Ich zitiere den Wikipedia-Artikel über Mary Sues:
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Es handelt sich um eine meist weibliche und oft sehr junge Hauptperson (männliche Mary Sues werden Marty Stu, Murray Stu, Gary Sue, Gary Stu oder - selten - Barry Lue genannt), die mit höchst idealisierten Zügen und Charaktereigenschaften ausgestattet ist. Sie vertritt moderne Positionen und zieht in der Handlung das Interesse aller Nebenfiguren auf sich. Selbstverständlich ist, dass sie alle auftauchenden Probleme bravourös löst.
Weiterhin ist dort zu lesen:
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Oft wird unterstellt, dass sie eine idealisierte Selbstdarstellung des Autors ist und hauptsächlich dessen eigene Phantasien bedient.

Ich denke letzteres ist schwer nachzuvollziehen, wenn man den Autor nicht kennt. In einschlägigen Online-Tests wird der Mary Sue-Grad eines Charakters an den Idealvorstellungen und Äußerlichkeiten seines Urhebers gemessen. So würde z.B. Lio in Biohazards Alone Richtung Mary Sue tendieren, weil er und Bio die gleiche Tätowierung tragen. Tragisch finde ich das jedoch nicht. Für alle, die ihn persönlich kennen, ist das ein nettes Gimmick. Der Rest wird es entweder nicht wissen oder ignorieren können.

Auch die Übertragung des persönlichen Ideals auf die Hauptfigur finde ich nicht zwangsläufig kritikwürdig. Viele Figuren, die ich ausgesprochen gut und unterhaltsam finde, sind absolut idealisierte Menschen. Besonders die Kinderserien, mit denen ich aufgewachsen bin, sind voll davon: Anne Shirley (Anne mit den roten Haaren), Perrine, Niklaas(, ein Junge aus Flandern), Sara Crewe (Sara, die kleine Prinzessin). All diese Charaktere sind in ihrer Gutmenschlichkeit jesusgleich und tragen ihre Erzählung alleine auf ihren Schultern. Mehr als ihre Charakterdynamik braucht es nicht, um zu unterhalten. Auch als Erwachsener empfinde ich so.

Spiele sind voll von idealisierten Figuren: Der beinharte Actionheld, das anthropomorphe Tierchen, der heldenhafte Weltenretter. Für RPGs sind in erster Linie letztere interessant.
Ein wunderbares Exemplar dieser Gattung ist Alex aus Lunar: The Silver Star. Game Arts hat quasi ein Patent auf diese Art Helden. Alex funktioniert so wunderbar, weil er nicht deplatziert wirkt. Alles in dem Spiel ist bunt, stilisiert und theatralisch. Kurz: Die perfekte Bühne für einen perfekten Recken. Wenn Alex eine gute Tat vollbringt, hat man das Gefühl, das gehört zum natürlichen Kreislauf der Spielwelt.
Ein negatives Beispiel ist der namenlose Held aus Suikoden Tierkreis. Das Spiel ist ein weichgespülter Mix aus den geerdeten Stories der Vorgänger und animehaftem Overkill voller Süßlichkeit, Drama und Fokussierung auf einen Charakter. Sein ständiges: "You don't know if you don't try", beißt sich mit dem Kriegsalltag und der politischen Komponente, die das Spiel zu vermitteln versucht. Der jungenhafte Eifer kollidiert mit der sonstigen Erzählrealität.

Als These möchte ich daraus ziehen:
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Die Spielwelt und der Erzählstil diktieren, welche Charaktere funktionieren und welche Entwicklung für sie realistisch ist.
Und umgekehrt:
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Die Charaktere und ihre Entwicklung diktieren, wie die Spielwelt und der Erzählstil angelegt werden müssen.
In West-RPG spielen Mary Sues denke ich eine ganz andere Rolle: Man erschafft sich meistens einen idealisierten Charakter, weil es keinen Unterschied macht. Er existiert sowieso nur im Kopf des Spielers und als visuelle Repräsentation. Lieber laufe ich rum wie Atlas, statt Average Joe.


1. Habt ihr schonmal eine Mary Sue in einem eurer Spiele gehabt?
2. Was haltet ihr von idealisierten Charakteren bzw. was glaubt ihr, wie müssen Spielwelt und Erzählung angelegt sein, dass sie funktionieren?
3. Es wird gesagt, RPGs müssen charakterorientiert sein. Heißt das, eure Charaktere entstehen zuerst und der Rest danach?