auszumalen, welche Welten man sich schaffen könnte, wenn die etablierte Zivilisiertheit aufhören würde zu existieren. Jede realisierte Utopie (der Mensch neigt zu Utopien, vor allem zu rückwärtsgewandten und solchen, die ihn aus der unnatürlichen Verfassung der Kultiviertheit führen) folgt auf Auslöschung des Status Quo, viele Utopien sind darauf ausgerichtet, einen ehemaligen Status Quo zu retablieren -- oft ist das der naturbelasse Urzustand (Urchristentum, Urkommunismus, der Mensch im Einklang mit der Natur, Ökologiebewusstsein). DayZ begreife ich noch immer als ein soziales Experiment, das wunderbar dazu dient, den NatUr-Zustand einigermaßen nachzuempfinden. Da stecken Freiheitszustände drin, die man sich gar nicht ausmalen mag, denn jegliche Handlungskonsequenz ist entweder nichtig oder unabsehbar -- gegenüber reellen und absehbaren Handlungskonsequenzen in der zivilisierten Welt.

    Ich denke, der Reiz an diesen irreparabel gebrochenen Ordnungen ist gerade der unwiderrufliche Ausbruch aus jeder Form des geordneten Dahinlebens. Und das Böse wird dahin zurückgelegt, wo es eigentlich herkommt: In die Natur oder zumindest in dieses unsichere Immerda, diese urtümliche Bedrohung, der man nicht entrinnen kann. Genau das ist ja die Urerfahrung des Bösen. Sie ist nicht abgebunden oder moralisch, sie ist auch keinem fiesen Bösewicht auf den Rücken geschnürt, es ist die reine und unverfälschte Form des dunklen Ahnens (Suspense) und sich Erschreckens (Surprise). Die fortwährende Behauptung wird dort zur absoluten Dopamin-Maschine, wo das "natürlich vorgesehene" (wieder: das ist pseudowissenschaftlich) der Belohnungsmechanismen auf einmal wieder intakt ist. Im Gegensatz zum geordneten und damit in der Regel absolut sicheren Dasein in der kultivierten Gesellschaft, in der der größte Quälgeist Disstress ist, dem kaum beizukommen ist, versetzt die unwiderruflich gebrochene Ordnung in einen Zustand der rudimentären Gesellschaft oder gar in die freie Einsamkeit des NatUr-Zustandes zurück. Dort, wo das Urböse noch aktiv ist und nicht von kulturellen Überzeichnungen zu einer ethischen Kategorie verfälscht worden ist. Das Fehlen des ultimativen Triumphierens wird dadurch auch eher zum geringfügigen Störfaktor: Triumph ist schließlich auch nur der schlechte Ersatz für den entfesselten Energiekomplex des Urbösen, der in seiner ethisch-kategorischen Verfasstheit nur noch wenige Züge des Urabenteuers trägt. In einer Spielwelt, in der Ethik und Moral keinerlei Rolle mehr spielen können, ist man dem desirablen Zustand so greifbar nah, dass die Ersatzwirkung der Vernichtung des kulturell überformten Bösen quasi nicht mehr nötig ist.

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