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Thema: Wutschachtel

Baum-Darstellung

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  1. #11
    "Ohne Eitelkeit gibt es kein Schreiben. Egal, ob Autor oder Kritiker - Eitelkeit muss dabei sein. Sonst entsteht nichts."



    Marcel Reich-Ranicki ist gestern im Alter von 93 Jahren gestorben. Einer der bedeutendsten Literaturkritiker unserer Generation (und der davor) erlag allem Anschein nach seinem Krebsleiden - und soweit man hört, ist er wohl ohne große Schmerzen entschlafen. Ein ruhiges Ende eines extrem ereignisreichen Lebens. Damit stirbt dieses Jahr der zweite große Kritiker unserer Zeit (der erste war Roger Ebert), den ich trotz seiner sehr polarisierenden Art immer bewundert habe, was vor allen Dingen mit seinen Lebenserfahrungen zusammenhing, die er ohne Pathos, ohne unnötiges Auf-die-Tränendrüsen-drücken, ohne Exploitation und ohne schlechte Klischees mit uns allen teilte. Ich erzähle das, weil mich nichts wütender macht als Leute, die Menschen wie ihn degradieren und zu einem gewissen Teil denunzieren, und gar ein ganzes Medium - eines der ältesten der Menschheitsgeschichte - gleich direkt auch noch mit der Flak vom Himmel holen wenn sie schon dabei sind.

    Vielleicht liegt es daran, dass ich etwas angekränkelt und entsprechend bereits so ziemlich "touchy" bin. Ich wurde für eine Woche in eine andere Abteilung versetzt - eine super Abteilung, keine Frage. Die Leute sind freundlich, der Mann der mir alles hier zeigen soll ist sehr cool drauf - nur ich sitze direkt im Zug der Klimaanlage. Und wie der ein oder andere von euch weiß: Ich hab ein heftigst empfindliches Immunsystem. Ich weiß nicht genau woran es liegt, aber es wird mit jedem Jahr irgendwie schlimmer und entsprechend werde ich immer gereizter, weil ich als Hobby-Hypochonder - wie so oft - direkt vom schlimmsten ausgehe. Merkt euch das kursiv geschriebene, das wird gleich wichtig.

    Jedenfalls gehe ich mit meinen Mit-Azubis wie gewohnt um 12:30 zum Mittagessen, alles ist chillig. Es gibt lauwarmen Linseneintopf aus der Dose (der Gute von Erasco), der mit 'nem gefühlten halben Liter Maggi (sprich: "Mah-j(weiches sch)iiieeeeh") fast genießbar ist. Immer noch hart überteuert, aber genießbar. Ich hab heftigst Kohldampf, also schling' ich die Brühe runter als wär' ich seit Tagen am Verhungern. Irgendwann, nach gewohnten Konversationen über dies und das, sage ich "Ey, ich muss heute abend noch um Marcel Reich-Ranicki trauern. Vielleicht suche ich mal 'ne Wiederholung des Literarischen Quartetts oder s-"
    "Wer?", fragt eine der Mit-Azubinen. Mich überrascht die Frage, ehrlich gesagt - sie ist an und für sich clever und hat eigentlich ein gutes Allgemeinwissen. Warum also die Frage? Aber gut, man kann nicht alles wissen - frag' mich beispielsweise nicht, wer unsere Minister im Moment sind. Bei mir hört's nach zwei, vielleicht drei Namen auf. Aber Reich-Ranicki nicht zu kennen? Mit 20? Ey, komm' schon...
    "Einer der bedeutendsten Literaturkritiker Deutschlands, der Typ der im Literarischen Quartett so cool über Günther Grass hergezogen ist.", will ich sagen, doch beim zweiten Wort unterbricht mich meine andere Mit-Azubine relativ rüde mit den Worten. "So'n 93-jähriger Tattergreis."

    Ich sag' erstmal nichts, sondern winke stumm in ihre Richtung ab und setz' nochmal an: ich komme diesmal bis "Bedeutender Literarkritiker", bevor es wieder von rechts kommt:
    "Der war alt und ich hab' erst gedacht, die meinten Marcel Reif (Anm. d. Verf.: Fußballkommentator, weil Fußball ist viel wichtiger als Bücher. Scheiß auf Bücher.)"
    Nächster Versuch: Kritiker, Literarisches Quartett, wieder Unterbrechung, diesmal: "Musste nicht kennen. Also, ich dachte erst die meinten Marcel Reif weil meine Oma meinte 'Marcel Reif ist tot.' Hab' mich ganz schön erschrocken."

    "93-jähriger Greis."
    "Musste nicht kennen."
    "Scheiß auf Marcel Reif."
    Diese drei Sachen fliegen lustig in meinem Kopf herum. Ich hab's aufgegeben und wende mich - nunmehr appetitlos - meinem lauwarmen Eintopf zu. Das ist also Kulturverdrossenheit, nicht wahr? Da redet sie aus ihrem Arsch über jemanden, der miterlebt hat wie fast seine gesamte Familie im KZ umgebracht wurde, der trotzdem in Deutschland blieb, trotzdem einen Bildungsauftrag erfüllte und nie nie nie nie mit dem Finger auf irgendwen gezeigt hat (außer auf die Nazis). Sein ganzes Leben hatte Ranicki - der sich selbst als heimatlos bezeichente (und wie kann man's ihm verübeln) - der Literatur und der Bildung anderer über Literatur gewidmet. Und nicht nur über Literatur, auch den berühmt-berüchtigten Historikerstreit sollte man nie vergessen. Was soll man als Antwort darauf sagen? Wie wäre es mit...

    "Dieser '93-jährige Greis' hat seiner Familie beim Sterben zugesehen und hat trotzdem versucht, Leute wie dich zu informieren. Über Bücher. Gute Bücher. Bücher abseits von 'Skandalliteratur'-Scheiße wie Twilight und 50 Shades of Kot. Er hat kritisiert und gerne mal provoziert und hat viele furchtbare Dinge erlebt, aber er hat's nie an dir oder mir oder sonstwem ausgelassen - obwohl's schon doof ist, wenn man jahrelang eine Wand aus Ignoranten wie du einer bist versucht umzustimmen, ihnen die Scheuklappen ein bisschen abzunehmen. Aber was sage ich, du gehst am Sonntag ja nicht wählen weil du dir am Samstag Abend die Birne wegsaufen und am Sonntag verkatert sein wirst bis kurz nach 18 Uhr, nur um dann am Ende eine der ersten zu sein, die sich über die schlechte Politik und die ach so schlimme und kulturlose 'Multikulti-Kanacken-Jugend' in 'unserem' Land aufregt. Du... du dummer, dummer Mensch."
    Zumindest will ich das sagen. Aber ich kann nicht. Ich will den Status Quo nicht ändern, will mich nicht als Paladin der Kultur hervorheben oder ähnliches, will keinen Stress verursachen. Alles was ich will, ist meinen lauwarmen Eintopf futtern, danach eine rauchen und weiter unter der Klimaanlage frieren. So tun, als hätte ich's nicht gehört. Und genau da liegt meine Wut und meine Trauer: Ich kann nichts machen gegen Leute, die sich einen feuchten Furz um das scheren was mich interessiert. Und diejenigen, die immer versucht haben was zu ändern, sterben weg und werden als "diese/r ein/e alte Typ/e da" erinnert von Leuten, die ihr Gehalt auf den Kopf hauen für schlechte Captain Morgan/Cola-Mischen und schlechte Clubs in denen schlechte Musik von schlechten Menschen für Menschen mit schlechten Ohren läuft. Weil das. Ist. Kultur.

    Ich will auf der anderen Seite aber niemanden verurteilen, da ich selbst ab und zu das Bedürfnis habe nach schlechten Captain Morgan/Cola-Mischen und schlechten Clubs in denen schlechte Musik von schlechten Menschen läuft zu der ich schlecht tanzen kann. Ich sage auch oft Sachen wie "Fotze", ab und an gucke ich auch RTL, ab und an ertappe ich mich selbst beim Singen von Modern Talking-Songs. Ich gucke verdammt nochmal Hongkong-Wuxia-Schinken und Anime - wer bin ich also, dass ich andere Leute für ihre Ignoranz verurteile? Das verärgert mich so: Will ich anderen Leuten meine Ansicht von Kultur aufdrängen oder will ich einfach solche Art der Verbohrtheit tollerieren? Habe ich überhaupt selbst einen Sinn für Kultur? Wie sieht der Rest der Leute mit denen ich abhänge diesen Sinn für Kultur? Teilen sie ihn? Haben sie selbst einen? Verdammte Scheiße.

    Am Ende läuft es wohl nur auf eines hinaus: auf denjenigen, der sich insgeheim eitler gibt als der nächste. Ignoranz zur Erhaltung des Friedens, sozusagen. Denn anscheinend zählt der oben genannte Grundsatz nicht nur für Literatur und deren Kritik - sondern fürs Leben. Und ich weiß nicht, inwiefern ich das Ranicki verdanken soll, dass ich mir überhaupt diese Frage wieder stelle nachdem ich sie erfolgreich in meiner Eitelkeit verdrängt habe. Vielleicht lese ich zuviel darein. Vielleicht wusste sie es in dem Moment nicht besser und hat das Erstbeste gesagt, was ihr eingefallen ist und ich bin in Wirklichkeit derjenige, der lieber die Schnauze halten soll.

    Wäre ja auch langweilig, wenn es unkompliziert wäre.

    True Story.

    Geändert von T.U.F.K.A.S. (21.09.2013 um 10:56 Uhr)

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