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Thema: Schullektüren - nervig oder interessant?

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  1. #1
    Ich persönlich halte viel von Pflichtlektüre, ich finde allerdings, dass man mit der konkreten Behandlung so früh wie möglich anfangen sollte, anstatt einfach nur (wie es zumindest bei uns gehandhabt wurde - aber gut, an unseren Schulen zählen sowieso nur Naturwissenschaften) die ersten 5 Jahre auf "Damit sie mal was gelesen haben" zu pochen, um dann so langsam in die literarische Vielfalt einzusteigen.

    Meine Favoriten, die man gelesen haben MUSS (kein Spruch auf Totalität, es gibt genug Sachen, die ich nicht gelesen hab, die aber das gleiche Niveau aufweisen):
    Antigone (der Archetypus der Frauengestalt, verknüpft mit antiker Demokratie-Philosophie) + mindestens eine Uminterpretation (eine der wenigen Möglichkeiten, mal einen Abstecher in fremdländische Literatur zu machen - ich empfehle die Antigone von Bauchau, die ist zwar lang, aber derart befremdend gefühlsgetränkt, dass man automatisch in eine beobachtende Funktion rutscht, während man mit Poesie überschwämmt wird)
    Faust I (Teil II versinkt noch schlimmer im Goethe'schen Sud des Palaverns*; die Gretchentragödie tritt wenigstens gesellschaftlich hervor)
    Nathan der Weise (eins der wenigen aufklärerischen Dramen, die sich vor den Extremen der Aufbruchsstimmung bewahren)
    Woyzeck + Leonce und Lena (Büchner tütet die Zweiklassengesellschaft zwar schon in Platitüden und Vorbehalte, ist dabei aber doch sehr tiefgründig und beweist einen Sinn für's Stilistische)
    Die Verwandlung (Kafka ist die beste Literatur, die die Schule zu bieten hat)
    Der Steppenwolf (Hesse auf Hochtouren; das Buch mag sich ziehen und manchmal seltsam werden, allerdings ist kein anderes Werk der Epoche so umfangreich aussagekräftig - ich behaupte auch, dass Hesse ansonsten regelrecht uninteressant wäre, gäbe es den Steppenwolf nicht)
    Die Blechtrommel (in der Schule hatten wir "Im Krebsgang" gelesen, das nicht minder gut ist, allerdings ist das Parabelhafte an der Blechtrommel um einiges wichtiger, wenn es auf eine Meinungsbildung zugeht; der Krebsgang ist zu dokumentarisch)

    Außerdem:
    Kurzprosa von Kafka (wenn man lernt, Kafka mit Feingefühl zu interpretieren, ist man bereit für das literarische Deutschland, denn schwerer und hermetischer macht es einem kaum ein anderer Autor)
    Rilke von vorn bis hinten, Trakl (Sprachaffinität, die ihresgleichen sucht)
    Paul Celan, Wolfgang Borchert, Brecht (die Verarbeitung der deutschen Erbschuld in ihren grünen Anfängen; die Keuner-Geschichten sind nahezu die besten politischen Parabeln eines deutschen Autors)
    barocke Sonnette, romantische Balladen (zwei Epochen, die es abzuarbeiten lohnt)


    *Dass Faust so schrecklich daherkommt, rührt übrigens von der Tatsache, dass Goethe ein blöder Arsch ohne Verstand und Ahnung war. Zu dem Urteil kommt man, nachdem man 2 Faust-Teile, einen leidenden Werther und unzählige Schmarotzertexte gelesen hat, die alle nichts aussagen. Goethe immitiert Shakespeare auf eine Art und Weise, die sich an konservativen Werten orientiert, sich dabei aber innovativ schreit, obwohl alles nur geklaut ist (ich glaube bis heute, die Prinzen sangen über Goethe).
    Die Leiden des jungen Werther waren übrigens auch nicht viel besser, sie sind nur ein beeindruckendes Beispiel, wie bescheuert auch ein hochgefeierter Autor sein kann: Werthers Liebe ist die eines ahnungslosen Teenagers, eine Liebe, die dadurch weniger Wahrheitsgehalt hat, aber vom Stürmer&Dränger Goethe als veritabel dargestellt wird. Heutzutage nennt man das Teenie-Kitsch-Roman ohne Sinn und Verstand - oder eben Stephenie Meyer.



    Was ich übrigens bemängeln würde, ist, dass man dem herkömmlichen Schüler praktisch nur deutsche Literatur auftischt, was sich gerade für das Mittelalter, die Romantik, die Aufklärung oder die Belle Epoque sehr zur Einseitigkeit hinzieht. Es gibt sehr tolle kurze, aber ungenutzte Einblicke in deutscher Sprache in die französische Literatur ("Le Roman de la Rose", Troyes, Proust, George Sand, Rimbaud, Rostand...), die tollsten Briten werden ausgespart (Carroll, Austen, Monmouth, ... Shakespeare), es würde auch helfen, sich nach Osteuropa zu erweitern, wenn man sich mal an die alten Polen rantraut (Dabrowska, Fredro)...

    Mir ist klar, dass es nicht ohne Grund Deutschunterricht heißt und dass man irgendwo der eigenen Kultur zwangsläufig treu bleiben muss, vor allem in Zeiten der kulturellen Überfärbung, allerdings ist diese Kulturfremde, was wenigstens die mitteleuropäische Literatur betrifft, sehr unvorteilhaft, wenn man allgemein mit Kultur in Kontakt kommt; und gerade die Gegenwartsliteratur ist gefärbt von internationalen Einflüssen, über die sich ein Überblick lohnt (wenn man Gegenwartsliteratur in der Schule schon nicht behandelt).
    Mir ist auch klar, dass sich das in einer Umsetzung sehr unpraktisch gestalten würde - wie soll man 50 Schriftsteller aus 5 verschiedenen Ländern auf ein paar Schuljahre verteilen (und das dann auch noch altersgerecht). Allerdings hat man das, mit allem Verständnis für die Priorität von Naturwissenschaften, auch mit Mathematik und Physik/Biologie/Chemie geschafft, wo man auf das kleinste Teilchen eines Teilchens und auf die genauste Berechnung einer Zahl geeicht wird. Ja klar, in der heutigen Welt ist sowas wichtig, immerhin kann man nichmal ungestört Psychologie studieren, ohne intensiv die Statistik zu bemühen - nur ist Literatur doch genauso wichtig, und sei es nur, um aus der Rede des iranischen Präsidenten (hm, mit dem hab ichs derzeit echt...) die Holocaust-Leugnung in jedem verdammten Teilsatz herauszuhören.


    Edit: Der Sinn von Belletristiklektüre ist, sich ein Urteil darüber bilden zu können (wie über jede Belletristik - französische Belletristik ist heutzutage übrigens getränkt von 68er-Parolen, die amerikanische ist voll von Rollenbildern und Pauschalismus; da muss man schonmal mit gutem Stoff in Kotakt gekommen sein). Hinzukommt, dass auch Effi Briest kulturellen Wert hat, sei es nun der Ästhetik wegen (die ausschweifenden Beschreibungen sind ein Relikt der Epoche und konservieren die gesellschaftlichen Zustände - Jane Austen ist nichts anderes, nur, dass sie hinzugenommen noch eine Heldin der Emanzipation ist). So ziemlich jedes Buch lässt sich anständig lesen, selbst Dan Brown; ob die Bücher an sich sehr viel Inhalt, Aussage oder Qualität haben, bleibt natürlich dem Geschmack überlassen, aber dann könnte man auch gleich fragen, was das Tagebuch der Anne Frank an literarischem Anspruch bereit hält, schließlich ist es als Schriftwerk rein dokumentarisch.

    Geändert von Mordechaj (02.05.2009 um 08:58 Uhr)

  2. #2

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    Zitat Zitat von Eynes'Prayer Beitrag anzeigen
    Dass Faust so schrecklich daherkommt, rührt übrigens von der Tatsache, dass Goethe ein blöder Arsch ohne Verstand und Ahnung war. Zu dem Urteil kommt man, nachdem man 2 Faust-Teile, einen leidenden Werther und unzählige Schmarotzertexte gelesen hat, die alle nichts aussagen.
    QFT. Sollte eigentlich Götze heißen...
    Außerdem fand ich Lenaus Faust viel spritziger^^:

    Laß bluten die verharschte Hand,
    Zu schreiben mir das Unterpfand,
    Und daß dazu beitrage jeder,
    Reich ich dir diese Hahnenfeder,
    Die ich in einem Forste jüngst,
    's war grade Sonntag früh, zu Pfingst,
    Dem Raubschütz aus dem Hute zog,
    Als ihm ins Herz die Kugel flog.
    Recht artlich war es anzusehn,
    Wie so der Dieb, im dichten Laub
    Versteckt, auflauscht dem Wildesraub;
    Wie doch vier Jäger ihn erspähn,
    Wie er auf sie drei Kugeln sendet,
    Von denen jed' ein Leben endet,
    Die vierte, ohne Sakrament,
    Ihm selber durch die Lungen rennt.

    Nun, Schullektüre... Bahnwärter Thiel und Brave New World waren beeindruckend, der Rest so lala. Es ging auch eher um das Vermitteln von Literaturgeschichte, weniger um geniale Werke. Von Hölderlin und Novalis hatten wir zB nur ein, zwei Gedichte; Homo Faber soll ja oft Schullektüre sein, gibt aber nur bedingt Frischs Raffinesse wieder - lieber Teile von Gantenbein besprechen. Musil haben wir auch nur gestreift, dabei lassen sich grad aus dem "Mann ohne Eigenschaften" prima einzelne Kapitel herauslösen und diskutieren. Ich wär zB auch dafür das Gilgamesch-Epos zu lesen; mag zwar nicht ganz zu Deutsch passen, aber ist immerhin das älteste erhaltene Epos und einfach eine zu gute Erzählung um sie nicht in den Literaturunterricht aufzunehmen.

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