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Neuling
Geistermeer, Herz des Gerechten
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»Herrin…?«, sprachen die beiden Männer im Chor, doch Amelia hob eine Hand und wippte mit dem Finger.
»Alles gut«, erwiderte sie und hielt sich nur mühsam auf den Füßen. Die Krämpfe in Bauch und Rachen erschwerten es ihr, die richtige Balance zu finden, geschweige denn sich aufzurichten. »Alles…« Weiter kam sie nicht, bevor sie sich ein weiteres Mal erbrach.
»Lasst mich Euch einen Eimer bringen«, bat Kolja, als er ihr nach Abklingen der Krämpfe hoch half. Schmallippig nickend, hielt sich die Bretonin am Geländer fest und versuchte möglichst viel Speichel zu sammeln, um den abartigen, sauren Geschmack im Mund fortzuwaschen. Der arme Gerüstete, der von ihr so ungewollt zum Laufburschen degradiert wurde, wandte sich ab und verschwand abermals. »‘s is‘ g’wiss kein Wetter für Euch«, meinte Domek hinter ihr und sie glaubte so etwas wie Mitleid in der altersrauen Stimme auszumachen. Doch selbst wenn er ihr hätte helfen wollen, das Ruder bedurfte seiner vollen Aufmerksamkeit. Sie blieb also allein in ihrem Leiden und das sollte ihr nur Recht sein.
Weit vorgebeugt hielt Amelia den Kopf beinahe zwischen den durchgestreckten Armen und starrte auf die feucht glänzenden, dunklen Planken unter ihren Füßen. Sie wusste nicht, wie lange sie so ausharrte, es spielte wohl auch keine Rolle, doch irgendwann hielt ihr jemand einen einfachen Holzeimer ins Sichtfeld. Der grobe Lederhandschuh sprach dafür, dass es der Hauptmann der Wachen sein musste. Wortlos löste die Adelige eine Hand vom Geländer und umschloss den Kübel mit dem Arm. Erst danach richtete sie sich auf, das Gefäß gegen die Brust gepresst. »Ich habe eine Hängematte unten für Euch freimachen lassen. Das sollte das Schaukeln etwas mindern«, erklärte der Gerüstete und wischte sich einige dicke Wassertropfen aus dem geröteten Gesicht. Ob es Schweiß und Anstrengung oder doch geschmolzene Flocken und die Kälte waren, die ihn zeichneten, mochte sie nicht sagen können. Nur kurz blickte sie zu ihm auf, dann senkte Amelia die Augen zurück auf den Bottich, der gerade einmal eine Handbreit unter ihrem Kinn saß.
Mit der nächsten Welle wandte sie sich von ihm ab und spuckte in den Eimer. Was für eine Schmach. Wenn sie in ihrer derzeitigen Erscheinung unter Deck zurückkehren würde, so war sie überzeugt, böte das für die nächste Zeit wieder genug Stoff für die Mannschaft, um Heiterkeit in langweiligen Momenten zu erzeugen. Dass sie gewiss nicht als einzige an Bord Schwierigkeiten mit dem Seegang hatte, spielte dabei auch keine Rolle. Adelige genossen immer ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit, wenn es um derlei Geschehnisse ging. Verübeln würde sie es keinem, aber genießen musste sie es deswegen noch lange nicht.
Letztlich widerstandslos ließ die Bretonin Kolja gewähren, als er sie mit sanftem Druck am Arm zum Gehen bewegte. »Wir sin‘ bald da, keine Sorge«, rief ihnen Domek nach, dann stiegen sie auch schon die Stufen zum Hauptdeck hinab und waren außer Hörreichweite des Kapitäns. »Lass nicht zu, dass sie sich wieder die Münder zerreißen«, murmelte Amelia und hielt an der Tür, die unterhalb des Kapitänsstands ins Innere des Kahns führte, inne. Eine Hand gegen das glitschige Holz gestemmt, beugte sie sich mit hängenden Schultern nochmals über den Eimer und stellte ihn schließlich ab, als sie sich einigermaßen sicher fühlte, dass kein neuerlicher Würgreflex die Kontrolle über sie übernahm.
»Das werden sie gewiss nicht, Herrin. Dazu gibt es keinen Grund«, beschwichtigte der Soldat und öffnete den Durchgang für sie, ließ sie passieren und schloss ihn anschließend. Warmer Laternenschein flutete den dahinterliegenden Flur, das Quietschen der im Wellengang schwingenden Lichtquellen erfüllte die klamme Luft. Abgesehen von der Kapitänskajüte und einem Besprechungsraum fand sich hier oben allerdings nichts. So führte ihr Weg eine schmale, knarrende Stiege hinab, aber selbst die schweren Schritte Koljas gingen im ewigen Ächzen der Spanten und Balken unter, während sich der Rumpf zumindest gefühlt noch deutlich stärker hob und senkte, als er es zuvor an der frischen Luft getan hatte.
Der erbarmungslose Schwindel, der die Adelige in diesen beengten Verhältnissen immer befiel, ließ auch nicht lange auf sich warten. Eine Hand immer am Arm des Gerüsteten, die andere an einer Wand oder Stützbalken, arbeiteten sie sich langsam durch den Bauch des Kahns. Gelächter und laute Stimmen drangen von vorn zu ihnen durch, doch für sie klangen sie nur wie weitentfernte Echos aus dichtem Nebel. Zu sehr musste sie sich darauf konzentrieren nicht einzuknicken.
»Wir haben es gleich geschafft«, versuchte ihr der Soldat Mut zu machen, mehr als ein gequältes Zucken der Mundwinkel erhielt er jedoch nicht zur Antwort. Gleich darauf traten sie aus dem Korridor zwischen Küche und dem Lagerraum für Lebensmittel. Auf der vollen Breite des Rumpfes spannte sich vor ihnen der Gemeinschafts- und Schlafraum auf. Die zahllosen senkrechten Balken und Hängematten, die zwischen ihnen baumelten, warfen im flackernden Schein der Laternen wirre Schatten, verbargen einen Teil der ausgelassen miteinander in Gespräche vertieften Mannschaft und boten ihr wenigstens ein gewisses Maß an Sichtschutz. Nur einige Soldaten, die sich selbst in ihren Lagern niedergelassen hatten, bedachten sie mit kurzen, meist eher ausdruckslosen Mienen. Andererseits erkannte Amelia sie auch nicht allzu deutlich und ließ sich von Kolja irgendwo an den Rand und in eine dunklere Ecke bugsieren.
»Ohje, Herrin, seid Ihr wohlauf?« Es war Jela, ihre Zofe, die aus dem Nichts auf die Beiden zugestürzt kam.
»Die See«, erklärte der Hauptmann an ihrer Statt und blieb vor zwei leeren Hängebetten stehen, die in zwei Etagen zwischen Balken schwangen. »Hier, für Euch.«
»Ich glaube, der Herr Val Nurinia wünschte nochmals mit Euch zu sprechen, Hauptmann«, wandte sich Jela an den Gerüsteten, der sich daraufhin nickend abwandte. Eigentlich wollte ihm die Bretonin noch ihren Dank bekunden, doch jedes Öffnen des Mundes hätte ihre Selbstbeherrschung durchbrochen und den unterdrückten Brechreiz befreit. Ihre gut genährte Bedienstete, die bald ihre vierzig Sommer zählen mochte, half Amelia noch während sich ihre Gedanken träge von Kolja lösten dabei, den schweren Umgang abzulegen und befreite sie anschließend noch vom rubinroten Seidentuch um ihren Hals. Erst danach stützte die Gehilfin die Adelige und stabilisierte sie, als sie drohte das Gleichgewicht zu verlieren und noch bevor sie lag aus der Hängematte zu fallen.
Auf der Seite liegend schloss sie die Augen. Als hätte sie deutlich zu viel getrunken, spielte ihr Gleichgewichtssinn Streiche – deutlich zu viel getrunken und als hätte sie anschließend noch einige schnelle Runden auf dem Fleck gedreht. Es half nichts, sie musste die Augen öffnen, wollte sie einigermaßen die Kontrolle über das Karussell in hinter ihrer Stirn behalten. Die in Falten liegenden Züge ihrer Zofe tauchten im verschwommenen Sichtfeld auf, als diese sich vor sie kniete. »Braucht Ihr noch etwas, Herrin?«, wollte sie wissen, erhielt aber nur zu einem Strich zusammengepresste Lippen als Antwort. »Wasser? Ein Eimer?« Unfähig eine Antwort zu geben, nickte Amelia einfach. »Kommt sofort«, erwiderte Jela und erhob sich. »Aber zunächst, machen wir es Euch noch bequem«, setzte sie nach und legte etwas Schweres über sie. Als weiches Fell ihre unbedeckte, von der Kälte noch immer überempfindliche Wange streifte, erkennte sie ihren Umhang. Groß genug, um bei leicht angezogenen Beinen als Decke fungieren zu können, wärmte er sie nahezu augenblicklich. Kurz darauf schob die Dienerin noch ein Stoffbündel unter Amelias Haupt. Dem dezenten Duft nach Minze und dunklen Rotschimmer am Rand ihres Sichtfeldes nach zu urteilen handelte es sich um ihren Seidenschal.
»Ich bin gleich zurück«, verkündete Jela schließlich und verschwand mit eiligen Schritten. Allein zu sein empfand Amelia in diesem Moment trotz der Fürsorglichkeit als Segen und seufzte leise, schloss gleich darauf aber erneut den Mund, als es ihr sauer aufstieg. Kurzerhand drehte sie sich auf die andere Seite und starrte gegen die graubraune Bretterwand der abgegrenzten Küche. Wenn sie schon hier in der Nachtstatt eines anderen ruhte, von allen einsehbar und ungeschützt, dann sollten sie wenigstens nicht in ihr von Übelkeit verzogenes Gesicht sehen können. Dieses letzte Bisschen Würde wollte sie sich dann doch noch bewahren. Die Kapuze ihres Umhangs halb über den Kopf gezogen, vergrub sie sich noch etwas tiefer in der rauen Wolle der Hängematte und zog die Beine weiter an, bis gerade so noch die in Stiefeln steckenden Füße hervorschauten. Immerhin das Schaukeln ließ etwas nach, obgleich sie das Schwingen der Matte noch immer deutlich spürte und beim Knirschen der Stricke fürchtete, sie könnten reißen.
Eine Weile lauschte Amelia auf das Knarzen des Schiffrumpfes, ließ sich von dem fast rhythmischen Stöhnen des Holzes beruhigen. Überrascht musste sie feststellen, dass es sogar ausgesprochen gut funktionierte. Irgendwann verblassten die Geräusche, verschwanden in den Hintergrund und schwiegen letztlich sogar gänzlich. Auch die Gespräche und von ausgelassener Stimmung zeugenden Geräusche aus den anderen Teilen des großen Raumes verschwanden bis es totenstill wurde. Der Schwindel in Kopfschmerz umgeschlagen, schreckte das Gefühl, aus irgendeinem Grund plötzlich allein im Bauch der Herz des Gerechten zu sein, die Adelige aus ihrer Ruhe. Mit rasendem Herzen und unangenehmen Ziehen im Bauch drehte sie sich auf die andere Seite und sah sich um.
Niemand. Sie wollte rufen, doch blieben ihr die Worte im Hals stecken. Nicht ihr Onkel, nicht ihre Zofe, weder Kolja, noch sonst jemand war in Sicht. Die zuvor noch belegten, nahen Hängematten fand sie nun verlassen vor, still zwischen den Balken hängend, als hätte schon lange niemand mehr in ihnen gelegen. Eisige Nervosität, ein schmerzhaftes Summen in den Eingeweiden, breitete sich in ihr aus, zwang sie aber gleichzeitig dazu, aufzustehen und sich weiter umzusehen. Die zahlreichen Laternen leuchteten ihr den Weg, führten sie zu den langen Tischen, an denen sie für gewöhnlich für die spärlichen Mahlzeiten gemeinsam saßen, und glühten doch merkwürdig kalt, als handele es sich nur um verlorene Irrlichter in morgendlichem Ufernebel.
Kein Ton entwand sich ihrer Kehle, nur das eigene Blut rauschte in ihren Ohren und ihr rasselnder Atem durchbrach die seidene Stille. Ob sie sich an Deck aufhielten? Amelia wusste es nicht, würde es aber herausfinden und lief eilig zum hinteren Ende des Schiffs. Das Pochen in den Schläfen verstärkte es nur, doch das versuchte sie so gut es ging zu ignorieren. Hastig nahm sie zwei Stufen auf einmal, erklomm die schmale Stiege, die es nicht einmal schaffte zu knarren, so schnell fegte sie hinauf. In plötzlicher Zuversicht und leichter Vorfreude schritt sie auf die Tür zum Oberdeck zu und stieß sie auf. Augenblickliche Schwere begann sie zu erfassen und sie zu erdrücken, als ihre Erwartungen und Hoffnung enttäuscht wurden. Niemand hielt sich hier auf, noch immer war sie allein, und noch dazu hielt eine merkwürdig diffuse Dunkelheit Masten, Segel und Takelage gefangen. Tanzende Lichtschimmer glitten wie gierige Finger über sie hinweg, tasteten sie ab und überließen sie letztlich doch der Finsternis.
Ein Blick nach oben versetzte die Bretonin dann in blankes Entsetzen, dass ihr der Mund offen stehen blieb und das Herz einen Moment aussetzte. Das Tageslicht zerstreute sich schimmernd und funkelnd über ihr, als befände sie sich unter Wasser. Noch während ihr dieser Gedanke kam, blieb ihr die Luft weg und erhöhte sich der Druck auf ihre Lungen ins Unermessliche. Waren sie gesunken und sah so ihr Jenseits aus? Nein, das konnte nicht sein! In Wut blubbernd Luft ausstoßend drückte sich Amelia vom hölzernen Grund ab und begann wild paddelnd zur Oberfläche zu tauchen, das Herz in der Brust zerspringend. Doch wirklich weit sollte sie nicht kommen. Hart stieß sie etwas von der Seite an, ließ sie herumfahren und im stummen Schrei den Mund aufreißen. Sie starrte in das weit aufgerissene Maul eines Hais, das gerade zuschnappte, als der Meeresräuber mit seinem Unterkiefer gegen ihre Schulter stieß. Gefroren im Schock kniff sie die Augen zusammen.
Mit dem nächsten Lidaufschlag blickte sie von unten auf die graubraune Wolle der Hängematte über ihr. Wieder berührte sie etwas an der Schulter und noch immer in heller Aufregung und Panik vom Haiangriff zuckte die Adelige zurück. »Seid Ihr wohlauf, Herrin?«, vernahm sie die weiche, sorgenvolle Stimme ihrer Zofe, die sich erst allmählich aus der verschwommenen Umgebung pellte.
»J-ja«, stammelte Amelia und rieb sich den kratzenden Schlafsand aus den Augenwinkeln. »Nur ein Traum«, erklärte sie und verdrängte die plötzlich absurd erscheinenden Bilder möglichst schnell aus ihrer Erinnerung, machte Platz für helle Erleichterung.
»Jetzt ist er vorbei«, lächelte die Dienerin sie an. »Doch verzeiht, dass ich Euch wecke.« Jela nahm ihre Hand von Amelias Schulter.
»Was gibt es denn?« Müde und doch glücklich seufzend richtete sie sich in der Hängematte auf und ließ die Füße seitlich heraushängen, zog sie jedoch zurück, als sie auf irgendetwas großes und robustes trafen. Animalisches Schnaufen quittierte ihr Ungeschick und gleich darauf tauchte der massige Kopf eines großen, wolfsähnlichen Hundes auf. Weißgraues, weiches Fell zierte das Haupt um die gelbbraunen Augen und die schwarze Nase. Rasvan. Glücklich dreinblickend ließ er die Zunge zwischen den spitzen Eckzähnen aus dem Maul hängen und hechelte ihr entgegen.
»Wir sind gleich da«, erklärte unterdessen die Zofe als ihre Herrin sich vorbeugte, ihrem treuen Haustier, einer Kreuzung aus Eiswolf und Schäferhund, durch das Fell strich und ihm einen dicken Kuss zwischen die Augen setzte. Erst in diesem Moment, als sie die Füße fest auf den Boden des Decks setzte, bemerkte Amelia, dass sich der Kahn nicht mehr von Wellen gebeutelt hob und senkte. Erleichtert schlang sie die Arme um den großen Halbwolf, der zwar die Statur und großteilig das Äußere seiner wilden Mutter besaß, aber das treue Gemüt seines Vaters geerbt hatte.
»Sehe ich schrecklich aus, Jela?«, wollte sie letztlich wissen, ohne die Augen zu öffnen oder ihr Haupt von Rasvan zu lösen. Die Benommenheit und der Schwindel, die mit der Seekrankheit einhergingen, hielten noch immer an ihr fest, wehrten sich dagegen, abgeworfen zu werden.
»Nicht, wenn ich mit Euch fertig bin«, erwiderte die Dienerin und zauberte der Adeligen das erste echte Lächeln seit einer gefühlten Ewigkeit auf die Lippen.
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Geändert von Bahaar(iger_ZA) (11.04.2015 um 09:43 Uhr)
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