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Provinzheld
Himmelsrand, Fürstentum Weißlauf
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Noch am frühen Nachmittag kletterten Aela und Vesana mit leichtem Reisegepäck und Jagdausrüstung ausgestattet durch die Turmruine am Ende des Tunnels aus der Tiefenschmiede. Sie gelangten auf diesem Wege schneller aus der Stadt, als wenn sie sie durch das Tor verließen und von dort den Weg in die Wildnis einschlugen. Mit der regenfesten, dickgefütterten Wildlederjacke, die sie schon auf Solstheim getragen hatte, zusammen mit einer etwas dickeren, molligen Hose und den hohen Wildlederstiefeln lief es sich selbst in diesem ungemütlichen Wetter vergleichsweise angenehm. Zwar war der Boden ziemlich aufgeweicht, weil es seit der Nacht ununterbrochen regnete, aber Vesa konnte sich Schlimmeres vorstellen. Aela lief neben ihr, ähnlich warm eingekleidet, und zusätzlich zu einem Tornister trug auch sie einen Jagdbogen mit zwei Köchern und einem Schwert auf dem Rücken.
„Ich habe gehört, der Auszubildende hatte heute Grund zum Fluchen?“, fragte Aela.
„Hat Skjor erzählt, ja?“
„Ja, hat er.“
„Er schien heute gut gelaunt zu sein.“
„Ist er auch, immerhin hatte mal wieder jemand den Mut, sich mit ihm anzulegen. Das freut ihn doch immer.“
„Stimmt.“
„Es endete aber scheinbar auch wie immer, richtig?“
„Natürlich endete es wie immer. Wann hast Du denn jemals jemanden gesehen, der Skjor in den Dreck gelegt hat?“ Die Nord lachte. Natürlich hatte sie das noch nicht gesehen. Keiner konnte das behaupten. „Wenigstens lernt man bei ihm was.“
„Das ist wahr.“
Für einige Zeit liefen die beiden Frauen schweigend weiter. Der Regen perlte an ihrer Jacke ab und tropfte von der Kapuze vor ihrem Gesicht hinab. Kein einziger Tropfen durch ihre Kleidung drang, außer ein wenig an den Knien, die nicht direkt von ihrem Oberteil oder den hohen Stiefel bedeckt wurden. Dennoch schien ihr alles irgendwie klamm zu sein. Die hohe Luftfeuchte kroch überall hinein und legte sich auf die Haut unter den Stofflagen. Nicht unbedingt angenehm, aber es ließ sich aushalten. Umso mehr verspürte sie das Bedürfnis sich in das weiche Fellfutter ihrer Kapuze zu kuscheln, allerdings wäre das im Gehen wohl weniger praktikabel.
„Was ich Dich noch fragen wollte“, setzte Aela nach einer Weile an.
„Ja?“
„Wie war es, den Werbären zu töten? Wie sah er aus?“ Vesana hatte in gewisser Weise schon darauf gewartet, dass die Nord fragen würde. Eine so erfahrene Jägerin wie sie, die eine Kreatur noch nicht einmal gesehen hatte, musste sicherlich eine gewisse Neugier verspüren, wie es war. Die Kaiserliche konnte es sich zumindest gut vorstellen, denn ihr selbst erging es nicht viel anders. Leuten von ihrem Schlag wurde regelrecht der Mund wässrig, wenn sie gute Jagdgeschichten hörten.
Vesa überlegte kurz, wie sie es erzählen sollte. „Es war eine atemberaubende Kreatur, Aela. Gut sechs Fuß groß, dreimal so kräftig wie jeder Werwolf, den ich bislang gesehen habe und dunkles, braunes Fell – dicht und fest – mit leuchtenden, gelbschimmernden Augen in tiefen Höhlen. Er besaß keinen Schwanz, aber seine Pranken waren massiv mit langen, scharfen Klauen“, berichtete sie und beobachtete währenddessen, wie Aela die Hände ineinanderschlang, als ob sie sich die Kreatur gut vorstellen konnte und in Ehrfurcht zu erstarren drohte. „Er hat gekämpft wie rohe Naturgewalt.“
„Wie … wie hast Du ihn erlegt?“
„Zufall. Selbst tiefe Schnitte schienen ihn nicht wirklich zu stören. Ich habe es irgendwann geschafft mein Stahlschwert in seiner Brust zu versenken. Als er es herausziehen wollte, hat er es einfach abgebrochen!“
„Abgebrochen?“
„Ja. Als wäre es ein dünner Ast. Die restliche Klinge, die steckengeblieben war, hatte ihn geschwächt, weshalb ich ihn schließlich hiermit“, sie zog ihr neues Schwert aus der Scheide auf dem Rücken, „erlegen konnte.“ Die Rothaarige sprach kein Wort sondern streckte die Hand aus und ließ sich die silberveredelte, geschwungene Waffe geben. Vorsichtig strich sie über das glänzende Metall, wog es hin und her. „Da fällt mir ein, ich habe das Fell noch unten in meinem Zimmer. Ich sollte es bei Gelegenheit noch fertig bearbeiten.“
„Das solltest Du, ja. Woher hast Du das hier?“ Sie reichte der Kaiserlichen ihre Waffe zurück, die diese anschließend wieder auf dem Rücken verstaute.
„Die habe ich einem Banditen auf Solstheim abgenommen.“
„Abgenommen?“
„Ja. Noch am ersten Tag bin ich mit ein paar Räubern zusammengestoßen. Der Anführer dachte, ich wäre leichte Beute, und hat sich etwas verschätzt. Seine Kumpane sind dann geflohen. Ich habe es bei den Skaal noch etwas mit Silber veredeln lassen, aber so grundsätzlich ist es seine Klinge gewesen.“
„Sie hat eine interessante Balance.“
„Ja, das dachte ich mir auch. Jetzt wo ich mein Stahlschwert gegen den Werbären verloren habe, bleibe ich erstmal bei dem hier.“
„Vernünftig.“
„Wo wollen wir eigentlich hin? Zum Jagen, meine ich“, wechselte Vesana das Thema.
„Hier in den Prärien nördlich von Weißlauf, noch in Reichweite für heute, gibt es eine kleine verlassene Hütte, die ich letztens mit Skjor entdeckt habe. Da werden wir heute unsere Sachen unterstellen und später schlafen“, erklärte Aela. „Morgen können wir dann früh los und weiter nach Norden, näher an die Wälder und Berge heran – oder vielleicht schaffen wir es sogar ganz bis zu ihnen. Da sind wir weit genug weg von Dörfern oder großen Städten und auch ungestört.“
„Klingt gut.“
„Die Vollmondnacht und die danach können wir dann noch dort bleiben und uns im Anschluss auf den Rückweg machen.“ Es war in der Tat ein guter Plan. So konnte sich das Biest in ihr austoben und selbst wenn es in der Vollmondnacht nicht auf Aela als Leitwolf hören sollte, mochte wohl nichts Schlimmes passieren. Bis dahin mussten sie aber erst einmal noch eine Weile durch das ungemütliche Wetter stapfen.
Schmatzend lösten sich ihre Stiefel aus dem Boden, der sie scheinbar kaum noch loslassen wollte. Eine zwar weiche, aber dann doch unangenehme Umklammerung, aus der sich die Kaiserliche nur allzu gern wieder zurückzog. „Gibt es eigentlich neue Anwärter, die in den Zirkel aufgenommen werden könnten?“, fragte Vesa nach einiger Zeit, die sie schweigend zurückgelegt hatten.
„Nein. Bislang hat sich niemand hervorgetan, der für das Geschenk des Wolfsblutes bereit wäre.“
„Hm, verstehe. Aber es gab auch keine Zwischenfälle mit anderen Rudeln, so wie vor – wann war das gleich – einem dreiviertel Jahr?“ Sie bezog sich damit auf eine eher umherstreunende Bande von Werwölfen, die für Unruhe gesorgt hatte. Zwar hatten die Unwissenden eher nur von großen Wölfen berichtet, aber der Zirkel wusste es aus Erfahrung natürlich besser und hatte sich zum Eingreifen gezwungen gesehen, um die eigene Tarnung nicht aufs Spiel zu setzen. Es endete mit zwei Toten auf der Seite der kleinen Bande, darunter dessen Leitwolf, und die anderen beiden waren geflohen. Bei dem Gedanken an die Geschichte verknotete sich ihr Magen und die Augenbrauen senkten sich ein Stück. Immer dann, wenn sich ihre Art untereinander bekämpfte, stimmte es sie traurig. Es gab größere Feinde, aber das half meist nichts. Die Streuner – und es gab viel zu viele von ihnen – waren in der Regel nichts anderes als verfilzte Halunken, die mit ihrer Gabe nicht umzugehen vermochten und deshalb den Rest ihrer Gattung in Bedrängnis brachten. Als ob die Territorialität der größeren Rudel nicht schon für genug Ärger zwischen den Wölfen sorgte, nein, es musste auch noch die geben, die alles fraßen, was ihnen vor die Nase lief.
„Nein, zum Glück. So ruhig, wie die Silberne Hand zurzeit ist, verhält es sich auch mit den Rudelrivalitäten. Obwohl wir das Fürstentum inzwischen ohnehin recht gut für uns beansprucht haben. Jetzt wo Du wieder da bist, können wir aber vielleicht etwas offensiver neuen Kontakt mit anderen suchen und womöglich unsererseits der Hand eins auswischen.“ Seit sie Darius kennengelernt hatte, war Vesana mit ihm regelmäßig auf der Suche nach anderen Rudeln gewesen, um Partnerschaften anzustreben und den Werwolfsjägern der Silbernen Hand stärkeren Widerstand entgegenzusetzen. Während Vilkas und Kodlak das in ihrer Zurückhaltung gegenüber dem Geschenk Hircines nicht gerade begrüßt, wenngleich auch nicht unterbunden hatten, fand diese Idee bei Skjor und Aela enormen Zuspruch und starke Unterstützung. Allerdings hatten die größeren Wolfsrudel selten Interesse, eher Skepsis oder gar Geringschätzung gezeigt, und die kleineren verschwanden so schnell, wie sie sie gefunden hatten – entweder weil sie von einem größeren Rudel vertrieben worden waren, oder weil sie die Hand erwischt hatte. Und seit Darius‘ Verschwinden hatte Vesa die Tätigkeit der Bündnissuche niedergelegt.
„Eine gute Idee“, stimmte die Kaiserliche schließlich zu. Nicht zuletzt würde das wohl auch eine Möglichkeit bieten, mehr über den Verbleib ihres Geliebten in Erfahrung zu bringen.
„Schön, dass Du das so siehst. Dann sollten wir uns wohl mit Skjor zusammensetzen, sobald wir wieder zurück sind.“ Vesana nickte, auch wenn die Nord das wohl kaum sah. Den Blick hielten sie beide eher gerade aus, um nicht fehlzutreten auf dem rutschigen Untergrund. Zumal sich die Sicht nicht gerade als herausragend bezeichnen ließ. Der dichte Grauschleier des Regens verschluckte die Umgebung schon im nahen Umkreis nahezu vollständig. Noch dazu wurde es allmählich dunkel. Ganz zu schweigen vom konstanten Rauschen der großen Tropfen, die schwer auf ihren Kopf und die Schultern prasselten, und jeden Laut der Umgebung verschluckten, da mussten sie die Augen eher auf die Umgebung, anstatt aufeinander, halten. „Ah, da vorne ist sie.“ Aela hob die Hand und deutete voraus ins verschwommene Dämmerlicht.
Mühsam, und auch nur aufgrund ihrer verbesserten Sinne, entdeckte Vesana die dunkle Ecke eines Holzverschlags hinter einem etwas größeren Findling. Einen Bogen beschreibend und so den Felsen weiträumig umringend, näherten sie sich der Hütte. „Da regnet es doch rein!“, murrte Vesa, als sie die großen Lücken zwischen den Brettern der Seitenwände und die schiefe, niedrige Eingangstür erkannte. Das Dach mochte kaum anders aussehen.
„Dafür haben wir ja unsere Zeltplanen dabei.“
Das Abdichten der Hütte mit ihren Zeltbahnen gestaltete sich als umständliches Unterfangen. Ständig rutschte der Stoff irgendwo wieder heraus, oder sie glitten ab, oder kamen gar nicht erst dort hin, wo es sinnvoll gewesen wäre ihn zu befestigen. Irgendwann im Dunkeln der hereingebrochenen Nacht schafften die beiden Frauen es schließlich, einen einigermaßen ausreichenden Teil der Hütte regenfest zu machen und dort ihre Schlafunterlagen auszubreiten. Wirklich komfortabel war es zwar nicht, zumal die widerliche Feuchtigkeit des Wetters überall hineinkroch und das Holz, vollkommen vollgesogen mit dem Nass, auch noch recht modrig roch, aber es würde wohl ausreichen, um hier eine Nacht zu verbringen. Wenigstens half die Kälte und das durch die Zeltplanen und den Bretterverschlag gedämpfte Rauschen des Regens durch seine Monotonie Vesanas Kopfschmerzen zu lindern. Mit jedem Moment, den die Nacht weiter über sie hereingebrochen war auf ihrem Weg, hatten sich diese verstärkt, als ob das Biest in ihr immer weiter aufwachte und gegen die Stäbe eines Käfigs schlug, um auszubrechen.
Zuletzt fühlte es sich so an, als würde ihr Schädel förmlich platzen. Es zog und stach, gelegentlich schoben sich die scharfen Reißzähne auch ein Stück heraus, bevor sie mit einem Stöhnen und scheinbar in Wut geballten Fäusten ihre Augen einen Moment schloss und gegen das Bedürfnis ihren Trieben freien Lauf zu lassen, ankämpfte. Jetzt, wo Vesa auf ihrer ledernen und fellbesetzten Schlafunterlage saß, beruhigte sie sich selbst durch gezwungen regelmäßige Atemzüge und seichtes Wippen des Oberkörpers bei angezogenen Beinen, die sie mit den Armen umschlungen hielt. Die feurigen Messerstiche quer durch den Kopf versuchte sie durch Bisse auf die Unterlippe auszublenden. Ihre Begleiterin kümmerte sich gerade noch um die letzten Handgriffe an der Hütte, hatte aber einsehen müssen, dass die Kaiserliche in diesem Zustand keine ernsthafte Hilfe mehr war.
Zusätzlich erinnerte sie die Situation an eine von zahlreichen Jagden mit Darius. Oft hatte sie mit ihm Zeit in den Wäldern an den Ufern des Ilinalta-Sees verbracht. Genau genommen am südlichen Ufer, wo sie ein sehr altes, verlassenes, kleines Blockhaus entdeckt hatten. Über den Verlauf mehrerer Jahre hatten sie dieses zu ihrer Zuflucht in den Sommermonaten ausgebaut und recht wohnlich eingerichtet. Es war dort gewesen, wo sie sich erstmals näher kennengelernt hatten. Es war dort gewesen, wo sie von ihrer gegenseitigen Lykantrophie erfahren hatten. Es war dort in der nahen Umgebung gewesen, auf einer Wiese zwischen Wald und See, dass er ihr bei der Arbeit an ihrem Totem der Jagd geholfen hatte. Und es war dort gewesen, wo sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
Irgendetwas berührte Vesana an der Schulter und sie schreckte zusammen. Für einen kurzen Moment ließ der Kopfschmerz ihr Blickfeld verschwimmen, das ohnehin nur von einer kleinen Sturmlaterne erhellt wurde. Erst Aelas feste Stimme holte sie zurück ins Hier und Jetzt. „Es ist alles fertig. Lass uns aufbrechen, dann legen sich auch Deine Kopfschmerzen.“ Die Kaiserliche nickte nur benommen, als hätte ihr jemand einen Holzknüppel über den Kopf gezogen. Im Anschluss stemmte sie sich steifbeinig hoch und begann wie auch die Nord damit, sich auszuziehen. Jacke und Hose legte sie ans Kopfende des Nachtlagers nahe der Außenwand des kleinen Schuppens, die Stiefel stellte sie ans Fußende in die Nähe ihres Felleisens und ihrer Waffen. Als letztes, bereits vor Kälte heftig zitternd, streifte Vesa ihre Tunika über ihren Kopf, warf sie auf das Nachtlager und befreite die langen Haare aus dem Knoten am Hinterkopf. Noch immer klamm fielen sie ihr auf die Schultern und kitzelten die Haut.
„Dann mal los.“ Aela nickte in Richtung Tür und lief auch direkt los. Ihre nackten Füße hüllten sich schnell in braunes Schmutzwasser auf ihrem Weg dorthin und gleich darauf verschwand ihre sich hell vor den dunklen Wänden abhebende Gestalt durch den Eingang. Die Kaiserliche löschte noch die Laterne. Mit der plötzlich alles verschluckenden Dunkelheit verschwand auch ihre Orientierung im Hier und Jetzt, sie gab sich auf und verlor sich nicht nur im Dunkel der Welt, sondern auch in dem ihrer Gedanken.
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Geändert von Bahaar (04.04.2014 um 17:54 Uhr)
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Provinzheld
Himmelsrand
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Leise platschend schwappten die kühlen, kleinen Wellen gegen ihre nackten Knöchel. Das dunkle Wasser des Sees lag ruhig in der Abenddämmerung vor ihr und leichte, frische Frühlingsbrisen spielten mit Vesas offenen Haaren, während sie ihr einen Schauer nach dem anderen über die unbedeckten Arme jagten. Widerspenstig stellten sich die Härchen dort auf und ließen ihre Haut wie die eines gerupften Huhns erscheinen. Sie hatte sie vor der Brust verschränkt und hielt sich nahe den Ellbogen an den Oberarmen fest. Die leichte, helle Tunika, die sie trug, wärmte nicht wirklich, und auch wenn es ein erstaunlich milder Frühling war, der das Jahr 4Ä 201 kennzeichnete, so schien die Sonne in den Abendstunden der Tage der Zweiten Saat schnell an Kraft zu verlieren.
Leichtes Zittern hielt den Körper der Jägerin gefangen, aber nicht nur die kalten Füße unter der ruhigen Wasseroberfläche oder die kühlen Windstöße riefen es hervor. Eine innere Unruhe und Kälte hielt sie in festem Griff. Weder verspürte sie Hunger oder Appetit, noch schaffte sie es, sich vom Anblick des Ilinalta-Sees im Schein der wolkenlosen, glutroten Abenddämmerung und seiner hypnotisierenden Wirkung loszureißen. Ihre Gedanken drehten sich seit Stunden im Kreis wie die Tänzer auf Volksfesten, nur nicht so unterhaltsam, und die Eingeweide verdrehten sich ähnlich wirbelnd ineinander. Es war Sorge, die sie plagte. Sorge, und Furcht.
Verhaltenes Rauschen drang von hinten an ihre Ohren, als ob jemand durch das flache Uferwasser watete. Eine größere Welle brach sich an ihren Waden und schon im nächsten Moment spürte sie einen kräftigen Arm um ihre Taille liegen, der sie gegen die Seite eines kräftigen Körpers und seine Schulter drückte. „An was denkst Du?“ Darius‘ gedämpfte, dunkle Stimme unterbrach ihre Abwesenheit.
„An meinen Vater.“
„An was genau?“ Sie spürte, wie er mit dem Daumen der Hand an ihrer Seite sanft und langsam hin und her strich, als wollte er sie beruhigen. Es half nicht viel, das Zittern ihres Leibes hielt an und es kam ihr auch nicht in den Sinn sich zu ihm umzudrehen, die Arme auszubreiten und ihn festzuhalten.
„Wie er meine Mutter getötet, Emilia vertrieben und unsere Familie zerstört hat.“ Die Bitterkeit in ihren Worten schnitt durch die Abendluft wie ein Messer durch Streichfett. Der Kaiserliche an ihrer Seite wusste es besser, als sie zu korrigieren. Natürlich hatte ihr Vater seine Gattin und ihre Mutter nicht direkt ermordet, das hatten andere wegen ihm getan. Auch Emilia, ihre Schwester, hatte er nicht direkt fortgejagt, sie war einfach weggelaufen. Aber am Ende kam es auf dasselbe hinaus und es blieb seine Schuld. Vesa fühlte sich jetzt in diesem Moment genauso einsam und verlassen wie in den Wochen und Monaten nachdem auch sie ihrem Vater den Rücken zugekehrt hatte – und das obwohl Darius direkt neben ihr stand.
„Warum denkst Du an ihn?“ Ihr Geliebter tastete sich vorsichtig weiter in diesem Themenfeld voll Fallstricke. Es stand außer Frage, dass er wenigstens im Ansatz wusste, wie sie sich fühlte, aber wie so oft versuchte er sie zum Reden zu bringen. Ihr die Last, die ihre Schulten nach unten zog, zu nehmen und mit ihm zu Teilen.
„Weil …“ Ihr blieben die Worte im Hals stecken.
„Weil?“ Er flüsterte in zwischen, ganz nahe an ihrem Ohr und küsste sie seitlich auf den Hinterkopf. Die sonst immer beruhigend wirkende Geste sorgte in diesem Moment nur für ein verstärktes Gefühl, als rührte ihr eine eiskalte Hand im Bauch herum. Vesana senkte den bis dahin starr auf die ebenholzfarbene Wasseroberfläche gehaltenen Blick. Heiße Tränen brannten ihr in den Augen und lösten sich mit dem nächsten Blinzeln, als ihr Kinn auf dem Brustbein ruhte. Vergeblich versuchte sie so das Zittern des Kiefers und der Lippen zu unterdrücken.
„Weil Du mich genauso allein lassen willst“, fand sie schließlich den Mut, es auszusprechen und legte gleich darauf den Kopf in den Nacken. Das salzige Wasser ließ ihre Sicht verschwimmen, aber der feuerrote Himmel strahlte noch immer über ihnen – ein schöner Anblick, für den sie im Moment nichts übrig hatte.
„Vesa …“ Darius klang hilflos, ein wenig verzweifelt vielleicht, als würde ihm ein Ansatz fehlen, mit ihr umzugehen und sie zu beruhigen. Sie merkte aber auch, dass ihn ihre Worte sehr trafen und sich eine Note des Schmerzes in seine Stimme hineingeschlichen hatte. Er trat vorsichtig um sie herum und stellte sich vor sie, doch sie wand das Gesicht ab, schaute an ihm vorbei auf das Wasser und auch als er sie an sich drückte, lösten sich ihre Arme nicht aus ihrer Umklammerung umeinander. Jede Veränderung ihrer Haltung musste er mit sanfter Gewalt herbeiführen. Erst trennte er ihre Arme, dass sie kraftlos an ihren Seiten hingen, dann legte er ihren Kopf gegen seine Schulter und hielt sie mit der einen Hand fest, während die andere durch ihr Haar zu streichen begann. „Das ist nicht … gerecht“, erwehrte er sich ihres Vorwurfs. Natürlich sprach er die Wahrheit und dieser Umstand ließ sie sich noch weiter in sich zurückziehen. Lediglich ein heftiges Zucken, als der erste Schluchzer ihrer Kehle entschwand, verriet dem Kaiserlichen ihren Gefühlszustand. Die Augen fest zusammengekniffen rollten ihr dennoch dicke Tränen aus den Winkeln und über die Wangen hinab. Sie schlugen zweifelsohne schwer auf seiner nur von dünnem Stoff bedeckten Schulter auf.
Ihr Geliebter drückte sie fester an sich und erst in diesem Moment brach Vesas Widerstand. Ihre schlanken Finger krallten sich an Darius‘ Seiten fest wie die Füße eines Adlers in seine Beute. Sie krampften regelrecht, als weiteres Zucken durch ihren Leib fuhr und sie die immer häufiger werdenden Schluchzer kaum noch zu unterdrücken vermochte. Dazu kam das heftigere Zittern, als sich die Kälte des Wassers langsam an ihren Beinen emporarbeitete und die Sonne, den Nachthimmel freigebend, weiter hinter den Bergen und Wäldern verschwand. „Heh.“ Er versuchte, sich etwas von ihr zu lösen und das Gesicht in seine großen Hände zu nehmen, doch sie schlang die Arme fester um ihn und drückte sich an ihn.
Heftiges Pochen in ihrer Brust ließ die Rippen schmerzen und das Luftholen fiel ihr schwerer. Es war, als würde ihr Körper in Ohnmacht fallen und ihr die Kontrolle entziehen, nur dass sie das Bewusstsein behielt. Anstatt zu versuchen, sie anzuschauen, schob ihr Darius nun die kraftvollen Arme unter das Gesäß und hob sie hoch. „Lass uns wenigstens aus dem Wasser gehen. Du erfrierst sonst noch“, erklärte er sich. „Dann reden wir, einverstanden?“ Vesana antwortete nicht, ließ ihn aber auch widerstandslos gewähren.
Wenig später setzte er sich ins Gras am ebenen Ufer und schob seine Beine an ihr vorbei. Wie ein Strauß geknickter Blumen lehnte sie gegen ihn. „Vesa … Ich kann nicht einfach hierbleiben und die Möglichkeit verstreichen lassen, Marius zu befreien“, setzte er schließlich an, als er durch zartes Streicheln ihres Rückens und Kopfes wenigstens das Schluchzen etwas eingedämmt hatte.
„Ich weiß …“ Sie zog den Rotz hoch, als sie merkte wie schwer es ihr fiel zu sprechen.
„Dann weißt Du auch, dass ich Dich nie im Stich lassen würde, wie Dein Vater“, flüsterte er weiter. „Ich lüge Dich nicht an und meine Verpflichtung gilt einzig und allein den Menschen, die mir am nächsten stehen: Meiner Familie – Dir, und meinem Bruder.“ Seine Worte wirkten niederschmetternd. Nicht, weil es die Jägerin nicht berührte, sondern weil es ihr bewusst werden ließ, wie weh sie ihm getan hatte, als sie ihm in ihrem Schmerz vorgeworfen hatte, wie ihr Vater zu sein.
Vesa löste sich vorübergehend aus seiner Umklammerung, drehte sich seitlich und zog die Beine ein. Ihre Schulter unter seinen Arm klemmend, legte er diesen um sie, während sie ihren Kopf an seinem Hals vergrub. „Ich will nicht, dass Du gehst“, entrang es sich ihrer Kehle, rau und fragil wie ein Kartenhaus.
„Ich weiß. Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich kann meinen Bruder nicht einfach in den Fängen der Silbernen Hand lassen.“ Sie schwieg. „Das verstehst Du doch. Für Emilia würdest Du doch dasselbe machen.“
„Ich will mitkommen.“
„Nein.“ Seine sonst weiche, einfühlsame Stimme gewann plötzlich an bestimmender Festigkeit, die sie erschrecken und ihr Herz einige unangenehme Sprünge mit langen Pausen dazwischen vollführen ließ. „Versprich mir, dass Du mir nicht folgen und auch nicht später nachkommen wirst.“
„Warum?“
„Weil ich mich sonst auch noch um Dich sorgen müsste und das würde eher dazu führen, dass keiner von uns zurückkehrt. Wenn Marius noch lebt, muss ich mich auf ihn konzentrieren, um ihn lebend herauszuholen. Bist Du dabei, kann ich das nicht.“ Wieder antwortete die Kaiserliche nicht, spürte aber wie der Griff ihres Freundes sich verfestigte. „Versprich es mir, Vesa. Bitte versprich es mir.“ Sie atmete tief durch, oder versuchte es zumindest. Viel mehr als ein klägliches Rasseln bekam sie nicht zustande. Schwindelgefühle hielten sie gefangen und es fühlte sich so an, als würde Darius unter ihr davonschwimmen wie Treibgut unter einem Ertrinkenden.
„Hm“, bekam sie schließlich heraus.
„Bitte sage mir, dass Du es versprichst.“
„Ich … verspreche es.“ Er küsste sie lange auf den Kopf und strich ihr durchs Haar. Ein nur teilweise angenehmer Schauer rann ihr den Rücken hinab.
„Danke“, flüsterte er nun wieder.
„Es ist Selbstmord.“
„Nicht mit den Resten meines alten Rudels. Wir können das schaffen.“
„Es stinkt nach einer Falle. Nach all der Zeit kommen sie plötzlich wieder und wollen Deine Hilfe. Und erst als Du ablehnst, sagen sie, dass Dein Bruder gefangen gehalten wird …“
„Welchen Grund hätte auch nur irgendein Werwolf einen anderen der Silbernen Hand zu übergeben?“, konterte Darius. „Die Hand geht keinen Handel mit Wandelwesen ein.“ Wieder hatte er Recht, aber das beruhigte Vesana nicht. Sie wollte ihm sagen, dass er ihre Hilfe gebrauchen könnte, dass er nicht auf sie aufpassen musste, sondern das gut selbst konnte. Doch biss sie sich auf die Zunge. Es war zu spät dafür, seine Entscheidung gefällt und ihr Versprechen gegeben.
Zum ersten Mal, seit er ihr von seinem Vorhaben erzählt hatte, schaute die Kaiserliche ihren Geliebten wieder an. Auf wenige Handbreiten Abstand gegangen, blickte sie ihm ins von dunklem Haar eingerahmte Gesicht. Die Sterne und die kurz vor Halbmond stehenden, zunehmenden Monde warfen silbernes Licht auf sein Antlitz. Die lange, dünne Narbe in der linken Gesichtshälfte zeichnete sich als etwas dunklerer Strich ab. Zaghaft und gequält versuchte er ihr ein Lächeln zu schenken. Mit den kraftvollen Händen strich er ihr einige Strähnen hinter die Ohren und wischte mit den Daumen die Tränen unter ihren Augen von den Wangen. „Lass uns einen Moment nicht mehr daran denken. Du weißt, dass ich Dich nicht hier zurücklassen würde, wenn ich es nicht für absolut notwendig befinden würde. Und ich würde mich freuen, wenn Du mir auch dieses Mal das Vertrauen schenkst, das Du auch sonst in mich hast.“ Sein schmales Lächeln gewann an Kraft und Aufrichtigkeit, als würde er sich all ihrer gemeinsamen Momente erinnern während er sprach.
Die Jägerin legte ihre Linke auf seine Rechte, die noch immer an ihrem Gesicht ruhte und schob sie näher an ihren Mund heran. Ohne die Augen von seinen zu nehmen, küsste sie ihn auf den Handballen und legte seine Hand von ihrer Umklammert in ihren Schoß. „Danke“, wisperte er. Unfähig zu sprechen, mit einem dicken Kloß im Hals, und zahllosen Tränen, die ihr über die Haut perlten, schaute sie ihn an. Im zuliebe versuchte sie sich an einem Lächeln, scheiterte aber vorerst. „Noch bin ich hier und ich werde nicht lange fort bleiben“, versuchte er sie aufzumuntern und legte seine Hand auf ihre Hüfte. Kurz warf er einen Blick hinauf zum Himmel und zu den beiden Monden. „Lass uns die Nacht noch ein bisschen genießen und Dich auf andere Gedanken bringen, ja?“ Er schaute sie wieder ein und trug ein schmales Grinsen auf den Lippen, das seinen festen Zügen etwas Raubtierhaftes, Herausforderndes verlieh. Seine Augen durchbrachen dieses Bild jedoch wie Risse ein altes Gemälde. In ihnen spiegelte sich etwas, dass nichts mit der verlangenden Selbstsicherheit seiner Mimik gemeinsam hatte. Sie glitzerten feucht und wirkten auch für die silberne Dunkelheit der Nacht unnatürlich geweitet. Angst schimmerte in ihnen, wie in den Augen eines erlegten Tieres kurz bevor es starb.
„Ich weiß nicht …“ Eigentlich wollte sie lieber noch eine Weile ruhig in seiner Nähe verbringen, seinen Duft, seine Wärme und das Gefühl der Geborgenheit in sich aufsaugen, bevor er aufbrach. Vesana wollte das Gefühl verdrängen, dass sie ihn so schnell nicht wiedersehen würde. Andererseits hatte Darius wieder einmal Recht, dass es verschwendete Zeit war und sie sie lieber noch etwas genießen sollten. Zumal auch er wohl noch etwas Ablenkung gebrauchen mochte.
Ohne ein Wort zu sagen, beugte er sich vor, küsste sie auf den Mund und drängte sie verlangend zu Boden. Während sich ein überraschtes Quieken ihrer Kehle entwand fixierte er ihre Hände an den Handgelenken im kühlen, feuchten Gras neben ihrem Haupt. Er löste sich nicht von ihren Lippen während er sich gänzlich über sie schob und verhinderte, dass sie sich befreien konnte. Jeden der immer schneller werdenden Herzschläge, den die beiden so verbrachten, trockneten die Tränen der Kaiserlichen weiter aus und sie begann die wilde Zärtlichkeit zu erwidern. Die Augen geschlossen spürte sie, wie es ein breites Lächeln auf die groben Lippen ihres Liebsten zauberte und wie es sie mitriss.
In einer schnellen, eleganten Bewegung zog Vesa die Beine an, drückte sie von unten gegen Darius‘ Oberkörper und schob ihn von sich. Überrumpelt keuchend fiel er zur Seite von ihr hinunter. Schnell rollte sie sich hinüber und kniete nun direkt über ihm, auf seinem Bauch sitzend und seine Hände fixierte sie, indem sie ihre Finger mit den seinen verschränkter. „Darius Gallean, Ihr habt gelegentlich höchst kuriose Anwandlungen“, tadelte sie ihn und blickte auf ihn hinab. Noch im selben Augenblick begann er jedoch zu lachen und sie entblößte die Zähne in einem breiten Grinsen.
„Mag sein, Fräulein Calvianus.“ Unvermittelt zog er ihre eine Hand so zurecht, dass er mit den Fingern der anderen Hand trotz deren Verschränkung mit ihren eigenen ihr Handgelenk zu fassen bekam. So fixiert befreite er sich schließlich teilweise und nutzte die nun freie Linke, um hier in den Bauch zu kneifen. Sofort zuckte Vesana und wand sich, um seinen kraftvollen Fingern und ihrer kitzelnden Gefahr zu entgehen.
„Lass das!“, forderte sie, doch anstatt zu gehorchen setzte er sich auf und warf sie auf den Rücken. Zwar befreite die Jäger währenddessen ihre Hände, aber gegen seine viel kräftigeren Arme konnte sie sich nicht erwehren und so rollte sie an den Beinen auf den Boden gepresst von der Hüfte aufwärts hin und her, quiekend und kichernd wie irgendein Kind, das von seinem Bruder ausgekitzelt wurde. „Hör … auf!“, forderte sie in den Momenten, in denen sie einmal kurz Luft holen konnte.
„Nein“, lachte er. „Niemals!“ Während sie sich durch das Gras wälzte, begann irgendwann ihr Bauch zu schmerzen und die Lungen brannten, aber nicht unangenehm. Wäre es nicht Nacht gewesen und hätte Darius ihre Tunika hochgeschoben, ihre Haut hätte wohl feuerrot geschimmert. Aber zum Glück kitzelte er sie noch durch den Stoff, was den Effekt wenigstens geringfügig abmilderte.
Das änderte sich jedoch im nächsten Moment. „Darius, nein!“ Allerdings war es schon zu spät. Seine Hände schob er unter ihre Tunika und zwickte sie auf Höhe des Nabels quer über den Bauch. Durch den Stoff geschützt bekam sie seine Arme nun noch weniger zu fassen und ihre Gegenwehr erstarb zunehmend, während sie immer weniger Luft bekam und sich krümmte und wand wie ein kleiner Regenwurm an der Erdoberfläche. Während ihr Geliebter lachend seine teuflische Folter fortsetzte, glitt Vesanas Blick über den nächtlichen Himmel und blieb an den kaum noch sichelförmigen Monden hängen. Ein tiefes Knurren rollte ihren Hals hinauf und Darius brach für einen Moment ab, bevor er lachend nach hinten umfiel und sich im Gras krümmte.
Unteressen hievte sich die Jägerin auf die Füße und hielt sich den Bauch, während sie in Richtung See flüchtete. „He! Nicht weglaufen! Ich bin noch nicht fertig!“, rief ihr der kräftigere Kaiserliche hinterher, doch sie hörte nicht. Im Laufen zerrte sie sich ihre Tunika über das Haupt vom Leib und eilte platschend in die schwarzen Fluten des Ilinalta-Sees. Als ihr das Wasser bis über die Knie reichte, tauchte Vesa in einem flachen Kopfsprung in die Fluten ab. Die Kälte des Wassers kroch ihr schnell unter die Haut und begann bereits zu zwicken, noch bevor sie überhaupt wieder aufgetaucht war. Sie zögerte dies aber ohnehin noch etwas hinaus und gab sich stattdessen dem silbernen Schein hin, der sich an der Wasseroberfläche über ihr in den zahlreichen kleinen Wellen brach.
Das Knacken der sich verschiebenden, ausdehnenden Knochen klang von den Fluten gedämpft nur wie etwas lauteres Rauschen der Wassermassen. Dafür verschwand die Kälte, als ihre Haut sich verfestigte und dunkles Fell hervorwuchs. Außerdem klarte sich ihre Umgebung allmählich auf und ihr Herzschlag hallte mit einem Mal laut und aufgeregt in ihren Ohren wider, als schließlich auch ihre Sinne an Sensitivität gewannen.
Die Wölfin tauchte einen Moment länger unter der Oberfläche zurück in Richtung Ufer, allerdings etwas abseits der Stelle, wo sie zuvor in den Fluten verschwunden war. Langsam und leise schälte sie sich aus dem Wasser, bis sie Darius entdeckte der ratlos in der Nacht stand. „Vesa?“, rief er. Ein wenig sorgenvoll schien er ihr schon zu sein, was sie dazu veranlasste die Lefzen in einem animalischen Grinsen zurückzuziehen. Leise knurrte sie und verließ das Wasser lautlos. Mit trockenem, festem Boden unter den Füßen beschleunigte die Kaiserliche drastisch. „Vesa, wo bi-“, Darius brach ab, als sie ihn ansprang und zu Boden riss. Es mochte für einen Außenstehenden sicherlich gefährlich und aggressiv wirken, doch es handelte sich vielmehr um eine Geste der Zuneigung, denn kaum lag er im Gras schleckte sie ihm quer über das Gesicht. „So ist das also!“, stieß er aus und versenkte seine Finger im Fell hinter ihren Ohren.
Mit kreisenden Bewegungen massierte er sie dort. Die Augen geschlossen hielt sie regungslos über ihrem Liebsten inne, tropfte ihn nur von Kopf bis Fuß voll, genoss ansonsten aber seine Zärtlichkeit. Ihr Herz raste und sämtliche Kälte schien wie weggeblasen. Stattdessen wurde ihr regelrecht heiß. Doch sehr lange hielt sie nicht aus. Ruckartig sprang sie von ihm hinunter und rollte sich in einigen Schritten Entfernung ab. Dort wandte sie sich Darius zu und wedelte auf allen Vieren mit dem buschigen Schwanz hin und her wie ein Hund der darauf wartete, dass sein Herrchen den Stock ein weiteres Mal warf. Der Kaiserliche lachte, als er sich aufrichtete und sie anschaute. Provozierend knurrte die Wölfin ihn an, ruckte kurz näher an ihn heran, schnappte mit den Kiefern und sprang dann wieder zurück. „Schon gut, ich habe begriffen!“, lachte der ziemlich nass gewordene Mann und begann damit den Gürtel um seine Tunika zu lösen.
Sie beobachtete ihn dabei, wie er sich vollständig entkleidete. Seinen kraftvollen, muskulösen Körper in all seinen hellen Graustufen musternd, glitten ihre wachen Augen von dem bärtigen Gesicht über seine breiten Schultern und die Brust mit der langen Narbe vom rechten Schlüsselbein bis quer hinab zum Herzen. Es schloss sich der stramme Bauch an und bevor ihre Augen mit verlangendem Forscherdrang, begleitet von rolligem Knurren, weiter an ihm hinabgleiten konnten, begann er mit seiner Transformation. Fasziniert blieb ihr Blick auf ihm haften, während sich Darius krümmte und sich seine Proportionen verschoben. Seine Haut dunkelte ab, dunkler noch als ihre eigene, das Fell kohlrabenschwarz und die Augen leuchtendgelb mit einem Schimmer von Nussbraun an den Rändern. Er überragte sie wie auch als Mensch etwa um einen halben Kopf und als die Muskelspasmen schließlich abklangen, kam er langsam zu ihr hinüber.
Vesana überwand ihre Starre im Anblick seiner imposanten Wolfsform und sprang ihn an. Knurrend und sich durchs Fell schleckend rollten die beiden Werwölfe über die Wiese wie ein einziges Knäul als Armen und Beinen. Erst als sie im Wasser des Sees landeten lösten sie sich. Kurz voreinander stehend war es Darius, der sich zuerst wieder in Bewegung setzte und auf den nahen Wald am Rand der freien Wiesenfläche am Ufer zu spurtete. Die Kaiserliche folgte ihm und holte schnell auf.
Kopf an Kopf hasteten sie durch den dichten Wald, sprangen auf größere Felsen, nutzten Bäume um sich weiter vorwärts zu katapultieren und ignorierten niedrige Zweige und kleinere Tiere, die in ihrer Nachtruhe gestört erschrocken das Weite suchten. Erst ein großer Hirsch zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, nachdem sie bereits einige Rehe links liegen gelassen hatten. Darius und Vesana kreisten ihn im Unterholz als lautloser Tod ein und ohne, dass es eines Signals bedurfte, sprangen sie das prächtige Tier gleichzeitig an. Während einer von ihnen ausgereicht hätte, um ihn umzuwerfen, hörte sie wie unter dem doppelten Druck die Rippen des Hirsches nachgaben, als er nicht einfach umfallen konnte.
Ihm fehlte die Kraft zum Heulen oder Schreien, während die Wölfe mit langen, ausgefahrenen Klauen in seinen Flanken hingen wie Zecken. Vesa ließ sich etwas nach unten rutschen, zog dabei tiefe Schnitte hinter sich her, und schnappte gleich darauf nach der Kehle ihrer Beute. Ihr Liebster versuchte diese stattdessen im Genick zu erwischen. Der Kampf dauerte nicht lange. Durch Blutverlust, Schmerz und das zusätzliche Gewicht geschwächt ging ihr Opfer in die Knie und schon im nächsten Moment versanken die scharfen Reißzähne der Wölfe in seinem Hals. Schnell machten sie sich über den noch warmen Kadaver her.
Ab und an schubsten sie sich gegenseitig zur Seite und knurrten sich an, nur um sich gleich darauf durch das Fell zu lecken oder an den spitzen Ohren zu knabbern. Ihre buschigen Schwänze rangen miteinander während sie nebeneinander auf allen Vieren stehend die Haut des Hirsches zerlegten, das Fleisch der Flanken unter sich aufteilen und gemeinsam die Rippen aus dem Weg zerrten. Darius wühlte sich als erster durch die Eingeweide und zog irgendetwas mit seiner blutverschmierten Schnauze aus dem entstellten Körper. Vesa erkannte es als das große, kraftvolle Herz ihrer Beute. Der Kaiserliche ließ es fallen und zog sich einen Schritt zurück, während sie ihn beobachtete. Kurz stupste er den noch zuckenden Muskel mit der Nase an und hielt das Haupt dann gesenkt. Eine regelrecht unterwürfige Geste. Aufgeregt knurrend und sich ihm direkt gegenüber mit einem schnellen Satz in Stellung bringend, schlug die Wölfin dann ihre Fänge in die Lebenspumpe und schlang sie hinab.
Gleich darauf sprang sie Darius an, riss ihn zu Boden und kugelte mit ihm durch das Unterholz, heulend und sich gegeneinander reibend. Sie lösten sich aber bald wieder voneinander und rannten abermals los. Die Nacht war jung, ihr Appetit groß und die Zeit knapp.
Leises Rascheln veranlasste Vesana dazu, die Augen zu öffnen. Von einer molligen Wolldecke bedeckt und die Haare wild über Gesicht und Nachtlager aus zahlreichen neben- und übereinanderliegenden Tierfellen verteilt, holte sie in einem langgezogenen Seufzen Luft. „Entschuldige, ich wollte Dich nicht wecken.“ Darius dämpfte seine Stimme, als wolle er das komfortable Halbdunkel ihres Schlafraumes nicht vertreiben.
Die Kaiserliche ordnete ihr Haar mit einigen Handstrichen soweit, dass es ihr wenigstens nicht mehr ins Gesicht fiel und setzte sich auf. Die Decke legte sie sich um die nackten Schultern und wickelte sie um die angezogenen Beine. „Wie spät ist es?“, fragte Vesa und rieb sich den Schlafsand aus den Augen.
„Früher Morgen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, braucht aber sicher nicht mehr lange.“ Ihre Augen wanderten über den Leib ihres Geliebten, mit dem die Jägerin in der letzten Nacht noch einmal eine intensive und befreiende Zeit verbracht hatte, stellten aber mit stillem Bedauern fest, dass er bereits Hose, Stiefel, Tunika und leichte Lederrüstung trug. Sofort verkrampften sich ihre Eingeweide und es fühlte sich an, als wich ihr sämtliche Farbe aus der Haut.
Darius verstaute gerade noch ein Paar Handschuhe in einem Felleisen, bevor er erneut zu ihr aufschaute und mit gesenkten Augenbrauen ihren wohl entglittenen Gesichtsausdruck bemerkte. Langsam setzte er sich vor sie auf die vielen Lagen Felle, mit denen sie die hintere Hälfte einer Kammer in ihrem beschlagnahmten Blockhaus wadenhoch ausgelegt und so eine echte Spielwiese geschaffen hatten. Im spärlichen Morgenlicht, das durch ein winziges Fenster oberhalb der Nachtstatt ins Innere fiel, wirkte Darius ausgesprochen trübsinnig, seine dunklen Augen nahezu unergründlich. Falten zeichneten seine Stirn, die Kiefermuskulatur wirkte angespannt und die Nasenflügel waren geweitet. Es war unverkennbar, dass ihm der Abschied nicht gefiel, er sich aber gleichzeitig verpflichtet fühlte aufzubrechen und sie hier zu lassen. Die Pflicht seinem Bruder gegenüber trieb ihn an, während jene Vesa gegenüber ihn zum Bleiben zu bewegen suchte.
Er strich ihr eine Strähne hinters Ohr und beugte sich vor sie zu küssen. Zwar erwiderte sie die Geste, doch es fiel ihr schwer, dem nachzugeben. Mit den freien Händen versuchte sie ihn festzuhalten, als er sich von ihr löste und ihr ein trauriges Lächeln schenkte, doch fehlte ihren Fingern die Kraft. Seine Augen wirkten schmerzerfüllt, während sein Mund Zuversicht zu signalisieren versuchte. Im nächsten Moment griff sich der Kaiserliche in den Nacken und streifte eine glitzernde Halskette von sich, an der ein Amulett in der Form eines Hirschkopfes baumelte. In einer fließenden Bewegung beugte er sich abermals vor, seine Lippen streiften ihre Stirn, und legte ihr den Talisman um. Vesanas Lippen bebten unkontrolliert und sie spürte abermals das salzige Brennen von Tränen in ihren Augen. „Den will ich wiederhaben“, flüsterte Darius und schaffte es diesmal ein Lächeln voll Hingabe und Zuneigung zustande zu bringen. Zwar vermochte es nicht seine eigene Sorge und das Bedauern gänzlich zu vertuschen, aber er schien nun wieder gefasster. Die Befürchtung, dass er ihr sein Familienamulett womöglich nur deswegen gab, damit es im Ernstfall nicht in einer Schatztruhe der Hand verstaubte, und nicht als Versprechen wiederzukehren, versuchte sie möglichst tief in eine dunkle Ecke ihres Verstandes zu drängen. Aber die Eiseskälte, die sie mit diesem Gedanken verband, sandte dennoch unangenehme Stiche durch ihren Bauch.
„Geh‘ nicht!“, flehte Vesana mit so stark zitternder Stimme, dass es schien als würde sie jeden Augenblick zerspringen wie Glas.
„Ich muss. Aber ich verspreche Dir, dass sie mich nicht kriegen werden und wir uns bald wiedersehen.“ Damit erhob er sich und schulterte den Tornister, an dem außen je ein Bogen, Köcher und Schwert hingen. Die Züge des Kaiserlichen mit den schwarzen Haaren im Linksscheitel und dem gepflegten Kantenbart verschwammen vor ihren Augen, als die ersten Perlen ihre Wangen hinabrannen.
„Nein, bleib!“, rief sie ihm nach, als er durch die Tür verschwand und sie im Halbdunkel wie eingefroren allein zurückblieb. Er hörte nicht, schloss die Eingangstür des kleinen Hauses und war fort.
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Geändert von Bahaar (19.04.2014 um 15:47 Uhr)
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Das Wetter hatte sich am nächsten Morgen nicht gebessert und so kämpften sich die beiden Frauen weiter durch die widrigen Bedingungen Richtung Norden und näher an die Wälder heran. Aufgrund des Mangels an menschlicher Beute schlug sich der Hunger stärker auf Vesanas Befinden nieder und die tobende Bestie in ihr schien sich einen Weg aus ihrem Innern nach außen graben zu wollen – zumindest fühlte sich das Hämmern und Ziehen in ihrem Schädel und das Krampfen des Magens so an. Entsprechend anstrengend empfand es die Kaiserliche mit Aela schrittzuhalten, die augenscheinlich weniger stark unter dem bevorstehenden Vollmond zu leiden schien. Noch dazu hallten die Bilder der letzten Nacht, die wie in Trance die Jagd überlagert hatten, noch immer vor ihrem inneren Auge wider – eine Last, die die Nord sicherlich nicht verspürte.
„Sollen wir eine Pause einlegen?“, fragte die Rohaarige, nachdem sie einen Moment lang gewartet hatte, um Vesana aufschließen zu lassen.
„Lieber nicht“, entgegnete diese zähneknirschend. Obwohl die bloßen Erschütterungen ihrer Schritte immer wieder heftige Stiche durch ihren Kopf jagten, war das immer noch besser als in einem Moment der Ruhe nichts zu haben, um sich zur Ablenkung mit den Gedanken daran festzuhalten – und wenn es nur der nächste Schritt war. Würde sie sich setzen, das Biest in ihr mochte vor Hunger und Fresssucht losbrechen. Der Gedanke behagte Vesa keineswegs.
„Wie Du willst.“ Aela nickte nur und lief weiter. „Bei der Geschwindigkeit schaffen wir es ohnehin nicht mehr bis zu den Wäldern, allenfalls den vorgelagerten Ausläufen, daher würde eine Rast auch keinen Unterschied mehr machen.“
„Danke, aber eine Pause würde mir gerade nicht gut bekommen.“ Aela wandte ihr im Gehen kurz den Blick zu, musterte sie und nickte dann verstehend, bevor sie sich wieder nach vorne wandte. Wenn die Kaiserliche so aussah, wie sie sich fühlte – von Übelkeit und Kopfschmerz verzehrt – dann musste sie kreidebleich sein und rotstarrend-gereizte Augen haben.
„Es sollte nicht mehr sehr weit sein, bis wir die ersten vorgelagerten Wäldchen erreichen. Vielleicht sollten wir doch nicht ganz so weit ziehen und dafür länger jagen. Sicher sind wir hier allemal“, überlegte die Nord laut. An sich keine schlechte Idee und die Vesana merkte, wie die Bestie in ihr freudig tobte. Der die Blitze durch das Haupt ließen vorübergehend geringfügig nach, als ob ihr die Wölfin die Möglichkeit geben wollte, schneller ans Ziel zu gelangen, damit für sie auch mehr Zeit zum Jagen übrig blieb.
„Das entscheidend wir, wenn wir dort sind“, bemühte sich die Kaiserliche um Vernunft und erhielt einen heftigen Stich durch die Schläfe zum Dank. Leise stöhnend verzog sie das Gesicht und presste die Hand an die Kopfseite.
Es dauerte letztlich nicht allzu lange, bis sich eine Baumgruppe unweit vor ihnen aus dem grauen Schleier des anhaltenden Regens schälte. Groß genug, um Schutz vor Wind und Wetter zu bieten, aber dennoch kaum mehr als eine grüne Insel im Braun des herbstlichen Tundragrases. Die beiden Frauen schlugen sich einen Weg ins Innere und fanden sich zwischen den im unteren Bereich kahlen Stämmen der mittig liegenden, hohen Nadelbäume. Zwar tropfte durch den kontinuierlichen Guss noch reichlich Wasser durch das von unten dicht wirkende Dach, aber immerhin waren sie aus dem direkten Regen hinaus und konnten sich etwas entspannen. Für ihre Zelte wäre reichlich Platz auf dem ebenen, von alten Nadeln und Zweigen übersäten Boden. Die Bäume formten regelrecht eine Art Grotte, in der nur gelegentlich ein kleiner Busch oder überhaupt etwas wuchs, erfüllt vom Geruch feuchter Moose und Nadeln, ebenso wie Harz und nassem Holz. Eine bittere Mischung, die sich gut in die nasse Kälte der Luft einfügte, als gehörten sie zusammen. Ein unangenehmer Schauer rann ihr an der Wirbelsäule hinab und sie schüttelte sich kurz, um ihn loszuwerden.
„Wenn Du mich fragst, Vesa, ist das hier perfekt.“
„Hmhmm.“ Sie ließ ihren Tornister von den Schultern rutschen. Sie setzte sich auf das Gepäck, schob die Kapuze nach hinten vom Kopf und nahm das Gesicht in die Hände. Tief Luft holend versuchte sie mit der Dunkelheit der beschattenden Hände die brennenden Augen etwas zu beruhigen.
„Ich sehe mich mal noch etwas um.“
Die Kaiserliche ließ ihre Hände sinken und stemmte sich hoch. „Ich auch.“
„Sehr gut. Du dort drüben“, Aela wies gen Süden und Westen, „ich dort“, und zeigte nach Osten und Norden.
„In Ordnung.“ Damit trennten sich die beiden Frauen. Vesa schulterte noch schnell ihr Schwert und den Bogen, dann machte sie sich daran die pflanzliche Grotte und ihre Randgebiete zu erkunden. Außer reichlich vielen, allerdings ungenießbaren Pilzen in der Nähe einiger umgestürzter, alter Bäume und ein paar Büsche an Stellen, wo das Dach lichter war, schien hier kaum etwas zu wachsen. Tiere schienen sich noch nicht hier her zurückgezogen zu haben, aber es war auch längst noch nicht Abend, so dass sich dieser fast schon unheimlich stille Umstand noch ändern mochte. Einige Efeuranken, allerdings längst verdorrt und abgestorben, hielten noch immer die Stämme einiger hoher Fichten näher am westlichen Rand umschlossen.
Allerdings umschlangen sie nicht nur die kräftigen Säulen der natürlichen Höhle, sondern auch noch einige größere, schwarze Steine, die zum Teil auch vom dichteren Unterholz des Waldrandes verhüllt wurden. Interessiert und zugleich allmählich etwas beunruhigt, wandte sich Vesana diesen zu. Langsam kniete sie sich neben einen der schwarzen, irgendwie deplatzierten Felsen und befreite ihn vom gierigen Griff der Ranken. Grobe, vom Wetter ausgewaschene Muster aus geschwungenen, ineinander verdrehten Gravuren zeichneten sich dort ob. Vorsichtig fuhr die mit dem Finger durch die Furchen, rieb etwas Erde heraus und befreite anschließend eine größere Fläche. Sie kannte die Steine, oder wusste zumindest, was sie bedeuteten und als sie sich erneut umsah, entdeckte sie noch eine ganze Reihe größerer Steine, die sich verteilt wie dunkle Mahnmale als Schatten zwischen den Zweigen des dichten Unterholzes abhoben. Drohend und wie rastlose Geister, denen sie eigentlich Ruhe verschaffen sollten, lauerten sie um undurchsichtigen Dickicht, als wären sie dafür verantwortlich, dass kaum etwas in diesem kleinen Wäldchen lebte.
Beunruhigt und mit unregelmäßig schlagendem Herzen erhob sich Vesa. „Aela“, zischte sie in die feuchtkalte Nachmittagsluft, die mit einem Mal abgestanden zwischen den Bäumen festzuhängen schien, wie ein Leichentuch über dem Grab, auf dem sie stand. „Aela!“, wiederholte sie etwas lauter.
„Vesa!“, kam es vom nördlichen Rand zurück, aber nicht als wäre es eine Antwort. „Vesa, komm her!“ Die Kaiserliche setzte sich in Bewegung und die Aufregung in ihren Adern verdrängte für den Moment die Kopfschmerzen und Magenkrämpfe in eine dunkle Ecke ihres Verstandes. Behände und flink folgte sie dem Ruf ihrer Gefährtin. Die Nord brauch einige Dutzend Schritte vor ihr aus dem Unterholz und hielt an. Der Ausdruck von Besorgnis – weit geöffnete Augen und der leicht offen stehende Mund – verriet Vesana bereits, dass ihre Befürchtung wahr war. „Ich glaube nicht, dass wir hier bleiben sollten. Wir befinden uns auf den Au-“, doch weiter kam sie nicht. Die Kaiserliche verlor plötzlich das Gleichgewicht, als sie auf weichen Grund trat. Sie versank bis zum Knöchel im lockeren Nadelteppich und blieb an einer dünnen Wurzel hängen, die zwar nachgab, aber dennoch wie eine Fußfessel wirkte. Erschrocken vollführte ihr Herz einen hektischen Satz und sandte einen Stich durch ihre Brust, der ihr kurzweilig die Konzentration raubte. Reflexartig hob sie die Hände, doch es nützte nichts. Anstatt brauchlinks auf dem Untergrund zu landen, versanken ihre Arme bis zu dem Schultern im Erdreich und ihr Oberkörper folgte. Die Wurzel zog an ihrem Fuß, doch vermochte sie nicht ihr Gewicht zu halten. Mit einem spitzen Schrei des Schreckens verschwand Vesa in einem tiefen Loch, brach durch feines Wurzelgeflecht und wurde von größeren abgelenkt, schürfte über grobe Steine und wurde nur langsam gebremst.
Erst nach einigen ihr schier endlos erscheinenden Augenblicken des Fallens begann die Wurzel um ihren Fuß sie doch noch zu bremsen, nicht sanft jedoch, sondern schlagartig, dass es ihr Hüftgelenk schmerzhaft knirschen lies und ihr einen weiteren Schrei entriss. Im spärlichen Licht, das von oberhalb zu ihr hinabfiel sah sie nur noch, wie sie auf eine Wand des von dicken Wurzeln gestützten, senkrechten Tunnels zu pendelte. Durchsetzt von groben Steinen gab es nichts, dass ihren Aufprall in seiner Wucht gebremst hätte, und so schloss sie kurz vor dem Aufprall mit die Augen …
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Geändert von Bahaar (02.05.2014 um 17:29 Uhr)
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Die Arme hingen taub und steif vom angestauten Blut nach unten. Der Kopf hämmerte, als würde Eorlund gerade ein Schwert darin schmieden und die Umgebung erschien ihr sowohl ton-, als auch formlos. Vesana blinzelte zwar, sah jedoch nichts. Sie glaubte Schemen zu erkennen, lange, drahtige Gebilde in dunklem Braun und mit feuchtem Glanz, doch verflüchtigten sie sich so schnell wieder, wie Schatten im Nebel. Wie ein Hirsch in der Brunft atmete sie schwer durch den Mund, die Nase verstopf ließ keine Luft hindurch. Bitteres Eisen hielt ihre Zunge und den Gaumen umschlungen, ließ ihre Kehle trocken wirken und erstickte jeden Laut noch bevor er entstehen konnte. An einigen Stellen ihres Körpers, von Kopf bis Fuß verteilt, brannte die Haut wie Feuer und einige heiße Tropfen rannen der Kaiserlichen über die Wangen ins Haar. Die kalte Luft, die ihr unter die hochgerutschte Jacke blies, spürte sie kaum und ließ sie nur gelegentlich schaudern. Das linke Bein spürte sie nicht, fühlte nur das unangenehme Ziehen in der Hüfte.
Wieder blinzelte die Kaiserliche und versuche mehr zu erkennen und sich zu erinnern, was passiert war. Während sich allmählich Rauschen auf ihre Ohren schlug, versuchte sie die gefühllosen Hände zu bewegen und sie so aus ihrem Schlummer zu befreien. Erfolglos. Das braune Geflecht um sie herum, aus teils dicken Streben, kam ihr in einem kurzen, klaren Moment, wie Wurzeln vor, doch das konnte unmöglich sein. Wieso sollte sie umgeben von Wurzeln sein? Hatte sie jemand begraben? Zwar fühlte sie sich gerade nicht besonders gut, aber tot war Vesa nun noch lange nicht.
Zorn stieg in ihr auf, ließ Aufregung durch ihre Adern pumpen und brachte etwas Gefühl in die Arme zurück, drängte das Rauschen in ihren Ohren zurück und machte Platz für neue Eindrücke. Während sie versuchte, mit den Händen einen der Lebensanker zu fassen zu bekommen, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie hing, kopfüber. Warum hing sie kopfüber in einem Wurzelloch? Inzwischen entwand sich ein leises, vom zunehmend heftiger werdenden Kopfschmerz gequältes Stöhnen ihrer Kehle. Das mit den Bewegungen der Arme abklingende Rauschen in ihren Ohren stammte somit auch nicht von Regen, wie sie es zunächst angenommen hatte, sondern von ihrem eigenen Blut, das ihr zu Kopf gestiegen war.
Gleichzeitig nahm sie etwas wahr, das entfernt an eine Stimme erinnerte. Weicher als das vergehende Tosen, wärmer als die feuchte Luft um sie herum. Mühsam versuchte Vesana zu erkennen, von wo die Klänge kamen, aber da sie sie nur undeutlich hörte, ließen sie sich nicht platzieren. Allerdings bemerkte sie das von oben einfallende, schummrige Licht. Dämmrig, wie spätnachmittägliche Sonnenstrahlen an einem bewölkten Tag. Vorsichtig versuchte sie den Oberkörper einzuknicken und dort hinauf zu schauen, doch die starke Bewegung schien auf einmal das taube, linke Bein zu wecken – etwas, dass die Jägerin sofort bereute. Ein weinerlich verzerrter, halb erstickter Schmerzensschrei riss sich los, als ihr dem Gefühl nach ein glühender Dolch in die Hüfte gestoßen und dann bis zum Knöchel durch ihr Glied gezogen wurde.
Gleichzeitig sorgte der Schmerz jedoch auch dafür, dass sie zu vollem Bewusstsein zurückkehrte. „Vesa! Hörst Du mich?“, vernahm sie nun die bekannte Stimme einer Frau von oben. Es war Aela, in Sorge. Auch die Erinnerungen kehrten zurück.
„Ja“, gab die Kaiserliche zurück, ihre Stimme rau wie ein Reibeisen.
„Verflucht, das wird aber auch Zeit!“
„Ich hänge fest“, überging Vesa den Tadel.
„Das sehe ich. Kannst Du Dich irgendwo hochziehen oder festhalten und die Wurzel durchschneiden?“ Sie versuchte, den Vorschlag umzusetzen und packte eine dicke Wurzel an. In der Tat half es ihr dabei, den Oberkörper wenigstens in die Waagerechte zu bringen, aber dann verschwand ihre Kletterhilfe im Erdreich.
„So müsste es gehen“, kommentierte Vesana aber dennoch und griff im selben Moment nach dem Schwert auf ihrem Rücken – und fasste ins Leere. Erschrocken machte ihr Herz einen Satz und sie merkte, wie sich ihre Augen weiteten. Etwas hektischer suchte sie auf ihrem Rücken nach der Waffe, fand sie jedoch nicht. Auch ihr Bogen schien zu fehlen. Lediglich drei Pfeile hatten sich im Köcher verkeilt und in dem Moment dämmerte ihr, wo sich der Rest befinden musste.
Vorsichtig schaute sie in den dunklen Abgrund und erblickte einige der langen Geschosse von feinerem Wurzelgeflecht aufgefangen etwa eine Mannshöhe unter sich. Der Bogen baumelte an einem etwas dickeren Lebensanker der Bäume und irgendwo im tiefsten Schwarz weiter unten blitzte etwas Metallisches auf. Ihr Schwert, wie sie nach angestrengtem Blinzeln erkannte. Wenigstens zwei Mannshöhen, vielleicht auch drei, trennten sie vom dem Ort, an dem die Waffe lag, mit der sie mühelos die sie am Fuß festhaltende Klammer hätte durchtrennen können. „Scheiße!“
„Was ist?“
„Ich habe meine Waffen verloren und komme nicht an die Wurzel heran.“ Zwar besaß sie noch einen langen Dolch am Gürtel, aber ihr Arm reichte aus dieser Position nicht bis zu ihrem Fuß und schon gar nicht, um die Wurzel zu durchtrennen.
„Kannst Du Dich nicht noch etwas hinaufziehen?“
Die Kaiserliche versuchte sich durch ruckartiges Anspannen der Bauchmuskulatur noch etwas weiter nach oben zu heben, aber es funktionierte nur kurzweilig und danach fing sie sich gerade so wieder an der dicken Lebensader des Baumes ab, die sie noch immer fest umklammert hielt. „Das könnte böse enden …“, murmelte sie und zog den Dolch. Jedes Mal, das sie sich für einen Moment weiter hob, hieb sie mit der scharfen Klinge auf ihre Fessel ein. Manchmal verfehlte sie die Stelle, auf die sie zuvor eingeschlagen hatte, aber stückchenweise durchtrennte sie das feuchte, flexible Holz. Irgendwann überstieg ihr Körpergewicht die verbleibende Tragkraft und die Wurzel riss.
Überrascht aufschreiend versuchte sich Vesana an ihre Kletterhilfe zu klammern, doch die inzwischen ermüdeten Finger schafften es nicht, sich an der feuchten, rutschigen Oberfläche festzuhalten. Wieder fiel sie, blieb an größeren Baumankern hängen, die ihr die Luft aus den Lungen trieben und ihren Schrei zum Schweigen brachten. Manche wirbelten sie herum, an andere, feinere bremsten ihren Fall. Aber nichts von alledem verhinderte, dass sie heftig auf dem kalten Steinhaufen direkt neben ihrem Schwert landete. Die blutarmen, kraftlosen Beine vermochten nicht, sie zu tragen und so prallte sie seitlich nahezu ungehemmt auf.
Für einen kurzen Moment wurde es abermals schwarz vor ihren Augen, doch die kraftvolle Stimme Aelas, in der eine nicht zu unterschätzende Menge an Sorge mitschwang, half ihr zurück in die Realität – zumindest teilweise. Schwindelig, von den Schlägen gegen ihr Haupt desorientiert und wegen der Kopfschmerzen kaum in der Lage, sich zu konzentrieren, blickte sie hinauf ins Licht des sterbenden Tages.
„Vesa, alles in Ordnung?“
„Ich … ich bin … unten“, gab sie zurück und schaute sich erstmals genauer um. Nicht, dass sie viel erkannte, aber zumindest sah sie, dass der von den Wurzeln gestützte Tunnel oberhalb einer unterirdischen Konstruktion lag. Überhaupt, die Unebenheit des Untergrunds, auf dem sie lag, die sich bewegenden, teils glattbearbeiteten Steine und die Tatsache, dass es an zwei Seiten in pechschwarze Finsternis untertage weiterzuführen schien, bestätigten nur noch, was sie vor ihrem Sturz schon angenommen hatte: Sie befand sich nun in einem teilweise eingestürzten Tunnel eines alten Hügelgrabes. Die gravierten Steine und auch Aelas Rufe, es passte alles zusammen.
„Was siehst Du?“
„Nicht viel. Scheint ein Tunnel zu sein.“ Vorsichtig setzte sie sich auf und lehnte sich gegen die nahe Wand. Ihr Schwert nahm sie auf und steckte den Dolch, den sie noch immer umklammert hielt, zurück in seine Scheide.
„Hör zu, Vesa. Kannst Du hinaufklettern?“ Vorsichtig bewegte die Kaiserliche die Beine, oder versuchte es zumindest. Das Rechte schmerzte und hämmerte, beim Linken war sie sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt noch existierte. Alles unterhalb des Knies fühlte sie nicht mehr und der Oberschenkel brannte, als wäre er mit flüssigem Eisen ausgefüllt.
„Nein.“ Sie hörte nur entfernt etwas, das sich wie ein Fluch anhörte. Während sie darauf wartete, was die Nord erwiderte, sammelte die Kaiserliche sämtliche Pfeile ein, die sie aus dem Sitzen erreichte und die sie nicht bei ihrer Landung zerbrochen hatte. Es waren nicht gerade viele.
„Denkst Du, Du kannst da unten aushalten?“
Vesana schaute sich um, sah jedoch nichts in der Finsternis und vernahm auch keinen Laut, außer dem leichten Rauschen ihres eigenen Blutes in den Ohren und ihr tiefes Atmen. Einzig der modrige, abgestandene Geruch bereitete ihr Unbehagen, aber an den mochte sie sich vielleicht zeitweilig gewöhnen können. „Ich denke schon, wenn ich Proviant und eine Decke habe“, gab sie also zurück und bemerkte erst jetzt, wie ihre Stimme unangenehm laut durch die Dunkelheit ihrer Umgebung hallte – in unbestimmte Ferne untertage und zu ihr zurück. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie schüttelte sich.
„Gehe etwas zur Seite, dann versuche ich, Dein Felleisen hinabzuwerfen.“ Sie tat, wie ihr geheißen und schleifte sich an den äußeren Rand des Lochs, das in der Decke des eingefallenen Tunnels klaffte. Irgendwo zwischen acht und zehn Mannsgrößen über ihr mochte nun Aela zu ihrem Gepäck eilen und es in Kürze zu ihr bringen, in der Hoffnung, dass es nicht auch an einigen der Wurzeln hängen blieb.
„Vesa?“
„Ja?“
„Bereit?“
„Ja.“
Im nächsten Moment vernahm sie das stumpfe Ächzen von nassem Holz und hörte das Ziehen, als dünnere Wurzeln unter der Last aus dem Erdreich gerissen wurden. Kaum einen Augenblick später krachte ihr Tornister auf den teilweise mit Erde und Nadeln bedeckten Trümmerhaufen. Der Aufschlag hämmerte laut und unangenehm durch den Tunnel, ließ Vesana in sich zusammenfahren und reflexartig in die Umgebung lauschen. Aber es schien alles gut gegangen zu sein. Die Nord hatte den zweiten Köcher mit der Klappe des Felleisens abgedeckt, um zu verhindern, dass die Pfeile hinaus fallen konnten, und eine der Laternen baumelte außen am Gepäck, allerdings ohne die Glasscheiben, um wenigstens die Halterung intakt zu lassen und einen einfachen Transport der Kerze darin zu ermöglichen, wenn sie brannte.
„Ich werde Hilfe holen“, rief Aela von oben hinab.
„In Ordnung, ich warte hier“, erwiderte die Kaiserliche. „Nicht, dass ich etwas anderes tun könnte“, sprach sie zu sich selbst. „Beeil Dich!“, setzte sie aber noch einmal lauter nach. Aber selbst wenn sie es schafft, die Tage um Vollmond auf Wanderschaft zu verbringen, wenigstens drei Tage musste Vesana in ihrem dunklen Gefängnis ausharren, allein.
„Mache ich. Halt durch.“
„Ich geb‘ mir Mühe“, murmelte sie. Damit blieb die Kaiserliche auf sich gestellt zurück.
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Geändert von Bahaar (10.05.2014 um 13:10 Uhr)
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Nun saß sie also allein in der Dunkelheit, nur spärlich von oben durch das rasch schwindende Licht des regnerischen Tages beschienen. Aela war noch nicht lange fort und dennoch erschien es Vesana in ihrem düsteren Loch bereits wie eine Ewigkeit. Um sich wenigstens etwas von der erdrückenden Stille abzulenken, kratzte sie sich bereits die Reste des geronnenen Blutes in ihrer Nase heraus, die sich während ihres zweiten Sturzes noch nicht gelöst hatten. Aber auch das schaffte nur kurzweilige Abhilfe und machte obendrein den Weg für die abgestandene Luft der Umgebung noch freier, als er schon war. Der Schwall ekelerregender Fäulnis ließ sie einen Moment lang würgen, bevor sie sich von der Stärke des Geruchs überrumpelt wieder unter Kontrolle brachte.
Da es nichts half, sich in den Widrigkeiten ihrer Umgebung zu verlieren, rutschte Vesa stattdessen etwas näher an ihr Felleisen heran. Zunächst Köcher und entglaste, etwas verbogene Laterne beiseitelegend, fing sie kurz darauf an, im Gepäck herumzukramen und nach dem Beutel mit den zwei Steinsplittern von Solstheim zu suchen. Während sie sich durch ihre Sachen wühlte, vorbei an der Schlafunterlage und der Zeltplane, den medizinischen Utensilien, ihren Jagdmessern und dem Proviant, ärgerte sie sich nun erst richtig, dass sie ihr Seil nicht mitgenommen hatte. Wer sich in der Tundra des Fürstentums einigermaßen gut auskannte, wusste, dass es keine gefährlichen Spalten und Klippen gab, wie auch Solstheim. Es wäre also nur Ballast gewesen. Niemand hätte damit rechnen können, plötzlich in ein dunkles, stinkendes Loch zu fallen. Andererseits ärgerte sich die Kaiserliche umso mehr über ihre eigene Trägheit und die fast schon überhebliche Einschätzung ihrer und Aelas Kenntnisse der Gegend, die sie zuvor schon bei den Nord auf der Insel angeprangert hatte, weil sie deshalb nicht optimal für alle Möglichkeiten des Fehlschlags ausgestattet waren. Ihre Sorgfalt musste sich definitiv wieder verbessern – den Mangel nur auf ihr Vollmondleiden zu schieben, ließ sie sich selbst nicht gelten.
Wenigstens dehnte sich durch die geringfügigen Bewegungen ihres Körpers während der Suche im Tornister das Brennen und Pochen in ihrem linken Bein aus. Obwohl es ihr ein mühseliges Stöhnen entriss und sie sich vorübergehend auf die eigene Hand beißen musste, um es zu unterdrücken, sorgte es für freudig-aufgeregtes Springen ihres Herzens und nervöses Kribbeln im Bauch. Wie es schien, kehrte allmählich Gefühl in das zuvor knieabwärts völlig Taube Glied zurück. Es würde sich zwar erst noch zeigen, wie schwer verletzt es war, aber vielleicht klang das Brennen irgendwann auch wieder ab, so wie es im rechten Bein bereits etwas nachzulassen begann. Die überwiegende Ruhe und die nur langsamen, belastungslosen Bewegungen schienen das Trauma zu kurieren.
In dem Moment fand Vesana schließlich auch den kleinen Beutel mit den Steinsplittern und zog ihn heraus. Schon durch das Leder spürte sie die Wärme Felsstücke und das feuerrote Glühen strahlte für ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen fast schon wie der Sonnenaufgang eines wolkenlosen Tages. Die Augen im Schmerz abgewandt, tastete sie blind nach der Laterne und setzte sie sich auf den Schoß. Schnell und kräftig schlug sie anschließend die Steinsplitter gegeneinander und die zahlreich von ihnen fliegenden Funken trafen auch auf den Docht der Kerze. Schnell züngelte die kleine Flamme empor und brachte Licht ins nahe Dunkel.
Wie ein Wall trennte der Trümmer- und Erdhaufen, auf dem sie saß den nach links verschwindenden Teil des Tunnels vom rechtsseitig liegenden. Allerdings mehr wie ein Hindernis, denn eine echte Mauer, immerhin konnte er überwunden werden und machte ein Passieren des Ganges nicht unmöglich. Vesa selbst saß noch ziemlich nahe an der Kuppe des Walls mit dem Kopf auf Höhe der übrigen Tunneldecke. Auf dem glatten schwarz-braunen Stein, aus dem die Wände bestanden, wucherten gelegentlich dicke Moospolster, füllten vom Wasser ausgewaschene Fugen dickwulstig auf und gaben der Architektur eine seltsam vergammelte Optik. Das schwache, feuchte Glitzern der Oberflächen unterstrich diesen Eindruck.
Da inzwischen auch das Rauschen des Blutes in den Ohren der Jägerin abgeklungen war, wurde ihr beim Anblick der tristen Umgebung abermals bewusst, wie ruhig es eigentlich war. Sie hörte jeden einzelnen ihrer ruhigen Atemzüge und glaubte fast schon die Schläge ihres Herzens in der Brust zu vernehmen. Hinzu gesellte sich entferntes Tropfen von Wasser, das durch das Erdreich in das unterirdische Gemäuer sickerte und leise, aber regelmäßig durch die Finsternis außerhalb des Scheins ihrer Laterne hallte. Unruhig drehte sich ihr der Magen, verknoteten sich die Eingeweide in einem Anflug von schwereloser Leichtigkeit. Zwar hatte sie mit den Gefährten schon so manche Festungsruine durchstöbert, war einigen wirklich widerlichen Kreaturen begegnet, aber noch nie in einem antiken Hügelgrab gewesen – und schon gar nicht allein und verletzt. Vesana kannte die Geschichten über die rastlosen Wiedergänger, die in solchen Tunnelsystemen hausten und … Nein, sie sollte nicht darüber nachdenken, was sich der Volksmund so alles erzählte. Schon jetzt lief ihr ein Schauer nach dem anderen den Rücken hinab und ihre Augen streiften unstet über alles, das von ihrer Kerze aus der Dunkelheit gerissen wurde. Jede weitere Sorge mochte sie wohl irgendwann in den Wahnsinn und die Paranoia treiben. Es waren nur ein paar Tage, die sie aushalten musste, das würde sie wohl schaffen sollen.
Stattdessen widmete sich die Kaiserliche ihren Beinen. Sich vorbeugend zog sie zunächst dem rechten den Stiefel aus und begann damit es von den Zehen bis zur Hüfte abzutasten. Vor allem an der Ferse und im Bereich der Gelenke sandten die Berührungen zwar heftigste Stiche aus, die heiß wie Nadeln durch ihre Muskeln fuhren, aber wenigstens schien nichts gebrochen zu sein. Lediglich der Blutmangel vom Hängen und der anschließende, nicht abgefederte Sturz hatten dem Glied zugesetzt – es würde sich aber erholen. Mit dem Schuhwerk wieder zugeschnürt über Fuß und Unterschenkel gestülpt, wandte sich Vesas Aufmerksamkeit der großen Unbekannten zu: Dem linken Bein.
Allein schon das Ausziehen des Stiefels ließ sie aufstöhnen und trieb ihr die Tränen in die Augen. Es kam ihr so vor, als ob nach der völligen Taubheit nun eine Übersensibilität in den Nerven einkehrte. Jede Erschütterung und Berührung hallte heiß pochend wider. Am Knöchel entdeckte die Jägerin auch schon das erste Übel: Die Druckstelle der dünnen Wurzel, an der sie vorher festhing. Ein dunkler, blau unterlaufener Striemen in der Breite von ein bis zwei Fingern zog sich einmal ringsum das Fußgelenk. Vorsichtig tastete sie zunächst an den Zehen und dem Mittelfuß entlang, um sicherzugehen, dass dort nichts gebrochen war. Danach nahm sie sich einen der übrig gebliebenen Pfeile und klemmte dessen Schaft zwischen ihre Zähne, bevor sie fortfuhr.
Als die erste Fingerkuppe die breite Druckstelle berührte, kniff sie die Augen zusammen und heulte gedämpft auf, bevor ihr die Tränen in die Augen schossen und es in Stöhnen überging. Ihre Kiefermuskulatur entwickelte in diesem Moment ungekannte Kraft und das Holz des Pfeiles knirschte. Aber es half nichts, sie musste fortfahren und tastete mit tränenverschwommener Sicht, ächzend und hin und wieder erneut in Jaulen verfallend weiter um ihren Knöchel herum. Nach einer kompletten Runde schien es ihr jedoch nicht, als ob etwas gebrochen wäre. Einzig und allein die Quetschung sorgte für den Schmerz es schien, als ob die Taubheit zuvor lediglich Produkt des Blutmangels gewesen war. Um das zu bestätigen, musste Vesa allerdings etwas tun, vor dem sie sich wohl nicht zu unrecht fürchtete: Den Fuß bewegen.
Vorsorglich klemmte sie sich einen zweiten Pfeilschafft zwischen die Zähne und packte anschließend an der Ferse und den Zehen an. Langsam begann sie damit, den Fuß hoch und runter zu neigen und schrie im nächsten Moment gellend auf. Die Pfeile fielen ihr aus dem Mund und völlig apathisch vom Schmerz rutschte sie zur Seite, der Kopf landete auf dem Tornister und zahllose kleinere Steinfragmente der Tunneldecke stachen ihr in die Seite. Doch all das war nichts im Vergleich zu der wallenden Woge des Feuers, die sich um ihren Fuß schloss wie das Maul eines hungrigen Wolfes. Tränen flossen ihr in Strömen aus den Augen und ihr ganzer Leib zitterte in der panikartigen Reflexreaktion ihres Leibes, der versuchte die Pein zu verarbeiten.
Der einzig klare Gedanke, der ihr in diesem Moment wenigstens etwas Halt gab, war die Erkenntnis, dass das Gelenk der Bewegung keinen Widerstand entgegengestellt hatte. Die Hoffnung, der Schmerz würde sich mit der Zeit von selbst legen und der Fuß erholen, gab ihr Kraft – wenn auch nur wenig in diesem Augenblick der Hilflosigkeit.
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Nur sehr langsam gelang es Vesana wieder klarer zu denken. Die Pein im Fuß hinterließ gleichzeitig eine merkwürdige Gefühllosigkeit, die sie alles unterhalb des Knöchels nicht mehr spüren ließ. Ein Umstand, der es ihr erleichterte, das Glied zu Bewegen, solange die Erschütterungen gering blieben. Vorsichtig schob sie sich in eine sitzende Position hoch und lehnte sich gegen die eiskalte, klamme Wand hinter ihr. Mühsam hievte sie ihr Felleisen über die Beine und legte es anschließend unter das linke, um es angewinkelt etwas höher zu lagern. Jede Bewegung kostete sie erhebliche Überwindung. Noch immer von zittriger Panik erfüllt, fürchtete sich ihr Körper vor neuerlichen Schmerzenswogen – es schien, als wolle er ihr nicht völlig gehorchen, ließ sie träge werden.
Tief durchatmend, die Augen geschlossen und die Finger in die Jacke auf dem Bauch gekrallt, ruhte sie sich einen Moment lang aus. Sie zwang sich durch die Nase zu atmen, auch wenn sie noch immer schlechter Luft bekam und versuchte so ihr rasendes Herz und das Zittern in den Griff zu bekommen. Nicht nur der Schmerz machte ihr inzwischen zu schaffen. Je länger sie in diesem dunklen Loch hockte, wissend dass über ihr die Nacht hereinbrach, desto unruhiger wurde sie. Es war nicht, dass sie allein war, als vielmehr wo sie war und dass es keine Möglichkeit gab, sich selbst zu befreien. Auch wenn sie nicht am Fuß verletzt gewesen wäre, Vesa zweifelte an ihrer Fähigkeit hinausklettern zu können. Das rutschige Erdreich und die schmierigen Wurzeln boten kaum Halt und vermutlich würde sie einfach nur wieder hinunterfallen. Ohne Hilfe saß sie fest, einen anderen Weg durch die dunklen Gänge des Grabes zu suchen, kam nicht in Frage.
Bevor sie noch weiter in die Dunkelheit ihrer Lider starren und ihre eigenen Atemzüge vielfach widerhallend als fernes, bedrohliches Echo eines im Dunkeln liegenden Beobachters zu ihr zurückfallen konnte, öffnete sie lieber die Augen. Schnell einen Blick in alle Richtungen werfend musste sie aber feststellen, dass ihr ihre Sinne einfach nur Streiche spielten und das Rasseln in der zunehmend kühler erscheinenden, feuchten Luft einzig und allein ihren Lungen entsprang.
Wütend auf sich selbst, wischte die Kaiserliche ruppig das angetrocknete Salz von ihren Wangen und machte sich anschließend an ihrem Tornister zu schaffen. Nach kurzem, vorsichtigem Kramen zerrte sie einen der Verbände und eine Schatulle mit ihrer Heilsalbe hervor. Immerhin dafür fand sie wieder den Mut, auch wenn sie sich ansonsten am liebsten gar nicht mehr bewegt und zu atmen aufgehört hätte, damit keine Geräusche zu ihr zurückfallen konnten, die ihr Dinge vorgaukelten, die es nicht gab. Aber es half nichts. Sie musste sich erst einmal versorgen, bevor sie zur Ruhe kommen konnte. Wieder einen der Pfeile zwischen die Zähne geklemmt, begann die Jägerin damit ihre Salbe dick auf das fast schwarz unterlaufene Gewebe und darum herum aufzutragen. Ihr Heulen brach sich am Holzschafft und hallte nur als klägliches Wimmern durch den Tunnel, kam aber als finsteres Säuseln und Flüstern mit einiger Verzögerung zu ihr zurück.
Sie versuchte die eiskalten Schauer zu ignorieren, die ihr von der Schädelbasis bis zum Steiß den Rücken hinabrannen, aber das reflexartige Schütteln, das ihren Leib erfasste, machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Mühsam und in kleinen Schritten trug sie mehr von der Creme auf, bis irgendwann die halbe Schatulle auf ihrer Haut klebte und bereits einzuziehen begann. Für einen Moment ließ sie dies an der Luft geschehen, während sie die kleine Metallkiste zurück in ihr Felleisen packte. Danach begann sie damit den Verband abzurollen und ihn abwechselnd für besseren Halt um Knöchel und Mittelfuß zu wickeln. Es dauerte nicht lange, bis die schmerzlindernde Wirkung der Salbe eintrat und sich Vesana tatsächlich endlich etwas zu entspannen begann. Zwar fühlte sie sich noch immer wie eine Bogensehne, aber immerhin nicht mehr wie eine zum Schuss gespannte. Auch die panische Unruhe ließ wenigstens zeitweilig nach, während sie vorerst die Gedanken an ihre Umgebung verdrängte und die angenehme, heilende Wärme an ihrem Fuß genoss. Solange sie diesen still hielt, mochte das Gefühl vielleicht anhalten, aber erst einmal musste sie noch ihren Stiefel wieder darüber stülpen, sonst wären am nächsten Morgen auch die Zehen blau, obwohl sie sie nicht verletzt hatte.
Als auch das geschafft war, rutschte die Kaiserliche an den Fuß des Trümmerhaufens zum glatt gehauenen Steinboden hinunter und breitete im Sitzen ihre Schlafunterlage aus. So gegen den kalten, feuchten Boden abgeschirmt mochte sie zwar dennoch nicht gleich Schlaf finden, aber wenigstens etwas komfortabler sitzen oder liegen. Bequem platziert ließ es sich besser heilen. Ihre Anspannung wollte jedoch trotz dessen nicht weichen. Das tropfende Wasser halte lauter durch den Tunnel, der widerwärtig feuchte Modergeruch, der wie ein schweres Leichentuch zwischen den moosbewachsenen Steinen hing, schien stärker zu werden und zu allem Überfluss mischte sich noch die süße Note von Verwesung hinzu, die schon seit Jahrhunderten gefangen vom Fels hier festzustecken schien.
Zeit schien hier ohnehin keine Rolle mehr zu spielen. Die Dunkelheit begrüßte sie trotz der Laterne wie ein alter Freund in langer Umarmung, hielt sie fest und wollte sie nicht wieder freigeben. Wäre es doch wenigstens wirklich ein alter Freund gewesen. Das unangenehme Gefühl der Einsamkeit, das von dieser Umarmung ausging, ließ sie sich schütteln. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf und während sich ihr Magen in Schwerelosigkeit umdrehte, lauschte sie erneut in ihre Umgebung.
Nichts. Nur das seichte Säuseln eines schwachen Luftzuges, der von oben durch das Loch in den Gang hinabzuzog, die Fäulnis aufwirbelte und ihr penetranter in die Nase trieb. Von der plötzlichen Intensität des Geruchs, der ihr schwungvoll zugetragen wurde, überrumpelt, musste sie einen Moment lang würgen bis der Kloß in ihrem Hals wieder verschwand. „Verfluchte Scheiße“, zischte sie in die Finsternis und bereute es, als ihre Worte verzerrt zu einem leisen Krächzen zu ihr zurückkehrten.
Wie sollte sie ganze drei Tage hier ausharren, wenn sie schon jetzt begann, den Verstand zu verlieren? Jeder ihrer Atemzüge kam mit vielfachem Echo zurück, vom Grab und den hier hausenden Geistern zu einem kränklichen Ton des Todes verfälscht. Sie fühlte sich beobachtet und war doch allein mit sich selbst, als würden ihre eigenen Gedanken frei in der Luft schweben, bereit wie hungrige Wölfe sie anzufallen.
„Aela, beeil Dich“, flüsterte Vesa zu sich selbst. Mehr als zuvor ohnehin schon stellte die rothaarige Nord in diesem Moment das einzige Fünkchen Hoffnung dar, an das sich die Kaiserliche zu klammern vermochte. Klein und rutschig wie ein Stück Treibgut bot sie nur in Momenten der Ruhe Halt, in denen Vesana mit sich selbst beschäftigt war. Lenkte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich, rutschte sie ab und trieb haltlos umher. Wenn sie sich doch wenigstens bewegen und ihre Umgebung ein Stück weiter erkunden könnte, vielleicht würde sie dann feststellten, dass der Korridor nach wenigen Schritten an beiden Enden weiter eingestürzt war, aber so an ihren Platz gefesselt, blieb eine solche Vorstellung eine Insel im Nebel. Möglicherweise da, aber unauffindbar und nicht zu erreichen.
Leises Fiepen riss sie aus ihren düsteren Gedanken und trieb ihren Puls in die Höhe. Mittlerweile schmerzte die Brust von den vielen unregelmäßigen Schlägen und die Adern am Hals pulsierten unangenehm. Es klang wie eine Ratte, hallte durch den Gang und kehrte leiser und bösartiger zurück. Der Widerhall ließ es wie ein halbes Dutzend dieser Tiere klingen – hungrig und gierig. Es wurde lauter, aber kam es von oben oder aus dem Gang? Vesas Atmung ging stoßweise und sie zog den Dolch an ihrem Gürtel, hielt ihn mit der Klinge am Unterarm geführt vor die Brust und schaute sich um. Nichts rührte sich im Lichtkegel der Laterne.
Rieseln gesellte sich zum Fiepen, das beinahe mehr wie ein Quietschen klang, als würde Staub oder Dreck zu Boden fallen. Es drang von überall auf sie ein. Es hätte so gut links von ihr im Korridor sein können, wie auf der anderen Seite des Trümmerhaufens oder … das Loch! Das Quietschen schwoll in dem Moment zu einem vom Echo bestialisch verzerrten Kreischen an, als ihr dieser Gedanke kam. Aggressiv und schnell näherte es sich. Die Kaiserliche hielt den Dolch höher, wandte sich mehr zu dem Haufen zu ihrer Rechten um und lauerte zum Stoß bereit regungslos. Das flackernde Licht der Kerze warf bedrohlich tanzende Schatten, reichte kaum bis zum höchsten Punkt der Trümmer hinauf und hüllte ihre Umgebung in jenseitiges Zwielicht. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und Schweiß brach ihr an der Hand aus, die den Dolch hielt, ließ ihren Griff unstet und rutschig werden und zwang sie dazu, die Waffe mit beiden Händen zu packen.
Dann huschte etwas am Rand des Lichtscheins durch ihr Blickfeld. Irgendetwas landete mit feuchtem Knacken auf den Resten der Tunneldecke und das anhaltende, dröhnende Kreischen verstummte so plötzlich wie es begonnen hatte. Stille kehrte ein und Vesana wagte es nicht, sich auch nur eine Haaresbreite zu bewegen.
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Geändert von Bahaar (30.05.2014 um 20:54 Uhr)
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Herzschlag um Herzschlag, Atemzug um Atemzug. Vesana saß wie eingefroren. Die Klinge des Dolches zitterte phasenweise heftig, bis sie wieder fester Griff und sich noch weiter anspannte, um Ruhe in ihren Körper zu bringen. Es half nichts, jeder dieser Versuche endete lediglich damit, dass sie noch stärker vibrierte, als zuvor schon. Noch immer sah sie keine Regung auf der Kuppe des Trümmerhaufens. Manchmal glaubte sie nur, schleifendes Atmen zu vernehmen – kaum mehr als ein Nebelecho. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es nicht sogar von ihren eigenen Atemzügen stammte und ihr ihre Sinne einfach nur einen Streich spielten. »Reiß Dich zusammen«, flüsterte sie sich zu und wischte dickte, eiskalte Schweißperlen aus ihrer Stirn als sie drohten aus den Brauen in die Augen zu tropfen.
Was sollte sie tun? Nachsehen, was da durch das Loch gekommen war? Oder einfach ausharren und warten, bis es sich selbst zeigte – wenn es sich überhaupt zeigte? Was mochte es auch sein können?
Letztlich entschied sie sich dazu, erst einmal die Laterne näher an die Spitze des Haufens zu bringen, um so vielleicht mehr sehen zu können. Vorsichtig schob sie sich etwas hoch, legte sich dann auf die Seite und drückte ihre Lichtquelle so weit von sich, wie es nur ging, bis sie schließlich sogar noch den Dolch zu Hilfe nahm, um das Metallgestell mit der Kerze weiter von sich zu schieben. Und also sie in die Richtung spähte, fast schon widerwillig aus Furcht, was sie möglicherweise entdecken mochte, sah sie, was sie auch zuvor schon gesehen hatte: Nichts. Frustriert, resigniert und erschöpft sackte Vesa Stirn voran in sich zusammen auf die groben Trümmerstücke. In einer Mischung aus Heulen und Seufzen stieß sie die Luft aus und entschloss sich, weiter hinaufzukriechen.
Haaresbreite um Haaresbreite schob sie sich hinauf, den Dolch immer stoßbereit vor den teils auf bäuchlings, teils seitlich liegenden Körper gehalten. Das Rasseln des Schmutzes, den sie loslöste, hallte widerlich als krabble ein großer Tausendfüßler irgendwo durch das Dunkel. Gänsehaut und unzählige Schauer hielten sie gefangen und doch fand sie einen letzten Rest an Mut, sich weiterzubewegen. Letzten Endes schaffte sie es bis nach oben und sah, noch immer, nichts. »Verfluchte Scheiße!«, zischte sie und schlug mit der Faust auf die Bruchstücke, bereute es aber und zuckte in sich zusammen. Dabei sah sie etwas im Licht der Laterne schimmern. Vorsichtig und langsam hob sie das Gestell, um den Lichtkegel zu vergrößern. Da lag irgendetwas am Rand, nahe der Wand. Es glänzte und funkelte im Licht, bewegte sich aber nicht. Behutsam kroch sie näher heran, zu undeutlich sah sie es selbst auf die geringe Entfernung, als verdichtete sich die Finsternis.
Während sich die Kaiserliche näher an das, was dort lag, heranbahnte, spürte sie wieder einen Schwall eisiger, innerlicher Kälte über sich hineinbrechen. Die Eingeweide krampften und verknoteten sich, die Finger zitterten und fühlten sich feucht an. Halt, die Feuchtigkeit stammte nicht von ihr. Der Schweiß drang ihr zwar noch aus den Poren, aber nicht so stark, dass es sich anfühlen konnte, als tauchte sie die Finger in einen Eimer Wasser. Augenblicklich gefror sie und ging in sich, ob sie sich vielleicht doch noch irgendwo verletzt hatte. Nein. Nein, das hatte sie nicht. Der Fuß pochte zwar heftig, aber sonst war sie sich keiner Verletzungen bewusst. Schon gar keiner offenen. Zeitlupenhaft wandte sie den Blick nach unten und holte die Laterne näher heran.
Ihre Finger schimmerten feucht und dunkel. Dunkel von Blut. Aber nicht das ihre. Einen Moment irritiert und den panischen Anfall von völliger Gedankenleere niederringend, blickte sie anschließend auf, dort hin, wo sie das Glitzern zuvor gesehen hatte. Ein unförmiger Leib lag dort. Geschunden und zerbrochen. Kleine Knochen spießten aus blutüberströmtem Fleisch. Einst graues Fell zeigte sich nun schwarz vom Lebenssaft. Der schwere Geruch von Eisen hing in der Luft wie der Dunst über einem See am Morgen. Irgendein Tier lag dort, völlig zerstört vom Aufprall. Klein, aber größer als eine Ratte. Ein … Waschbär? Ja, das mochte es sein. Der kleine Racker war durch das Loch gefallen und hier unten zerschellt. »Meine Güte«, stieß Vesana aus und sank in sich zusammen, das Gesicht zu Teilen in die klebrige Blutlache, die sie schon wieder vergessen hatte. Schnell schob sie sich aus ihr heraus und blieb liegen. Das konnte ja noch etwas werden.
Eine schier endlos scheine Zeit, es mochten nur Minuten sein, vielleicht ein paar Stunden, es spielte ohnehin keine Rolle, stand Vesa auf dem rechten Fuß, das linke Bein angewinkelt, und mit beiden Händen gegen die Wand gestützt im Tunnel. Ihr erster Versuch sich aufzurichten, seit sie in ihr Loch gefallen war. Nach dem Zwischenfall mit dem Waschbären, der noch immer oben auf dem Trümmerhaufen lag, hatte sie keinen weiteren Zwischenfall erlebt, aber es mochte auch noch nicht so lange her sein. Das nachlassende Pochen im linken Knöchel bewegte sie schließlich dazu, ihre Mobilität auf die Probe zu stellen. Ein Unterfangen, das ihr erst im fünften Anlauf wirklich gelungen war und viel Schmerz mit sich brachte. Nun aber aufrecht stehend, fühlte sie sich gleich etwas besser und sicherer. Zu wissen, dass sie sich im Notfall schneller als im Schneckentempo zurückziehen konnte, was auch immer ihr das Grab noch für Sinnestäuschungen und Proben auferlegen mochte, gab ihr halt und ließ die Insel der Hoffnung, Aela, schemenhaft im Nebel auftauchen.
Vorsichtig und langsam humpelte Vesana mit einer Hand an der Wand, die andere mit der Laterne, an der Wand entlang und machte sich daran, den Trümmerhaufen zu erklimmen. Als erstes musste sie ihren Bogen zurückholen, der noch irgendwo in den Wurzeln hing. Nicht unbedingt, weil er ihr etwas nützen würde in den engen Verhältnissen des Grabes, sondern eher aus Prinzip und für ein gestärktes Gefühl der Sicherheit. Ihr kam jede Waffe recht gelegen. Auch wenn sie nicht so wirklich wusste, gegen was sie sich eigentlich verteidigen wollte. Ihre Gedanken, die sich in Kreisen um immer dasselbe, die Enge und das Unbekannte drehten? Den aufkommenden Hunger, der mehr als nur ein Knurren im Magen war und beim Bild des zerfledderten Waschbären vor ihrem inneren Auge den Speichel im Munde zusammenzog? Den Durst, der ihr beim Anblick des dunkel geronnenen Blutes an den Händen und der Kleidung – ungeachtet ob das ihre oder jenes des kleinen Tieres – im Schein der Laterne die Kehle austrocknen ließ? Oder vielleicht doch gegen die Gespenster ihrer Einbildung, die Schemen und Umrisse in die Finsternis des Tunnels zeichneten?
»Reiß. Dich. Zusammen!« Wütend knurrend schlug die Kaiserliche mit der Faust gegen die nahe Wand, dass es schmerzend stach, und sie beinahe aus dem Gleichgewicht geriet. Nur mit Mühe krallte sie sich in einer groben Fuge fest und verhinderte ihr Umfallen. Trotzig, mit extra kräftig tretendem, unverletzten Bein, erklomm sie den Rest des Haufens und stand schließlich wieder am unteren Ende des Lochs. Schwärze, so dunkel wie selbst die Tunnelverläufe zu beiden Seiten nicht, füllte den oberen Teil aus. Wie drahtige, kranke Finger eines an Hunger sterbenden Alten zogen sich die Wurzeln am Rand des Lichtkegels der Laterne dahin. Sie schauderte bei dem Anblick. Wenn sie sich das geöffnete Maul irgendeiner Ausgeburt der Höllen des Vergessens vorstellte, zukünftig mochte sie diesen Anblick als Vergleich heranziehen.
Immerhin entdeckte Vesa ihren Bogen im Schlund der Finsternis. Er hing so an einer Wurzel fest, dass sie mit ausgestrecktem Arm gerade so an das untere Ende hinanreichte. »Scheiße!« Egal wie sie sich auch streckte und reckte, sie war zu klein, ihr Arm zu kurz. Es half nichts. Müde und in Frustration brummend sackte sie nach vorn gegen die schmierige Wand des Lochs, die Stirn gegen den rechten Unterarm gepresst und die Brust mit Hohlkreuz in den Matsch zwischen einigen Wurzeln gedrückt.
Wütend knurrend fasste die Kaiserliche einen Entschluss. Ruppig stellte sie die Laterne ab, dass das Metall klirrte und die kleine Flamme flackerte. Im Anschluss packte sie mit der Linken eine dicke Wurzel und reduzierte anschließend das Gewicht auf ihrem gesunden Fuß. Sofort jaulend wie ein Schlosshund machte sie es kurz rückgängig, dann versuchte sie es erneut und schaffte es, sich an der Wurzel soweit festzuhalten, dass die Last auf dem angeschlagenen Knöchel minimal war. Die Zehenspitzen des anderen drückte sie auf das obere Ende der Mauerreste des Tunnels, ungefähr auf Kniehöhe, und packte im Anschluss mit der anderen Hand eine freie Wurzel. Ihre Fernwaffe gab ihr wenigstens ein Ziel und immerhin dieses wollte sie erreichen, wenn sie sonst schon nichts weiter tun konnte, außer zu warten. Vorsichtig drückte sie ihr Bein durch und hob so vom Trümmerhaufen ab.
»Geht doch«, flüsterte sie und hielt den oberen Arm lang, um den Kraftaufwand zu minimieren. Leicht rücklings hängend und gleichzeitig auf der schmalen Steinkante stehend versuchte sie nun die Linke freizubekommen, um anschließend nach dem Bogen zu greifen. Es funktionierte, auch wenn es sie enorme Anstrengung und Konzentration kostete. Die Finger schlossen sich um das untere Ende der Waffe und bekamen sie zu greifen. Möglichst behutsam bewegte Vesana sie. Der Bogen hin am oberen Ende fest und sie musste ihn von der Wurzel ziehen, ohne aus ihrem Gleichgewicht zu geraten.
Ihre Waffe wollte nicht. Sie zog, schob und drehte, aber sie hatte sich so merkwürdig auf die Wurzel gefädelt, dass Vesa sie nicht herunterbekam. Nicht einmal dieses einfache Ziel sollte sie erreichen können! Was sollte das noch werden? Was auch immer sie hier unten tat, kaum etwas schien zu funktionieren, nichts ihr wohlgesonnen. Gerade wollte sie sich frustriert wieder nach unten lassen, da war es auch schon zu spät. Etwas Erde hatte sich weiter oben gelöst und fiel ihr mitten ins Gesicht. Als sie reflexartig dorthin lange, spuckend und prustend ob der Krümel in ihrer Nase, dem Mund und den Augen, verlor sie die Balance und rutschte mit der Rechten von der Wurzel ab. Zwar bekam sie mit der Linken noch etwas zu fassen, doch gab es nach und sie glitt davon ab. Spitz aufschreiend fiel sie hinab und schlug mit dem flachen Rücken auf dem Trümmerhaufen auf, dass es ihr die Luft aus den Lungen trieb und den Schrei erstickte noch bevor ihr Kopf auf einer verwitterten Steinkante aufschlagen konnte.
Der glühend heiße Stich im Hinterkopf, der folgte, hielt nur kurz vor, setzte ihre Wahrnehmung außer Gefecht und ihre Glieder erschlaffen. Scheinbar siedende Flüssigkeit, dem Gefühl nach brennendes Öl, ergoss sich über ihre Schädelseite als sie das Haupt in einem Anflug von fiebrigem Wahn zur Seite wandte. Das letzte, dass sie wahrnahm, war etwas vergleichsweise leichtes, dass ihr auf den Kopf fiel, bevor sie seitlich von den Resten der eingestürzten Decke rutschte, sich überschlug und von Dunkelheit umfangen liegen blieb.
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Geändert von Bahaar (07.06.2014 um 12:01 Uhr)
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