Ich möchte mich einmal kurz an der Märchen-Sache aufhängen und hoffentlich deutlich machen, wieso diese Diskussion sogar ziemlich wichtig für das Thema ist, dann übergehen zu Gründen und Konsequenzen, soweit ich sie wahrnehme.
Die Einteilung der Welt der Gesinnung in die Extreme Gut und Böse folgert aus der Überzeichnung vor allem der europäischen Kulturbilder durch die monotheistischen Religionen. Hier fand das erste Mal effektive Kulturmanipulation statt, die es erforderte, Dinge gut und andere schlecht/böse zu zeihen. Dadurch kam es auch zu der starken Dichotomisierung des eigenen (Guten, Moralischen) und des anderen (Bösen, Unmoralischen) -- was vorher der Unterschied zwischen beispielsweise hellenischem Bürger und den Barbaren ausmachte (die einen waren Menschen, die anderen wilde Halbwesen), machte nun der Kulturkampf: Georg gegen den Drachen, das Christentum gegen die Heiden, die Rechtschaffenen gegen den Teufel etc.
In Bezug auf das europäische Märchen muss das deutlich machen, dass viele davon das Kondensat einer Zeit und einer Gesellschaftsgruppe sind, wo diese Manipulation nicht oder nur unzureichend Wirkung hatte. Viele wurden mit der Zeit christlich überzeichnet, einiges veränderten die Grimms den Umständen der Zeit entsprechend auch selbst nachträglich. Es handelt sich aber bei beispielsweise den deutschen Volksmärchen deshalb um eine so brisante und eigentümliche Sammlung, weil hier hinter der kollektiven Autorschaft in vielen Fällen vermutlich vor allem Frauen sitzen. Frauen nahmen sehr lange noch ins Mittelalter hinein -- fast eigentlich bis zur Verstädterung -- wenig am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teil, weshalb sich "am Herd" die überall sonst ausgemerzten heidnischen Geschichten (und Bräuche) weitertradieren konnten. (In dieser Stellung liegt meiner Meinung auch sehr stark die misogyne Haltung der mittelalterlichen Kirche und letztendlich auch die Hexenverfolgung begründet: Der Frau konnte man aufgrund der Gesellschaftsstrukturen viel schwerer Herr werden.)
That said, es gab diese Dichotomisierung auf philosophischer Ebene zuvor nur in Ausmaßen, die wahrnehmungsbedingt sind. Die meisten antiken Hochkulturen sahen in der Welt ein Zusammenspiel aus Gegensätzen, das heißt, nichts war grundsätzlich gut oder böse, sondern prinzipiell erst ein Prinzip mit einem Gegenprinzip (Moral war noch kein Prinzip, höchstens standes- und geschlechtsgemäßes Verhalten).
Die Ablehnung das Gut-Böse-Schemas halte ich, um ehrlich zu sein, für ziemlich natürlich. Die "andere Seite" ist ja gerade das spannende, ihre Erlebbarkeit dadurch begründet, dass das entweder-oder-Schema in der realen Welt nicht existent ist. Die Dichotomisierung macht die Dinge meist einfach und greift Erzählweisen auf, die nur allzu generisch und altbekannt sind. Und damit meine ich beispielsweise nicht Märchen, die ihren Reiz meiner Meinung nach in ganz anderen Faktoren finden, sondern eben die generischen Geschichten, die uns seit Jahrzehnten und noch über das heute hinaus umgeben: Lassen wir das nur mal Harry Potter sein oder Matrix oder eine beliebige Fantasy-Welt in Büchern, Filmen, Spielen und in jedem Vorstellungsraum, der uns irgendein Abenteuer vermitteln will: Das Abenteuergenre ist immerhin genauso überzeichnet wie der europäische Kulturraum -- Georg gegen den Drachen.
Es ist ein simples Schema, das sehr schnell auch mal langweilig werden kann; deshalb hält es sich im Übrigen, so meine ich, vor allem nur noch im interaktiven Bereich wirklich hartnäckig, hier steht die Erfahrung der Geschichte hinter anderen Dopamin-Streuern zurück.
Andererseits -- und das halte ich nicht nur für die Konsequenz aus der kulturellen Überzeichnung, sondern auch für ein dem Menschen inhärentes und wichtiges Bedürfnis -- ist das Gut-Böse-Schema wunderbar dazu geeignet, dem Rezipienten die Möglichkeit zu Auslöschungsgedanken zu geben, die in der realen Welt unablässig unterdrückt werden müssen. Gut-Böse-Geschichten haben dann quasi kathartischen Charakter, man kann "mit den eigenen Dämonen kämpfen" (ob nun Selbsthass oder Welthass, unterdrückte Wut oder auch nur ein aufbrausendes Gemüt kuriert werden, ist dabei wohl sogar gleichgültig). Irgendwer (d.i. das Böse) bekommt heftig auf die Fresse und am Ende siegt das Gute über das Böse -- das ist nicht nur ein sehr beruhigender und anschaulicher Gedanke, sondern steht in der Tradition von ordo-Erzählungen (die Geschichte beginnt mit einem Bruch der vorherrschenden Ordnung oder leitet in eine gebrochene Ordnung ein und zum Ende der Geschichte wird die Ordnung wiederhergestellt -- oder in ganz seltenen Fällen von einer neuen ersetzt). Im abendländischen Denken heißt ordo eben: Es gibt das, was man darf, und das, was man nicht darf, es gibt die Guten (meist wir) und es gibt die Bösen (meist die anderen; austauschbare Feindbilder), wir sind rechtmäßig, die anderen nicht, wir gewinnen, die anderen nicht.
Es steckt in beiden Denkweisen ein unheimlich geniales Erzählpotential und beide haben ihre Gebiete, in denen sie absolut brillant wirken können. Die simple Logik von Gut-und-Böse ist meistens viel komplexer, als man denkt; gerade die "echten" und teilweise völlig unmotivierten Schurken und Fiesgegner zeigen das sehr schön, denn diese bieten dadurch, dass ihre Handlungsmotivation sehr unbearbeitet bleibt oder gar ausgespart wird (es wird dem Rezipienten also nicht bzw. nicht vollständig klar, warum der Böse Böses tut, sondern nur, dass er Böse ist und Böses tut), eine maximale Projektionsfläche für die Katharsis.
Man muss aber eben auch im Hinterkopf behalten, dass das Gut-Böse-Schema nicht nur deshalb Ablehnung erfährt, weil es als simpel wahrgenommen wird, sondern auch deshalb, weil man damit tagtäglich konfrontiert wird: Es hat in den meisten Fällen wenig Eigencharme und es ist sehr schwer, sich nicht einfach in eine Reihe von Gut-Böse-Erzählungen einzuordnen. Darüber hinaus stellt die Abwendung von diesem Schema in unserem modernen Kulturkreis den Prozess des Erwachsenwerdens und der Wahrheitsfindung dar: Bei mir beispielsweise hat sich sehr fest der Moment ins Hirn gebrannt, wo ich lernte, dass der Wolf fressen muss und nur Fleisch fressen kann und deshalb gar keine andere Wahl hat, als die Geißlein verschlingen zu wollen. Solche Erlebnisse sind offenbar häufiger, sie markieren den Übergang vom unreflektierten Kindesdenken (das freilich nur scheinbar unreflektiert ist, sie werden nur in unserer Erziehungswelt viel mit "Einfachheit" beworfen, weil man meint, mehr könnten sie nicht verstehen) hin zum hinterfragenden Selbst, das den meisten Manipulationen standhält. Und da ist nämlich die Krux: Das Gut-Böse-Schema nimmt unheimlich schnell manipulative Züge an. Man braucht nur mal aufmerksam durch einige Gut-Böse-Geschichten zu lesen oder zu schauen oder zu spielen, um zu sehen, wie unheimlich künstlich die Guten gut und die Bösen böse gemacht werden. Beispielsweise haben viele moderne Heldengeschichten so eine wunderbare Definition von Töten aus Notwehr: Der Held darf metzeln, wie es ihm recht ist, die anderen sind ja die Bösen und die haben eh schon mindestens ganze Völkerstämme auf dem Gewissen und sollten gerichtet werden. Das James-Bond-Phänomen. Oder es muss irgendein Tribut für die Geschichte sterben (es gibt also beispielsweise eine Nebenfigur, die nur für ihren eigenen Tod konzipiert ist, der entweder den Fortgang der Geschichte markiert oder eine Schlüsselszene ermöglicht) und der Held setzt alles daran, den Tribut zu retten, aber die inhärente Logik der Geschichte verlangt nunmal den Tod, also scheitert die Rettung und der gute Held macht sich alle möglichen Vorwürfe und ist furchtbar betrübt, weshalb man ihm seine Unfähigkeit schon gar nicht mehr übel nehmen kann und überhaupt nicht merkt, wie perfide da ein fiktives Menschenleben just for the lolz geopfert wurde.
Dieser Art von Manipulation widersetzt sich der Rezipient in der Regel, sobald er sich ihrer gewahr wird. Wir (die Community) bewegen uns in Kreisen, wo diese Gewahrwerdung praktisch unausweichlich ist, genauso wie die Wahrnehmung dieser riesigen Menge an Gut-Böse-Geschichten: Klar, gerade im Gaming-Bereich wird diese Schablone noch sehr häufig benutzt, teilweise so schlecht, dass auch dem letzten die manipulativen Mechanismen auffallen. Und das ist natürlich ein ziemlich negatives Erlebnis, die wenigsten wollen die Stahlgerüste sehen, die die Geschichte mühsam oben halten, sondern die prachtvoll gestaltete Fassade bewundern. Das Phänomen Innovation.