Ich bin - wie nach den ersten beiden Argumenten ungefähr jeder Diskussion - schon gleich wieder verwirrt.
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Jeder Mensch weicht von einer Norm ab. Wieso sollten es Charaktere dann nicht auch tun?
Ein Punkt wäre, dass ich als Künstler (oder - wer an das Wort "Kunst" Qualitätsansprüche hat - ich als schöpferisch Tätiger), die Frage zulassen muss: "Wieso weicht der von der Norm ab?"
Ich jedenfalls als Rezipient würde, sobald ich ein Werk ausreichend ernst nehme, dass ich darüber nachdenken will, mich das immer fragen: Wenn Dostojewski seinen Idioten geistig zurückgeblieben sein lässt, dann führt ja die Frage, wieso er ihn das sein lässt, deutlich weiter. Das macht der ja nicht, weil er sich sagt: Zurückgebliebene gibt es in der echten Welt, wieso nicht auch in meinem Roman? Und Hofmanthals Klytaimnestra ist ja auch nicht deswegen - äh... krank? Ausgebrannt? Schwindsüchtig? - weil das ausgewürfelt wurde, sondern weil ihre Persönlichkeit mit ihrer Bedeutung im Palast von Mykene korreliert. (Tut mir Leid, dass ich keine weiter verbreiteten Beispiele parat habe, aber mir fällt gerade echt sonst nichts ein.)
Anders herum wäre ich ernüchtert, wenn ich beim Konsum irgendeiner Geschichte den Eindruck gewänne, dass die herausstechenden Eigenschaften der Charaktere einfach nur zufällig generierte Charakterblatt-Einträge ohne weitere Bedeutung sind. Selbstredend ist die echte Welt nicht so: Blindheit ist kein Beleg oder Hinweis für Hellsichtigkeit, und niemand wird für seine Bösartigkeit mit Schwindsucht gestraft. Aber ich will schon die Metaebenen abklappern dürfen, wenn ich auf etwas sehr Auffälliges gestoßen werde.
Auf der anderen Seite:
Irgendwie klingt das jetzt in meinem Kopf, als müsse Charakterdesign so vonstatten gehen, dass ich bei einem 30jährigen weißen Hetero-Mann mit Dreitagebart* anfange, und jede Änderung an diesen Attributen induziert wird durch die Rolle in meiner Geschichte. Das setzt schon eine Norm voraus - unter die fallen bestimmt mehr Stereotypen als der oben genannte Hetero-Mann, aber es würde bestimmt Rollstuhlfahrer ausschließen. Wenn eine Figur im Rollstuhl sitzt, würde ich vermutlich schon fragen: Wieso? Welchen Grund mag es haben, dass der Herr Schaffende ihn nicht laufen lässt? (Und zumindest "Heidi" hätte eine Antwort darauf.)

Diese Überlegung hier würde mich jetzt zu der Reaktion verleiten, die in Pinguins erstem Thread auch häufig auftrat: Charaktere, die einfach nur behindert sind/weit von der Norm abweichen, ohne dass es irgendeinen spielerischen/erzählerischen Mehrwert hat, und auf deren Abweichung sonst überhaupt nicht eingegangen wird, sind voll unnötig (,ey)!

Eine konträre Meinung, die ich beobachtet habe, klang eher nach: Figuren, die nur auf ihre Behinderung reduziert werden oder wegen ihrer Behinderung glorifiziert werden oder etwas in die Richtung, sind nur alberne Karikaturen und voll unnötig(, ey)!
Und die Illustrationen zu dieser Meinung fand ich auch überzeugend.

Eine Schlagrichtung ist also genervt von einer Überbetonung dieser Eigenschaft, die andere davon, sie so wenig zu betonen, dass sie schon keine Rolle mehr spielt.
Klar könnte man jetzt sagen: Goldene Mitte und so, aber das wäre ebenso unbefriedigend, wie dieser Schluss in jeder Diskussion ist.

Ich kann den Standpunkt verstehen, dass man sagt: So, ich hab jetzt eine Geschichte mit zehn zentralen Figuren, und davon geb ich mal dreien eine Form von Behinderung, weil echte Menschen in der echten Welt auch welche haben.

Aber wenn ich den Eindruck habe, dass das eine beliebige Entscheidung ist, und die Geschichte auch genauso funktionieren würde, wenn die drei Figuren 30, männlich, hetero wären, würde mir das nicht gefallen.

Mir ist klar, dass ich damit eine Form von Norm zementiere und quasi fordere, dass man sich als Künstler rechtfertigen muss, wenn man andere Figuren verwendet als 30jährige weiße Männer. Aber ich glaube, das ist etwa das, wie ich das unterbewusst sehe.
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*Ich greife das Beispiel von früher auf. Je nach Kontext ist die Norm natürlich eine andere: In einem Samurai-Film weichen Tom Cruises natürlich von der Norm ab. 30jährige weiße Männer sind hier Chiffre für alle unauffälligen Figuren im jeweiligen Kontext.