Esdees war heute so bunt und lebendig wie schon seit langem nicht mehr. Durch die Straßen strömten Menschenmassen wie Blut durch ein gewaltigen Herz. Es war also nicht weiter verwunderlich, dass der Wohnsitz von Raa Mons Straßenkinderbande war beinahe leer war.

Die 9jährige Ravenna bewegte sich lautlos durch die verlassenen Räume des alten Lagerhauses. Raa Mons Schlafplatz neben dem ihren hatte seit dem Tag des großen Gewitters einem Schlachtfeld geglichen. Nun waren die Stoffreste entsorgt, die Nähutensilien verstaut und Raa Mons wenige Habseligkeiten waren aufgeräumt worden. Ein wenig ZU aufgeräumt. Es lag wirklich überhaupt nichts mehr offen herum.

"Raven! Wir können gehen. Ich bin fertig." Raa Mon sprang beim Anblick des jüngeren Mädchens auf und hüpfte vor Vorfreude auf der Stelle. "Das wird ein riesen Spaß. Komm!" Sie trug ein schlichtes Kleid, dass sie vor einer Woche noch nicht besessen hatte. In ihre Haare waren Bänder verschiedener Farben geknotet - das Zeichen eines Feiertages.
Und sie trug einen Rucksack - ebenfalls neu.
Raven blickte kritisch auf die zum Regal umfunktionierte Holzkiste, die sich die beiden Mädchen normalerweise teilten. Die obere Hälfte war leer. Raven machte den Mund auf um etwas zu sagen, aber Raa Mon kam ihr zuvor
: "Raven. Du hast ja nicht mal deine Kleidung gewaschen. Heute ist doch ein besonderer Tag! Alle tragen Festkleidung. Warte... Ich gebe dir etwas..." Sie holte ihren Lederbeutel unter dem Kleid hervor und suchte darin. "Hier." Behutsam zog Raa Mon ein schneeweißes Seidenband hervor und band es in Ravennas strähniges helles Haar. Sie lächelte. "Sieht gut aus. Du darfst es behalten. Lass uns gehen!"
Und damit schoss sie auch schon davon.


Raven kannte Raa Mon seit zwei Jahren. So grundverschieden die beiden Mädchen auch waren, hatten sie sich damals zu einer Zweckgemeinschaft zusammengeschlossen. In dieser Zeit hatte Raa Mon stets Seidenbänder gesammelt und getragen. Und soweit Raven wusste hatte Raa Mon noch nie jemanden ihre Bänder auch nur berühren lassen. Widerwillig folgte Raven dem größeren Mädchen nach draußen. Sie wusste: Das Band war ein Abschiedsgeschenk. Und eigenartiger Weise war es so, als wäre Raa Mon schon vor 8 Tagen gegangen.
Mit sehr unterschiedlichen Gefühlen mischten sich die beiden Mädchen unter das feiernde Volk und ließen sich treiben.