Fetzen an der Zimmerdecke
Ihre Augen standen offen. Ein leerer Blick, gerichtet zur Zimmerdecke. Tiefe Risse in der Tapete ließen kleine Fetzen herunterbaumeln. Von der Zimmerdecke. Ein kühler Windzug, der durch das weit geöffnete Fenster drang, brachte die Fetzen zum tanzen. Wie kleine Balletttänzerinnen im Alter von fünf oder sechs, die es noch nicht so gut beherrschten jeden Schritt synchron zu denen der anderen zu setzen. Die alte Gardine ließ sich davon aber nicht beeindrucken. Sie tanzte für sich allein. Dabei wirkte sie müde und lustlos, so als hätte sie es satt, es ihren kleinen Fetzen noch einmal zu erklären. Das Tanzen. Von der Zimmerdecke herab, bewegt durch den Wind, der durch ein weit geöffnetes Fenster drang.
Durch das weit geöffnete Fenster drang aber nicht nur Wind, der eine alte Gardine und Tapetenfetzen an der Zimmerdecke zum tanzen brachte. Das Mondlicht traute sich ebenfalls in den Raum. Es legte sich vorsichtig auf ihren Körper, so als wolle es sie nicht verletzen, sie aber dennoch berühren. Mit ihr verschmelzen. Ihre Haut wirkte dadurch blass.
Das Zimmer war leer. Nur das Bett, welches den Anschein erwecken ließ, es sei mit ihrem Körper verbunden. Und ein Stuhl, der an der unteren Bettkante stand und sie anstarrte.
Das Bett war klein. Es reichte geradeso für sie. Eine zweite Person hätte darin sicher keinen Platz gefunden. Dafür war es auch nicht gedacht. Das Bett.
Endlich bewegte sie ihren Kopf. Sie drehte ihn langsam zu ihrer linken Schulter, ließ ihren Blick dabei aber nicht von der Zimmerdecke ab. Erst als ihr Kopf sein Ziel erreichte löste sie ihren Blick. Von der Zimmerdecke. Und schaute nun zur Tür. Sie war geschlossen. Unter dem Türspalt kam kein Licht mehr hervor. Erleichtert drehte sie ihren Kopf zu ihrer rechten Schulter, versuchte dabei aber, ihren Blick solange in Richtung Tür zu belassen, bis es nicht mehr ging. Ab da schloss sie die Augen, bis ihr Kopf schließlich ihre rechte Schulter erreichte.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, war alles anders. Keine Tür. Kein weit geöffnetes Fenster, durch das Wind drang, der Tapetenfetzen an der Zimmerdecke und eine alte Gardine zum tanzen brachte. Kein sanftes Mondlicht, welches durch das weit geöffnete Fenster tauchte um mit ihrem Körper zu verschmelzen. All das war nicht mehr da. All das, was sie jetzt noch umgab, war ihr Bett, das sie noch erfühlen konnte. All das, versunken in Finsternis. Nichts zu sehen, auf das sie ihren Blick hätte richten können. Sie fürchtete sich. Sie atmete schnell.
Plötzlich ertönte ein Klicken. Eine Glühbirne leuchtete auf und tauchte den kleinen Bereich um das Bett herum in rotes Licht. Sie atmete schneller. Der rote Schleier überdeckte ihren gesamten Körper. Alles, was das rote Licht nicht einfangen konnte, verschwand in einer undurchschaubaren Schwärze.
Sie schaute nach oben, in der Hoffnung die Zimmerdecke und ihre kleinen, tanzenden Tapetenfetzen auszumachen, aber. Nichts. Nur die undurchschaubare Schwärze. Langsam bewegte sie ihre Augen auf die Glühbirne zu. Kleine Fliegen schwirrten um diese herum. Als eine davon gegen die Glühbirne prallte, knisterte es. Sie verfolgte aufmerksam den Sturz der Fliege, bis diese auf einmal in der Luft liegen blieb. Auf dem Sitz des Stuhles, der genau unter der Glühbirne stand. An der unteren Bettkante. Erst jetzt bemerkte sie ihn. Wie er sie immer noch anstarrte.
Schritte ertönten. Eine schemenhafte Gestalt trat allmählich aus der Dunkelheit hervor und drang in den roten Schleier der Glühlampe ein. Die Silhouette einer männlichen Person bewegte sich in unregelmäßigen Schritten auf den Stuhl zu und nahm Platz. Er zitterte leicht. Ein zerfetzter Anzug, der einst wohl sehr elegant gewesen sein muss, kleidete ihn. In seiner Brust schien etwas zu stecken. Da wo sein Gesicht sein sollte, waren nur zwei Augen zu sehen. Zwei Augen, die versuchten in die ihren einzudringen. Er murmelte etwas. Es klang verzweifelt. Dann stand er auf und humpelte auf die im Bett Liegende zu. Er blieb vor ihr stehen. Sie hatte Angst, aber konnte sich nicht bewegen. Der rote Schleier der Glühlampe hielt sie fest und erlaubte ihr nicht auch nur einen Millimeter zu weichen. Das Einzige, was sie bewegen konnte, waren ihre Augen. Schließen konnte sie sie nicht. Ihr Mund war leicht geöffnet. Einen Laut konnte sie aber nicht von sich geben. Der Mann im Anzug stieg auf das Bett und beugte sich über sie. Genüsslich zog er das Ding, was in seiner Brust steckte heraus. Es war ein Dolch. Kleine Tropfen seines Blutes plätscherten auf ihren Bauch. Sie atmete panisch und ihr Herz klopfte so schnell, dass sie befürchtete, es könnte platzen. Er justierte die Klinge des Dolches an der Stelle, wo ihr Herz war. Der durchdringende Blick, immer noch auf sie gerichtet. Sie konnte nicht wegsehen. Vorsichtig stach er zu. Langsam bahnte sich die Klinge ihren Weg durch ihre Haut, durch Muskeln und Adern, durch ihre Knochen hindurch. Die Fassungslosigkeit und der unerträgliche Schmerz standen in ihren Augen geschrieben. Er starrte sie immer noch an. Sein Blut rann inzwischen in Strömen aus seiner Wunde und klatschte auf ihren Bauch. Kurz bevor der Dolch ihr Herz erreichte zögerte er. Zuviel Blut schien er verloren zu haben. Er zog den Dolch unsanft aus ihrer Brust heraus und trat vom Bett herunter. Dann taumelte er rückwärts. Fast wäre er über den Stuhl gefallen. Verzweifelt versuchte er mit dem Dolch die Blutung in seiner Brust zu stoppen. Sich den Dolch ununterbrochen in die Brust rammend verschwand er wieder in der Dunkelheit.
Stille. Blut lief lautlos aus ihrer Wunde und aus ihrem Mund heraus. Sie lebte noch, aber der Schmerz betäubte ihre Sinne. Es kam ihr vor, als vergingen Stunden. Ihr Blick auf den Stuhl gerichtet.
Erneute Schritte. Wieder trat eine schemenhafte Gestalt durch die Dunkelheit in den roten Schleier der Glühlampe ein. Mit den Schritten, wurde auch das Seufzen und Schluchzen, das Weinen der Gestalt immer lauter. Die Person setzte sich auf den Stuhl. Es war eine Frau. Sie trug ein feines Kostüm. Ihr schwarzes Haar war zu einer strengen Frisur zusammengebunden. Die Nase und der Mund waren mit Bandagen verhüllt, durch die etwas Dunkles hindurch sickerte. Augen hatte sie keine, nur leere Augenhöhlen. Sie weinte, zumindest hörte es sich so an. Blut lief an Stelle von Tränen aus ihren Augenhöhlen. Die Frau stand auf und bewegte sich auf die im Bett Liegende zu. Sie zog ein helles Tuch aus ihrer Tasche. Durch das rote Licht der Glühlampe war die Farbe des Tuches nicht erkennbar. Unsanft schrubbte sie mit hektischen Bewegungen das Blut des Mannes mit dem Dolch in der Brust von dem Bauch der im Bett Liegenden. Es schmerzte. Während dieser Prozedur weinte sie immer lauter. Als das Blut vollständig entfernt war steckte sie das durchtränkte Tuch wieder in ihre Tasche. Die Haut auf dem Bauch war durch die Säuberung an einigen Stellen aufgerieben. Es brannte fürchterlich. Dann ging die Frau im feinen Kostüm zur rechten Seite des Bettes. Sie schniefte kurz. Die im Bett Liegende schaute tief in die leeren Augenhöhlen der Frau im Kostüm. Als wolle sie ihr etwas sagen. Da holte die Frau im Kostüm mit ihrer rechten Hand aus und verpasste der im Bett Liegenden eine Ohrfeige. Dann noch eine auf der linken Gesichtshälfte. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Immer abwechselnd. Erst rechts, dann links. Die Ohrfeigen wurden immer härter und das Weinen der Frau immer unerträglicher. Sie schlug so hart zu, dass die Haut im Gesicht aufplatzte und sich ihre Hände beim Schlag mit Blut besudelten. Als die im Bett Liegende drohte ohnmächtig zu werden, stoppte die Frau im feinen Kostüm. Sie drehte sich um und ging hastig mit gesenktem Kopf weinend in die Dunkelheit zurück.
Sie begann alles doppelt und verschwommen zu sehen. In ihrem Kopf drehte es. Ein lautes Brummen. Ein Stechen. Sirenen. Sie kämpfte damit, bei Bewusstsein zu bleiben. Der Schmerz fraß sie regelrecht auf. Sie atmete schwer. Dann ein kurzer Moment der Stille.
In hüpfenden Schritten trat eine kleine Gestalt flink in das rote Licht ein und nahm vor dem Stuhl halt. Es sah aus wie ein kleines Mädchen, gekleidet in einem hübschen Tutu. Sie trat vor den Stuhl, machte freudig einen Knicks und setzte sich. Ihre kleinen Beine baumelten in der Luft, der Stuhl war zu hoch für sie. Ab und zu musste sie lachen. Da wo ihr Gesicht sein sollte, war jedoch nichts. Nur pure Schwärze, genau so undurchschaubar, wie die Schwärze im Raum. Das kleine Mädchen im Tutu stand auf und tanzte zur linken Seite des Bettes hin. Es musste kurz auflachen, beim Anblick der im Bett Liegenden. Dann griff sie mit ihrer rechten Hand in die Schwärze, wo ihr Gesicht sein sollte. Sie holte ein Ei hervor. Dieses legte sie auf den Bauchnabel der im Bett Liegenden. Das kleine Mädchen im Tutu lachte noch einmal, machte erneut einen Knicks und hüpfte wieder zurück in die Dunkelheit.
Sie betrachtete das Ei. Es hatte die Größe eines Hühnereis. Plötzlich fing es an zu wackeln. Ein langer Riss bildete sich in der Mitte des Eis. Das Wackeln wurde immer heftiger, bis das Ei schließlich aufplatzte. Die Eierschalen lagen auf ihrem Bauch verstreut. Zum Vorschein kam eine kleine Figur einer Ballerina, wie die einer Spieldose. Sie stand auf einer langen Nadel, deren Spitze genau senkrecht auf ihrem Bauchnabel stand. Einen Moment lang bestaunte sie die kleine Ballerina. Tränen begannen aus ihren Augen zu brechen. Sie liefen über ihre Wangen, vermischten sich mit Blut und bewegten sich weiter über ihren Hals, zwischen ihrer Brust entlang, den Bauch hinab. Als die blutigen Tränen die Spitze der Nadel berührten ertönte eine Melodie. Eine Melodie, die sie schon oft gehört hatte. Die Ballerina begann sich zu drehen. Mit jeder Umdrehung tauchte die Nadel tiefer in ihren Körper ein. Das Licht der Glühlampe erlosch. Ihre Augen schlossen sich. Und die Melodie wurde immer leiser, bis sie gar nicht mehr zu vernehmen war.
Stille.
Die Tür war geschlossen. Kein Licht drang mehr unter dem Türspalt hervor. Der Stuhl an der unteren Bettkante, der sie anstarrte. Das Fenster, weit geöffnet. Wind der eine alte Gardine zum tanzen brachte. Das Bett, in einem roten Schleier eingehüllt. Ihr Blick, gerichtet zu Fetzen an der Zimmerdecke.