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Thema: Gut und Böse

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  1. #24
    Zitat Zitat von Owly Beitrag anzeigen
    @Mordechaj:
    Das, was du zu Volksmärchen schreibst, liest sich alles sehr plausibel. Aber auf Kunstmärchen lässt sich das nicht übertragen, oder? Sicher stehen auch die in einem historischen Kontext, doch greifen sie weniger volksspezifische Moral auf, als die ihren Autoren eigene.
    Ich denke, da triffst du so ziemlich genau den Punkt: Kunstmärchen sind mit einem empirischen Autor ausgestattet; das ist meiner Meinung nach auch die einzig stichhaltige Unterscheidung zum Volksmärchen. Dass weniger volksspezifische Wertevorstellungen (sagen wir es lieber so, moralisch erbaulich sind Märchen zumindest für mein bescheidenes Empfinden nur sehr selten; wenn sie nicht gerade christlichen Einflussnahmen entspringen) in Kunstmärchen zu finden sind, würde ich allerdings fast verneinen. Das trifft mit absoluter Sicherheit für eine Vielzahl von Kunstmärchen zu, ohne Zweifel, nur gibt es tatsächlich einige Beispiele, wo der geneigte und uninformierte Leser niemals zu einem Urteil kommen könnte. Der gestiefelte Kater beispielsweise gehört meiner Erfahrung nach dazu. Es gibt wenig echte Unterscheidungsmerkmale.

    Dazu kommt, dass die Volksmärchen, die uns überliefert sind, heutzutage ja zu sehr großen Teilen die der Grimms sind; und von denen sind eben nur Einzelversionen überliefert oder Fragmenterzählungen zusammengeflickt -- im engsten Sinne würde man hier ebenfalls von Kunstmärchen sprechen können. Diese "erstarrten" Märchen unterscheiden sich von den Kunstmärchen nur noch durch ihre kollektive Urheberschaft, die Erzähltraditionen sind beinahe konkruent, nur ist es einem Autor viel einfacher möglich, seine Intention zu festigen, während der Volksmund durch seine zahlreichen Variationen des "Originals" dankenswerter Weise jede Klarheit erstmal ausgemerzt hat.

    Ich finde es schwierig, vom Werk auf den Autor schließen zu wollen. Bin allerdings auch sehr tief in der These vom Tod des Autors drin, und die ist definitiv alles andere als unanfechtbar. Gerade in einfachen Erzählungen und bewusst nachempfundenen Volksmundtraditionen ist es schwierig, die Wertevorstellungen des Autors herauszulesen, schon der soziale Kontext wird schwierig, dort wo mühelos getäuscht wird. Außerdem sind Gut-Böse-Geschichten gern (ob nun bewusst oder unbewusst) auf große Projektionsflächen ausgelegt, weshalb die Motive oftmals sehr simpel gehalten sind: Hier ist der Rezipient angehalten, ganz im Sinne der Katharsis seinen eigenen Konflikt reinzulegen. Deshalb sind die meisten Gut-Böse-Geschichten, meiner Einschätzung nach, überhaupt nicht mit Moral, sogar sehr selten mit Wertekomplexität, ausgestattet; man liest eben hinein, was einem so rumsteht -- bewusst oder unbewusst oder gar beides.

    Anders verhält sich das natürlich im Fall von "Gut und Böse mit Feindbild", da werden sowohl Moral als auch Wertevorstellungen forciert und stark abgegrenzt.


    Das wohlgemerkt alles im europäischen Kontext. Märchen und allgemein Literatur anderer Völker sehen völlig anders aus.



    Zitat Zitat von real Troll Beitrag anzeigen
    ( [...] auch wenn der Monotheismus - streng genommen - auch das Böse für Gott vereinnahmt.)
    Das halte ich für einen sehr spannenden Gedanken -- könntest du ihn ausführen? Ich meine in etwa zu wissen, in welche Richtung er strebt, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Es wäre spannend zu ergründen, ob diese Vereinnahmung von außerhalb oder von innerhalb so wahrgenommen wird.

    Zitat Zitat
    Ordo mildert ab, indem er begreiflich macht oder zumindest Interpretationsanknüpfungspunkte für vertraute Sinnsysteme schafft. Das Böse wird durch Rechtfertigung dem eigenen Weltbild angeeignet. In gewisser Weise nimmt man einen gedanklichen Exorzismus des Fremdartigen aus der Welt vor. Die Spielmechanik tickt ähnlich. Der Held entfernt den Schurken samt Schergen, indem er sich per Erfahrungspunkten vertraut macht. Auf Stufe 1 unterläge er dem Endboss hoffnungslos, der spielmechanische Aneignungsprozess lässt ihn wachsen und schließlich gewachsen sein. Liest man die Funktionsweise eines Rollenspiels auf diese Weise sinnbildlich, passt ein Böser mit einem Motiv sehr gut ins spielerische System eines der eigenen Ohnmacht vorbeugenden Logos. Das lässt sich ebenso ins Erzählerische übertragen. Einziger Nachteil in meinen Augen: Der Verzicht auf ein pures Böses triebe Mystik und Exotik aus dem Spiel, wenn nicht anderweitig vorgebeugt würde.
    Ich würde ordo um ehrlich zu sein eher teleologisch sehen. Es handelt sich um einen zugrundeliegenden Ruhezustand, wie er etwa in idealistischen und utopistischen Vorstellungsräumen quasi die Hauptrolle spielt. Ordo ist quasi alles Rechtmäßige und in seiner Funktionsweise klar geordnete.

    Ordo liegt dem Rezipienten bzw. Spieler eigentlich immer vor Augen: Held mit Prinzessin = ordo ; Held ohne Prinzessin = defizitärer Zustand, den es zu beheben gilt. Telos muss die Wiederherstellung der Ordnung sein -- so werden die meisten herkömmlichen Spiele übrigens zu "Lustspielen" im literarischen Sinne, sie brechen kurz die Welt auf, lassen etwas erleben, dann wird der "Riss in der Welt" wieder geschlossen. Denke da jetzt beispielsweise an Super Mario, hier ist der ordo-Bruch konsequenzlos -- aber immer noch ist die Wiederherstellung der Ordnung unabdingbar telos. Dem gegenüber steht die Sorte, die dem Entwicklungsroman ganz gut angleicht (der Bruch der Ordnung führt zur sogenannte Liminalität, also einer Zeit der Grenzerfahrung ohne die herkömmlich geordneten Regeln, in der der Held wichtige Erfahrungen sammelt, etwas über sich selbst erfährt und alte Konflikte bewältigt -- der ordo-Bruch ist hier meist schon weit vor der eigentlichen Erzählung abzusehen). Prince of Persia läuft meiner Meinung nach ein solches Schema ab.

    Der entthronte König (Legitimitätsbruch), die geraubte Jungfer (Bruch der sozialen Anbindung), Tote, die aus den Gräber auferstehen (Bruch der natürlichen Trennung der Sphären) -- jedem Helden wie auch jedem Rezipienten und Spieler ist sehr schnell klar, was nicht in Ordnung ist, und vor allem, dass die Ordnung wieder hergestellt werden muss. (Robin Hood zeigt sehr schön, dass auch Interims-Ordnung ihren Reiz hat.) Das Böse ist dann eben immer das, was die Ordnung gefährdet. Für den Spieler gibt es kaum bessere Motivationen und Anreize, als einen fiesigen Störenfried, der dann womöglich auch noch auf alles spuckt was rechtens ist. (Einer der Gründe, warum Bösewichter so überaus häufig als geistesgestört dargestellt werden.)

    Die Erfahrungspunkte und den Levelanstieg würde ich dabei um ehrlich zu sein nich als MIttel der Vertrautmachung sehen, denn die geschieht in der Regel im Fortverlauf der Handlung; diese beiden Größen unterstützen diesen Fortverlauf zwar erheblich, sind letzten Endes aber nur Steigerungsressourcen, die die Überwältigung des Störenfrieds ermöglichen. Darüber hinaus stellen sie das charakterliche Wachstum des Helden dar (Liminalität geht immer mit Zugewinn an Fähigkeiten, Erfahrung und Wissen einher) -- in vielen Fällen wird dieser Zuwachs ja erst durch den ordo-Bruch, es wurde Magie freigesetzt oder es existierte eine Prophezeihung, die den Helden im Fall der Fälle auserkohr -- zumeist ist der Held ja sogar so eng mit Liminalität und ordo-Bruch verbunden; Harry Potter ist praktisch Konsequenz aus seinem eigenen ordo-Bruch, ähnlich ist das für Superhelden der Fall. Sinnvoller finde ich dann schon das "Gewachsensein", das Fremde/Böse/Störende bleibt zwar fremd/böse/störend, wird aber eben überwältigbar.


    Sorry, dass ich jetzt zurück-aufgebauscht habe, so viel ist aber für mein Empfinden sehr wichtig: Der Spieler wie auch jeder andere Rezipient muss sich mit ordo genauso zurechtfinden, wie mit der Tatsache, dass er da nur ein paar Tasten drückt und das, was er sieht, nicht wirklich geschieht. Sie macht nur bedingt begreiflich, in erster Instanz ist sie telos des Spielgeschehens -- genauso, wie ein Urzustand (Naturzustand, Urchristentum, Urkommunismus) telos jeder Utopie ist. Und das ist es dann eigentlich, das uns quasi archetypisch mit ordo vertraut macht: Sie gehorcht ähnlichen Regeln wie die Ordnung, die wir uns idealisieren, weil wir uns im ständigen Zustand der Unordnung befinden und gegen ihn ankämpfen. Im Spiel und in der Erzählung erfolgt die Katharsis (oder, wie du es treffend ausdrückst, der Exorzismus). Das ordo-System ist deshalb so erfolgreich und deshalb so zugänglich, weil wir uns damit den eigenen Bruch in der Ordnung vor Augen halten und in eine Welt eintauchen, in der es möglich ist, der Absurdität unseres Daseins mit Legitimität und Geordnetheit beizukommen.

    Geändert von Mordechaj (29.08.2012 um 17:52 Uhr)

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