Anne with an E (oder einfach nur "Anne" in Kanada)
Wow. Einfach wow. Eine meiner neuen Lieblingsserien und das hätte ich vorher nie gedacht
Hier findet ihr das stylish-hübsche Intro, das jedes Mal eine seltsam beruhigend hypnotische Wirkung auf mich hat. Und hier der Trailer zur ersten Staffel:
Ich hatte im Laufe der Jahre schon viel von Anne auf Green Gabels gehört - hey, das erste Buch der Reihe ist jetzt 110 Jahre alt - aber was konkrete Erfahrungen angeht konnte ich mich eigentlich nur noch vage an die alte Anime-Serie aus den späten 70ern erinnern. Von daher ging ich relativ frisch und unvoreingenommen an die Sache heran. Ich liebe Coming-of-Age-Geschichten und dachte mir daher zwar schon, dass mir das tendenziell gefallen würde, aber meine Erwartungen wurden bei Weitem übertroffen!
Handlung: Kanada, Ende des 19. Jahrhunderts. Das alternde Geschwisterpaar der Cuthberts möchte einen Jungen adoptieren, damit dieser ihnen bei der Farmarbeit helfen kann. Durch ein Missverständnis landet aber Waisin Anne Shirley bei ihnen, ein kluges und wortgewandtes, aber sehr affektives Mädchen mit roten Haaren und überschäumender Phantasie, das außerdem oft plappert wie ein Wasserfall und das bis dahin schon eine ganze Menge ertragen musste. Wird sie bei ihrer neuen Familie bleiben dürfen und sich in der dörflichen Gemeinschaft auf Prince Edward Island einleben können? Freunde und die Kindheit finden, die ihr bislang vergönnt geblieben ist? Diverse zwischenmenschliche Herausforderungen müssen gemeistert werden.
Die erste Staffel dieser kanadischen Produktion von CBC besteht aus acht Folgen (sieben wenn man den Doppelfolgen-Pilotfilm als eine Episode zählt), wird international von Netflix vertrieben und hat sehr gute Kritiken bekommen. Hauptsächlich geschrieben von Emmy-Gewinnerin Moira Walley-Beckett. Genörgel gibt es nur von ein paar wenigen Buch-Puristen und Nostalgie-Fanatikern, welche die eine oder andere frühere Version des Stoffes für perfekt und unantastbar halten, was natürlich totaler Bullshit ist. Anne with an E wagt viel mehr - kein Zuckerguss und Kitsch, stattdessen eine dramatischere, realistischere Darstellung des Lebens von vor ca. 140 Jahren, was insbesondere auch das Schicksal von Waisen mit einbezieht. Hier wird stärker auf die Hintergründe und die Gesellschaft eingegangen, auch heute nach wie vor relevante Fragen nach Identität, Ausgrenzung, Erziehung, Erwachsenwerden und Emanzipation gestellt und behandelt. Und das ist wie gesagt manchmal schonungslos und ehrlich. Glaube nicht, dass sich irgendeine der anderen Adaptionen eine Folge über die erste Regelblutung getraut hat, um nur ein Beispiel zu nennen.
Manche Handlungselemente werden aus späteren Bänden der Buchreihe vorgezogen und leicht verändert. Der Kern der klassischen Erzählung bleibt erhalten, aber die Serie gibt dem Ganzen einen neuen Anstrich und Mix, durch den sie auch hervorragend für sich stehen kann. Nach so vielen Fassungen, die es von dieser Geschichte schon gegeben hat, nämlich drei Kinofilme, sechs Radioproduktionen, sechs Bühnenstücke und Musicals, dreizehn Fernsehfilme und sechs TV-Serien in einem Zeitraum von 1919 bis heute, ist es gerade richtig, dass die Verantwortlichen hier den Ansatz mal in eine stilistisch etwas andere Richtung lenken und auch ein paar neue eigene Ideen einfügen, ohne sich dabei jemals zu weit von der Vorlage zu entfernen.
Versteht das mit der oben angesprochenen Grittiness aber nicht falsch - es handelt sich nicht grundsätzlich um eine "düstere" Serie, allenfalls um eine sehr emotionale, und das geht stets in beide Richtungen, was sowohl den von tollen Schauspielern verkörperten Figuren, als auch den klasse geschriebenen Dialogen zu verdanken ist. Soll heißen, man weint mit ihnen und man freut sich mit ihnen - und das meistens in ziemlich schneller Abfolge nacheinander ^^ Das meine ich sogar wörtlich, denn zumindest ich muss offen zugeben, dass ich bei fast jeder Folge feuchte Augen bekommen habe. Ich rede hier im Forum immer wieder davon, wie viel Wert ich auf sympathische und/oder interessante Figuren lege, deren Schicksal mich kümmern sollte, um einen dramatischen Effekt zu erzeugen. Anne with an E ist ein Paradebeispiel dafür! Allen voran natürlich die zentrale, quirlige Hauptfigur, absolut großartig gespielt von Amybeth McNulty, gerade für ihr junges Alter. Anne passiert vor allem am Anfang so viel Mist, dass ich mir die ganze Zeit dachte "Kann die jetzt bitte endlich mal einer in den Arm nehmen und ihr ne Pause gönnen >_< ?!" Aber selbst manche Nebencharaktere, von denen ich anfangs meinte, dass ich sie hassen würde, wachsen einem auf ihre eigene Art schnell ans Herz. Außerdem erinnert mich Matthew ein wenig an meinen eigenen Großvater, was auch ein Bonus ist xD
Der realistischere Ansatz findet sich ferner in der atemberaubend guten Gestaltung und Produktion, die massiv zur Atmosphäre beiträgt! Diesbezüglich haben die Macher bewusst darauf geachtet, alles so authentisch wie möglich umzusetzen und geradezu dokumentarisch einzufangen, was sich sehen lassen kann. Die Landschafts- und Naturaufnahmen sind herrlich idyllisch, die Kostüme und Kulissen besonders in den Innenräumen transportieren mich als Zuschauer wahrhaftig in eine andere Zeit. Die Illusion wird einfach niemals gebrochen bei so viel Liebe zum Detail. Habe es schon so oft in Serien mit Period-Setting erlebt, dass irgendwo Zeug auftauchte, das dort offensichtlich nicht hingehörte oder fake aussah weil man am falschen Ende gespart hatte. Nicht so hier. Alles wirkt echt und glaubwürdig. Dazu verdammt gute Musik.
Mit so vielen Leuten und Situationen dort kann man sich irgendwie identifizieren, weil eine Auseinandersetzung mit grundsätzlichen menschlichen Erfahrungen stattfindet, die leicht nachzuvollziehen sind. Und die Charaktere entwickeln sich fast alle ständig weiter, bleiben keine statisch-klischeehaften Abziehbildchen, sondern wachsen, auch durch ihre Herausforderungen und tragischen Schicksalsschläge. Wie gesagt, ich hätte nicht gedacht, dass mich eine Serie über so viele vermeintliche Banalitäten des Alltags in einer früheren Epoche dermaßen begeistern und mitreißen würde, aber das tut sie Habe jede Folge geschaut wie in Trance. Anne with an E verdient mehr Aufmerksamkeit. Ganz dickes Lob an alle Beteiligten und dringende Empfehlung, wenn ihr fandet, dass sich irgendetwas von dem was ich oben schrieb für euch halbwegs interessant anhörte (ich verstehe natürlich, dass das nicht jedermanns Sache ist). Aber falls ihr der englischen Sprache mächtig seid, dazu auch gleich die dringende Empfehlung, die englische Originalfassung zu schauen, auch auf die Gefahr hin, ein paar hochtrabende oder altmodische Wörter nicht direkt zu verstehen sondern aus dem Zusammenhang erschließen zu müssen. Denn die deutsche Synchro halte ich persönlich in diesem Fall leider für ziemlich misslungen.
Eine zweite Staffel, diesmal mit zehn Folgen, ist derzeit in Arbeit und soll später dieses Jahr veröffentlicht werden. Nach dem Cliffhanger bin ich super gespannt, wie es auf Green Gables weitergeht *__*