Geistermeer, Herz des Gerechten
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»Herrin…?«, sprachen die beiden Männer im Chor, doch Amelia hob eine Hand und wippte mit dem Finger.
»Alles gut«, erwiderte sie und hielt sich nur mühsam auf den Füßen. Die Krämpfe in Bauch und Rachen erschwerten es ihr, die richtige Balance zu finden, geschweige denn sich aufzurichten. »Alles…« Weiter kam sie nicht, bevor sie sich ein weiteres Mal erbrach.
»Lasst mich Euch einen Eimer bringen«, bat Kolja, als er ihr nach Abklingen der Krämpfe hoch half. Schmallippig nickend, hielt sich die Bretonin am Geländer fest und versuchte möglichst viel Speichel zu sammeln, um den abartigen, sauren Geschmack im Mund fortzuwaschen. Der arme Gerüstete, der von ihr so ungewollt zum Laufburschen degradiert wurde, wandte sich ab und verschwand abermals. »‘s is‘ g’wiss kein Wetter für Euch«, meinte Domek hinter ihr und sie glaubte so etwas wie Mitleid in der altersrauen Stimme auszumachen. Doch selbst wenn er ihr hätte helfen wollen, das Ruder bedurfte seiner vollen Aufmerksamkeit. Sie blieb also allein in ihrem Leiden und das sollte ihr nur Recht sein.
Weit vorgebeugt hielt Amelia den Kopf beinahe zwischen den durchgestreckten Armen und starrte auf die feucht glänzenden, dunklen Planken unter ihren Füßen. Sie wusste nicht, wie lange sie so ausharrte, es spielte wohl auch keine Rolle, doch irgendwann hielt ihr jemand einen einfachen Holzeimer ins Sichtfeld. Der grobe Lederhandschuh sprach dafür, dass es der Hauptmann der Wachen sein musste. Wortlos löste die Adelige eine Hand vom Geländer und umschloss den Kübel mit dem Arm. Erst danach richtete sie sich auf, das Gefäß gegen die Brust gepresst. »Ich habe eine Hängematte unten für Euch freimachen lassen. Das sollte das Schaukeln etwas mindern«, erklärte der Gerüstete und wischte sich einige dicke Wassertropfen aus dem geröteten Gesicht. Ob es Schweiß und Anstrengung oder doch geschmolzene Flocken und die Kälte waren, die ihn zeichneten, mochte sie nicht sagen können. Nur kurz blickte sie zu ihm auf, dann senkte Amelia die Augen zurück auf den Bottich, der gerade einmal eine Handbreit unter ihrem Kinn saß.
Mit der nächsten Welle wandte sie sich von ihm ab und spuckte in den Eimer. Was für eine Schmach. Wenn sie in ihrer derzeitigen Erscheinung unter Deck zurückkehren würde, so war sie überzeugt, böte das für die nächste Zeit wieder genug Stoff für die Mannschaft, um Heiterkeit in langweiligen Momenten zu erzeugen. Dass sie gewiss nicht als einzige an Bord Schwierigkeiten mit dem Seegang hatte, spielte dabei auch keine Rolle. Adelige genossen immer ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit, wenn es um derlei Geschehnisse ging. Verübeln würde sie es keinem, aber genießen musste sie es deswegen noch lange nicht.
Letztlich widerstandslos ließ die Bretonin Kolja gewähren, als er sie mit sanftem Druck am Arm zum Gehen bewegte. »Wir sin‘ bald da, keine Sorge«, rief ihnen Domek nach, dann stiegen sie auch schon die Stufen zum Hauptdeck hinab und waren außer Hörreichweite des Kapitäns. »Lass nicht zu, dass sie sich wieder die Münder zerreißen«, murmelte Amelia und hielt an der Tür, die unterhalb des Kapitänsstands ins Innere des Kahns führte, inne. Eine Hand gegen das glitschige Holz gestemmt, beugte sie sich mit hängenden Schultern nochmals über den Eimer und stellte ihn schließlich ab, als sie sich einigermaßen sicher fühlte, dass kein neuerlicher Würgreflex die Kontrolle über sie übernahm.
»Das werden sie gewiss nicht, Herrin. Dazu gibt es keinen Grund«, beschwichtigte der Soldat und öffnete den Durchgang für sie, ließ sie passieren und schloss ihn anschließend. Warmer Laternenschein flutete den dahinterliegenden Flur, das Quietschen der im Wellengang schwingenden Lichtquellen erfüllte die klamme Luft. Abgesehen von der Kapitänskajüte und einem Besprechungsraum fand sich hier oben allerdings nichts. So führte ihr Weg eine schmale, knarrende Stiege hinab, aber selbst die schweren Schritte Koljas gingen im ewigen Ächzen der Spanten und Balken unter, während sich der Rumpf zumindest gefühlt noch deutlich stärker hob und senkte, als er es zuvor an der frischen Luft getan hatte.
Der erbarmungslose Schwindel, der die Adelige in diesen beengten Verhältnissen immer befiel, ließ auch nicht lange auf sich warten. Eine Hand immer am Arm des Gerüsteten, die andere an einer Wand oder Stützbalken, arbeiteten sie sich langsam durch den Bauch des Kahns. Gelächter und laute Stimmen drangen von vorn zu ihnen durch, doch für sie klangen sie nur wie weitentfernte Echos aus dichtem Nebel. Zu sehr musste sie sich darauf konzentrieren nicht einzuknicken.
»Wir haben es gleich geschafft«, versuchte ihr der Soldat Mut zu machen, mehr als ein gequältes Zucken der Mundwinkel erhielt er jedoch nicht zur Antwort. Gleich darauf traten sie aus dem Korridor zwischen Küche und dem Lagerraum für Lebensmittel. Auf der vollen Breite des Rumpfes spannte sich vor ihnen der Gemeinschafts- und Schlafraum auf. Die zahllosen senkrechten Balken und Hängematten, die zwischen ihnen baumelten, warfen im flackernden Schein der Laternen wirre Schatten, verbargen einen Teil der ausgelassen miteinander in Gespräche vertieften Mannschaft und boten ihr wenigstens ein gewisses Maß an Sichtschutz. Nur einige Soldaten, die sich selbst in ihren Lagern niedergelassen hatten, bedachten sie mit kurzen, meist eher ausdruckslosen Mienen. Andererseits erkannte Amelia sie auch nicht allzu deutlich und ließ sich von Kolja irgendwo an den Rand und in eine dunklere Ecke bugsieren.
»Ohje, Herrin, seid Ihr wohlauf?« Es war Jela, ihre Zofe, die aus dem Nichts auf die Beiden zugestürzt kam.
»Die See«, erklärte der Hauptmann an ihrer Statt und blieb vor zwei leeren Hängebetten stehen, die in zwei Etagen zwischen Balken schwangen. »Hier, für Euch.«
»Ich glaube, der Herr Val Nurinia wünschte nochmals mit Euch zu sprechen, Hauptmann«, wandte sich Jela an den Gerüsteten, der sich daraufhin nickend abwandte. Eigentlich wollte ihm die Bretonin noch ihren Dank bekunden, doch jedes Öffnen des Mundes hätte ihre Selbstbeherrschung durchbrochen und den unterdrückten Brechreiz befreit. Ihre gut genährte Bedienstete, die bald ihre vierzig Sommer zählen mochte, half Amelia noch während sich ihre Gedanken träge von Kolja lösten dabei, den schweren Umgang abzulegen und befreite sie anschließend noch vom rubinroten Seidentuch um ihren Hals. Erst danach stützte die Gehilfin die Adelige und stabilisierte sie, als sie drohte das Gleichgewicht zu verlieren und noch bevor sie lag aus der Hängematte zu fallen.
Auf der Seite liegend schloss sie die Augen. Als hätte sie deutlich zu viel getrunken, spielte ihr Gleichgewichtssinn Streiche – deutlich zu viel getrunken und als hätte sie anschließend noch einige schnelle Runden auf dem Fleck gedreht. Es half nichts, sie musste die Augen öffnen, wollte sie einigermaßen die Kontrolle über das Karussell in hinter ihrer Stirn behalten. Die in Falten liegenden Züge ihrer Zofe tauchten im verschwommenen Sichtfeld auf, als diese sich vor sie kniete. »Braucht Ihr noch etwas, Herrin?«, wollte sie wissen, erhielt aber nur zu einem Strich zusammengepresste Lippen als Antwort. »Wasser? Ein Eimer?« Unfähig eine Antwort zu geben, nickte Amelia einfach. »Kommt sofort«, erwiderte Jela und erhob sich. »Aber zunächst, machen wir es Euch noch bequem«, setzte sie nach und legte etwas Schweres über sie. Als weiches Fell ihre unbedeckte, von der Kälte noch immer überempfindliche Wange streifte, erkennte sie ihren Umhang. Groß genug, um bei leicht angezogenen Beinen als Decke fungieren zu können, wärmte er sie nahezu augenblicklich. Kurz darauf schob die Dienerin noch ein Stoffbündel unter Amelias Haupt. Dem dezenten Duft nach Minze und dunklen Rotschimmer am Rand ihres Sichtfeldes nach zu urteilen handelte es sich um ihren Seidenschal.
»Ich bin gleich zurück«, verkündete Jela schließlich und verschwand mit eiligen Schritten. Allein zu sein empfand Amelia in diesem Moment trotz der Fürsorglichkeit als Segen und seufzte leise, schloss gleich darauf aber erneut den Mund, als es ihr sauer aufstieg. Kurzerhand drehte sie sich auf die andere Seite und starrte gegen die graubraune Bretterwand der abgegrenzten Küche. Wenn sie schon hier in der Nachtstatt eines anderen ruhte, von allen einsehbar und ungeschützt, dann sollten sie wenigstens nicht in ihr von Übelkeit verzogenes Gesicht sehen können. Dieses letzte Bisschen Würde wollte sie sich dann doch noch bewahren. Die Kapuze ihres Umhangs halb über den Kopf gezogen, vergrub sie sich noch etwas tiefer in der rauen Wolle der Hängematte und zog die Beine weiter an, bis gerade so noch die in Stiefeln steckenden Füße hervorschauten. Immerhin das Schaukeln ließ etwas nach, obgleich sie das Schwingen der Matte noch immer deutlich spürte und beim Knirschen der Stricke fürchtete, sie könnten reißen.
Eine Weile lauschte Amelia auf das Knarzen des Schiffrumpfes, ließ sich von dem fast rhythmischen Stöhnen des Holzes beruhigen. Überrascht musste sie feststellen, dass es sogar ausgesprochen gut funktionierte. Irgendwann verblassten die Geräusche, verschwanden in den Hintergrund und schwiegen letztlich sogar gänzlich. Auch die Gespräche und von ausgelassener Stimmung zeugenden Geräusche aus den anderen Teilen des großen Raumes verschwanden bis es totenstill wurde. Der Schwindel in Kopfschmerz umgeschlagen, schreckte das Gefühl, aus irgendeinem Grund plötzlich allein im Bauch der Herz des Gerechten zu sein, die Adelige aus ihrer Ruhe. Mit rasendem Herzen und unangenehmen Ziehen im Bauch drehte sie sich auf die andere Seite und sah sich um.
Niemand. Sie wollte rufen, doch blieben ihr die Worte im Hals stecken. Nicht ihr Onkel, nicht ihre Zofe, weder Kolja, noch sonst jemand war in Sicht. Die zuvor noch belegten, nahen Hängematten fand sie nun verlassen vor, still zwischen den Balken hängend, als hätte schon lange niemand mehr in ihnen gelegen. Eisige Nervosität, ein schmerzhaftes Summen in den Eingeweiden, breitete sich in ihr aus, zwang sie aber gleichzeitig dazu, aufzustehen und sich weiter umzusehen. Die zahlreichen Laternen leuchteten ihr den Weg, führten sie zu den langen Tischen, an denen sie für gewöhnlich für die spärlichen Mahlzeiten gemeinsam saßen, und glühten doch merkwürdig kalt, als handele es sich nur um verlorene Irrlichter in morgendlichem Ufernebel.
Kein Ton entwand sich ihrer Kehle, nur das eigene Blut rauschte in ihren Ohren und ihr rasselnder Atem durchbrach die seidene Stille. Ob sie sich an Deck aufhielten? Amelia wusste es nicht, würde es aber herausfinden und lief eilig zum hinteren Ende des Schiffs. Das Pochen in den Schläfen verstärkte es nur, doch das versuchte sie so gut es ging zu ignorieren. Hastig nahm sie zwei Stufen auf einmal, erklomm die schmale Stiege, die es nicht einmal schaffte zu knarren, so schnell fegte sie hinauf. In plötzlicher Zuversicht und leichter Vorfreude schritt sie auf die Tür zum Oberdeck zu und stieß sie auf. Augenblickliche Schwere begann sie zu erfassen und sie zu erdrücken, als ihre Erwartungen und Hoffnung enttäuscht wurden. Niemand hielt sich hier auf, noch immer war sie allein, und noch dazu hielt eine merkwürdig diffuse Dunkelheit Masten, Segel und Takelage gefangen. Tanzende Lichtschimmer glitten wie gierige Finger über sie hinweg, tasteten sie ab und überließen sie letztlich doch der Finsternis.
Ein Blick nach oben versetzte die Bretonin dann in blankes Entsetzen, dass ihr der Mund offen stehen blieb und das Herz einen Moment aussetzte. Das Tageslicht zerstreute sich schimmernd und funkelnd über ihr, als befände sie sich unter Wasser. Noch während ihr dieser Gedanke kam, blieb ihr die Luft weg und erhöhte sich der Druck auf ihre Lungen ins Unermessliche. Waren sie gesunken und sah so ihr Jenseits aus? Nein, das konnte nicht sein! In Wut blubbernd Luft ausstoßend drückte sich Amelia vom hölzernen Grund ab und begann wild paddelnd zur Oberfläche zu tauchen, das Herz in der Brust zerspringend. Doch wirklich weit sollte sie nicht kommen. Hart stieß sie etwas von der Seite an, ließ sie herumfahren und im stummen Schrei den Mund aufreißen. Sie starrte in das weit aufgerissene Maul eines Hais, das gerade zuschnappte, als der Meeresräuber mit seinem Unterkiefer gegen ihre Schulter stieß. Gefroren im Schock kniff sie die Augen zusammen.
Mit dem nächsten Lidaufschlag blickte sie von unten auf die graubraune Wolle der Hängematte über ihr. Wieder berührte sie etwas an der Schulter und noch immer in heller Aufregung und Panik vom Haiangriff zuckte die Adelige zurück. »Seid Ihr wohlauf, Herrin?«, vernahm sie die weiche, sorgenvolle Stimme ihrer Zofe, die sich erst allmählich aus der verschwommenen Umgebung pellte.
»J-ja«, stammelte Amelia und rieb sich den kratzenden Schlafsand aus den Augenwinkeln. »Nur ein Traum«, erklärte sie und verdrängte die plötzlich absurd erscheinenden Bilder möglichst schnell aus ihrer Erinnerung, machte Platz für helle Erleichterung.
»Jetzt ist er vorbei«, lächelte die Dienerin sie an. »Doch verzeiht, dass ich Euch wecke.« Jela nahm ihre Hand von Amelias Schulter.
»Was gibt es denn?« Müde und doch glücklich seufzend richtete sie sich in der Hängematte auf und ließ die Füße seitlich heraushängen, zog sie jedoch zurück, als sie auf irgendetwas großes und robustes trafen. Animalisches Schnaufen quittierte ihr Ungeschick und gleich darauf tauchte der massige Kopf eines großen, wolfsähnlichen Hundes auf. Weißgraues, weiches Fell zierte das Haupt um die gelbbraunen Augen und die schwarze Nase. Rasvan. Glücklich dreinblickend ließ er die Zunge zwischen den spitzen Eckzähnen aus dem Maul hängen und hechelte ihr entgegen.
»Wir sind gleich da«, erklärte unterdessen die Zofe als ihre Herrin sich vorbeugte, ihrem treuen Haustier, einer Kreuzung aus Eiswolf und Schäferhund, durch das Fell strich und ihm einen dicken Kuss zwischen die Augen setzte. Erst in diesem Moment, als sie die Füße fest auf den Boden des Decks setzte, bemerkte Amelia, dass sich der Kahn nicht mehr von Wellen gebeutelt hob und senkte. Erleichtert schlang sie die Arme um den großen Halbwolf, der zwar die Statur und großteilig das Äußere seiner wilden Mutter besaß, aber das treue Gemüt seines Vaters geerbt hatte.
»Sehe ich schrecklich aus, Jela?«, wollte sie letztlich wissen, ohne die Augen zu öffnen oder ihr Haupt von Rasvan zu lösen. Die Benommenheit und der Schwindel, die mit der Seekrankheit einhergingen, hielten noch immer an ihr fest, wehrten sich dagegen, abgeworfen zu werden.
»Nicht, wenn ich mit Euch fertig bin«, erwiderte die Dienerin und zauberte der Adeligen das erste echte Lächeln seit einer gefühlten Ewigkeit auf die Lippen.
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Himmelsrand, Fürstentum Weißlauf
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Jeder von ihnen schepperte weithin vernehmbar. Skjor wegen seiner Rüstung, Vesa und Aela aufgrund des metallenen Geschirrs, das an ihren Felleisen baumelte. Die Leute auf den Straßen stoben auseinander, lange bevor die Drei eine Gelegenheit dazu hatten, sie aus dem Weg zu schieben. Obgleich die frostige Luft in den Lungen brannte, blieb von der Kälte nach kurzer Zeit kaum noch etwas zu spüren. Mit dem Herz nicht nur aufgrund der Anstrengung bis zum Hals schlagend, holte Vesana nach einer Weile zu Skjor auf und hängte ihn ab. In seiner schweren Rüstung kam er trotz der längeren Beine nicht mehr allzu schnell vom Fleck. Er schnaufte nur, als die Kaiserliche ihn überholte und nach einigen weiteren Schritten grummelte er gleich ein weiteres Mal. Ein Blick über die Schulter verriet, dass Aela ebenfalls das Tempo angezogen hatte. »Du wirst alt, Skjor«, zog ihn die rothaarige Nord auf und nahm die Beine in die Hand, um außer Reichweite der Arme ihres kahlköpfigen Freundes zu kommen. Ein bisschen Spaß musste dann doch noch sein, obwohl Vesa letztlich nicht in die Heiterkeit einstieg.
Durch das offene Tor verließ ihre kleine Gruppe die Stadt und hastete die steiler werdende Straße hinab, über die Zugbrücke und letztlich durch das alte Stadttor am Fuße des Bergs, auf dem Weißlauf errichtet worden war. Den letzten Abschnitt zu den Stallungen legten sie dann auch in Windeseile zurück. Schnaufend blieben sie am Zaun stehen, keuchten allesamt, stützten sich auf die Knie und hechelten sich die Lungen aus den Leibern. Die Jägerin gewann als erstes ihre Kondition zurück, schwang sich durch die Pforte der Koppel und marschierte schnurstracks zum Stall. Wie allen anderen, die ihn entsprechend entlohnten, räumte der Wart den Gefährten einen eigenen Abschnitt ein, kümmerte sich um Futter und Wärme der Tiere, pflegte und hegte sie, während sie nicht benötigt wurden. Drei an der Zahl, alles Braune mit buschigerem Fell an den Knöcheln. Typisch für die Huftiere im kalten Himmelsrand.
Sattel, Unterdecken, Taschen und sonstiges Zaumzeug hing an den Wänden des Kastens, in dem die Tiere standen und genüsslich ihr Stroh fraßen. Glänzendes Fell und kräftige Muskeln deuteten auf ihren gesunden Zustand hin. »Ah, die Herren Gefährten«, grüßte sie ein Mann mit rauer Stimme und trat aus einer der anderen Boxen heraus. Skulvar, mit langem, dunklem Haar und dichtem, auffälligem Schnauzer. »Kann ich helfen?«, wollte er wissen und lehnte seine Mistgabel gegen eine nahe Bretterwand.
»Danke, aber wir kommen zurecht«, erwiderte Aela und streifte ihren Tornister ab. Vesa und Skjor taten es ihr nach und begannen die Pferde vorzubereiten. Keiner beachtete den Stallmeister. »Eine andere Route als an Flusswald vorbei kommt nicht in Frage, nehme ich an?«, wandte sie sich an ihre Gefährten und warf dem ersten Braunen eine Decke über den Rücken.
»Ich kenne keine schnellere«, entgegnete Vesa und zurrte mit der Nord zusammen die Riemen des Sattels fest, den sie auf der Wollplane platzierten.
»Wir könnten einen Pfad im Hinterland des Pelagia-Hofes nehmen«, gab Skjor zu bedenken und kümmerte sich derweil allein um eines der Pferde. Die beiden Frauen hoben gleichzeitig die Köpfe. »Es gibt dort einen Weg, klein, ziemlich zugewachsen, jetzt im frühen Winter aber sicher schon frei von Gestrüpp.«
»Woher weißt Du das?«, hakte Aela nach, schaute ihn noch einen Moment an, dann widmete sie sich mit Vesa weiter dem Sattelzeug.
»Habe ich beim Jagen vor etlichen Jahren mal gefunden«, erklärte der Einäugige und hievte sein Gepäck auf den Rücken seines Pferdes, während die anderen das letzte Tier vorbereiteten. »War bislang eine unnütze Entdeckung, aber um Zeit zu sparen eignet er sich gut«, setzte er nach.
»Dann nehmen wir den«, entschied Vesa, die ohne dass es einer Absprache bedurfte ihr Unterfangen leitete. Zumindest ging sie davon aus, immerhin betraf es sie am stärksten und war ohnehin nur auf ihre Veranlassung hin zustande gekommen.
»Gut.« Der gerüstete Nord zurrte sein Schwert an der Seite seines Sattels fest und führte den Braunen aus dem Stall heraus. Die Jägerin und Aela schlossen in der Zwischenzeit ihre gemeinsamen Arbeiten ab und beluden ihr jeweiliges Tier. Die schnauften unter der neuen Last, gewöhnten sich aber auch schnell daran und würden sich sicherlich über die Bewegung freuen. Gegen die Kälte mochten sie durch die Decken und die Leder- und Fellbandagen an den Knöcheln ausreichend geschützt sein, zumal ihnen sicher auch von innen warm genug werden würde.
Etwas unbeholfen, zu lange hatte sie nicht mehr im Sattel eines Pferdes gesessen, aber letztlich erfolgreich schwang sich Vesana auf ihr Tier und nahm die Zügel in die Hände. Skulvar lehnte gerade am groben Zaun der kleinen Koppel und schwatzte mit einer Magd, die den großen, vollen Körben nach zu urteilen wohl gerade aus der Stadt kam. Umstandslos löste er sich von ihr, als er mit einem Blick über die Schulter die drei Gefährten bemerkte, und öffnete das Tor für sie. »Einen guten Ritt«, wünschte er und hob die Hand zum Gruß an den Kopf. Im Gegenzug erhielt er grimmiges Nicken und gleich darauf nur noch Hufgetrappel, als sie ihre Pferde in leichten Trab versetzten.
»Dann führe uns zu Deinem geheimen Pfad«, forderte sie Skjor mehr als dass sie ihn bat. Aber er schien sich nicht an ihrem Ton zu stören und leitete ihr Dreigespann zielstrebig von der großen Weststraße herunter am nahen Pelagia Gehöft vorbei und quer über die Steppen. Schnaufend, in steten Dunst um die Mäuler gehüllt, quittierten die Braunen die Belastung, aber es klang auch glücklich und ehrgeizig in den Ohren der Kaiserlichen. Den Tieren kam die Anstrengung trotz der Kälte gerade recht.
»Vesa, hast Du eigentlich schon eine Vorstellung davon, wie wir die Sache angehen wollen?«, fragte Aela hinter ihr. Genau dieselbe Frage hatte sie sich auch schon gestellt. Wirklich effektiv darüber nachgedacht hatte sie nicht, obgleich das eine oder andere aus dem Standardrepertoire durch ihren Verstand geisterte.
»Nein«, erwiderte sie dennoch. »Aber hatten wir nicht letztens die Debatte darüber, dass Helgen zerstört worden ist?« Die Kaiserliche blickte über die Schulter zu der Nordfrau, deren rote Haare im steten Auf und Ab des Ritts als Feuerschweif hinter ihrem Kopf wedelten.
»Kann mich nicht erinnern«, entgegnete sie.
»Ach richtig, das war am Abend vor Rias Geburtstag. Ihr zwei wart … unterwegs.«
»Kann sein. Was habt ihr besprochen?«, lenkte die Rothaarige auf den wichtigeren Punkt um.
»Das Helgen doch vor einiger Zeit zerstört wurde. Von wem oder was auch immer. Ich denke, die Ruinen dürften sich gut für einen Hinterhalt und diverse Fallen eignen«, erklärte Vesa daraufhin.
»Solange genug übrig ist«, wandte Skjor von vorn ein und erntete bitteres Brummen der Frauen.
»Jedenfalls sollten wir uns nicht unnötig Zeit lassen. Fallenstellen braucht in jedem Fall seine Zeit«, gab Aela zu bedenken. Die Kaiserliche nickte nur und wandte den Blick in die Richtung ihres Ritts. Hoch türmten sich dort weit vor ihnen die Berge auf. Tief an den schroffen Flanken hinab, auf den Wipfeln und Spitzen der vereinzelten, manches Mal in Grüppchen stehenden Bäume und auf den sonst grauen Felsen, überall puderte funkelndes Weiß die natürlichen Mauern der Welt. Der Winter hielt die Gipfel der Berge Himmelsrands bereits in festem Griff und dehnte seine Domäne immer weiter aus. Wo im Osten die Serpentinen ins Tal von Flusswald hinaufführten, auch wenn sie auf die Entfernung bereits stark in silbergrauem, winterlichem Dunst verblassten, zeichnete sich an ihrem oberen Ende ebenfalls die helle Glasur ab. Schnee reichte bis zur Talsohle und durfte zweifelsohne das verschlafene Städtchen etwas flussaufwärts einhüllen. Es würde also nicht lange dauern, bis auch ihre Gruppe in das eisig-weiße Vergnügen eintauchte.
»Der Pfad ist direkt hier im Hinterland?«, wandte sich Vesana an Skjor.
»Hmhmm. Wenn wir die Geschwindigkeit halten und es keine Zwischenfälle gibt, sollten wir es heute sogar noch halb hinauf schaffen«, erklärte er.
»Tatsächlich?«
»Ja. Weiter würde ich aber heute ohnehin nicht reiten«, wandte er ein.
»Weshalb das?«, wollte die Kaiserliche wissen und biss sich auf die Zunge, als sie sich ihres scharfen, regelrecht empörten Untertons gewahr wurde.
»Lange nicht mehr geritten, was?«
»Nein.«
»Es ist besser, wenn sich die Pferde akklimatisieren können. Sie haben lange keine Nacht mehr draußen verbracht. Lieber noch eine Nacht unterhalb der Schneegrenze verbringen und dafür morgen mehr Schaffen«, erläuterte er und Vesa brummte zustimmend. Recht hatte er, wenngleich es ihr nicht schmeckte, Zeit zu verschenken. »Wir sollten durch diesen Weg wenigstens einen halben Tag einsparen, die Pause dort können wir uns leisten«, fügte er an, sicherlich ahnend, was sie dachte und empfand. Obwohl seine Stimmlage kein Bisschen von ihrer üblichen Rauheit abwich, kam es der Kaiserlichen dennoch so vor, als signalisierte er so etwas wie Mitgefühl – grotesk und surreal wie es ihr auch erscheinen mochte. Vielleicht lag es an dem leicht zur Seite und somit mehr zu ihr gedrehten Kopf des Nords, vielleicht auch daran, dass er tatsächlich mehr als normalerweise sprach.
»Schon gut, danke«, erwiderte die Jägerin nach einer kurzen Pause und Skjor wandte das Gesicht wieder geradeaus. Die Thematik hatte sich somit geklärt. Entsprechend schweigsam setzten die Drei ihre Reise fort und näherten sich stetig dem Gebirge. Der eisige Wind aus den höheren Lagen verblasste mit der Zeit und verschwand mit zunehmender Taubheit der Haut als leises Zwicken in den Hintergrund, der feuchte Atem gefror unlängst zu dicken Eisknollen am Fellsaum der Kapuze und dem groben Halstuch. Aber die Anstrengung des Ritts, die Strapazen für die Beine und das Gesäß, das stete Wippen des massigen Pferdeleibs und gelegentliches Korrigieren der Laufrichtung hielten den Rest des Körpers der Kaiserlichen warm. Obschon in Gedanken schon mehrere Tage vorauseilend, blieb Vesana noch genug wohliger Komfort unter der dicken Kleidung, um wegen der einen oder anderen verlorenen und kitzelnden Schweißperle auf dem Rücken entnervt zu Brummen und vergeblich zu versuchen, den Juckreiz mit Kratzen durch die Jacke zu vertreiben.
Im Verlauf des Nachmittags zog ihr Weg schließlich an, wurde erst steiniger und auf wenigen hundert Schrittlängen derart steil, dass sich der Pfad in engen Serpentinen hinaufwinden musste. Zwischen dem im Herbst braun gewordenen, teils ergrauten Buschwerk und den vereinzelten Nadelhölzern ließ er sich, sofern nah genug, sehr leicht ausmachen. Allerdings blieb zu erahnen, dass in warmen Zeiten ein dichter Teppich aus saftigem Grün den schmalen Weg versteckte. Ihre Reittiere, die zuvor die Belastung wohl noch als Spaß empfunden hatten, begannen nun heftig zu keuchen und zu schnaufen. Aus dem leichten Trab wurde ein langsames Klettern und bedachtes Setzen der Hufe auf dem unebenen, teils losen Grund. Mehr als einmal sandte einer von ihnen grobe Felsbrocken den Abhang hinunter. Dazu versanken sie in den Schatten der hohen Gipfel und der Wind frischte auf, wie um ihnen zu zeigen, wer ab sofort das Sagen haben würde. Murrend zog Vesa ihren Kragen enger und korrigierte den Sitz ihrer Kapuze. Als wäre dem aber noch nicht genug, glaubte die Kaiserliche immer wieder Bewegungen im Halbdunkel auszumachen.
Mal schnell, mal langsam huschende Schatten, manches Mal in der Form eines Mannes und dann doch auch wieder in der eines Wolfes. Jetzt, wo ihre Umgebung in Undeutlichkeit zu verschwimmen begann, ihre Augen weniger klare Formen fanden, an denen sie die Realität festmachen konnten, drängten sich ihr immer mehr Erinnerungen, kurz aufblitzende Bilder, von Darius auf. Einmal stand er auf einem Felsen, beobachtete sie, gleich darauf bildete ein hervorstehender Stein die Nase seines Gesichtes in der Steilwand. Nur mit Mühe verdrängte sie die mit schmerzhafter Sehnsucht daherkommenden Gedanken an den Rand, kniff die Lider für lange Herzschläge zusammen, hoffend, die Illusionen mögen danach verschwunden sein. Mehr schlecht als recht gelang es ihr.
Obgleich die Drei nur langsam vorwärts kamen, in die Höhe schraubten sie sich schnell. Nach Norden offenbarte sich im nachmittäglichen Schein der Sonne, die längst Schatten von den Berggipfeln über die Tundra sandte, die ganze Weite des Fürstentums. Weißlauf strahlte und wirkte doch nur noch wie das Holzspielklötzchen eines kleinen Kindes verloren in den Weiten des Heims der Eltern. Eine durchaus ansehnliche Aussicht, doch kaum erlaubte sich die Kaiserliche einen kurzen Moment der Entspannung, musste sie auch schon wieder die Augen auf ihren Weg nehmen, damit sie ihr Pferd in die nächste Kurve lenken konnte.
»Dort oben der etwas größere Absatz – sollte ein guter Ort zum Rasten sein«, schlug Aela von hinten vor und meinte damit wohl augenscheinlich den Sims, auf dem eine Kiefer ihre Wurzeln geschlagen hatte, schief aus der Felswand ragte und sich an ihrem Fuß mit einigem Gestrüpp schmückte.
»Ja«, stimmte Skjor von vorn zu. Vesa nickte nur stumm vor sich hin, es schien in der Tat ein guter Ort für die erste Nacht zu sein. Noch blieb ihr Weg schneefrei, die Position wirkte einigermaßen Windgeschützt in einer flachen, senkrechten Kerbe im Abhang und schroffe Steinspitzen würden es auch ermöglichen die Pferde anzubinden, damit sie in der Nacht nicht aus Versehen in die Tiefe stürzten. Brennholz würden sie von den knorrigen Büschen sammeln können.
Während der Einäugige auf die andere Seite des lediglich etwas breiteren Wegabschnitts ritt, brachten die beiden Frauen ihre Reittiere vor dem Absatz zum Stehen. Steifbeinig schwang sich die Kaiserliche aus dem Sattel, schüttelte sie aus der Hüfte und den Knien erst einmal aus und band ihr Pferd erst danach an einem Stein fest. »Schlafen in drei Schichten, ist eh nur Platz für zwei zum Liegen«, schlug die Jägerin vor und erntete zustimmendes Nicken ihrer beiden Gefährten. »Ich mach direkt den Anfang.« Sie würde ohnehin so schnell keine Ruhe finden. Das nervöse Kitzeln in den Eingeweiden und die immer wiederkehrenden Erinnerungsblitze verhinderten, dass ihr Geist zur Ruhe kam. So starrte sie auch jetzt einen langen Moment in die Tiefe hinab, unschlüssig ob das schwerelose Ziehen im Bauch vom Blick nach unten oder doch von dem erdrückenden Trieb sofort weiterzureiten stammte. Erst einen Augenblick später schüttelte Vesana das Haupt und die Gedanken davon. Zunächst musste sie den anderen Beiden beim Lagerbau helfen. Zeltplanen spannen, Unterlagen ausbreiten und versuchen, mit den Herzsteinsplittern und dem dürren, gefrorenen Holz der Büsche ein Feuer zu entfachen. Eines stand für sie bereits jetzt fest: Es mochte eine lange, einsame Nacht werden.
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Himmelsrand, Fürstentum Weißlauf
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Der Aufbruch am nächsten Morgen fiel den drei Gefährten nicht gerade schwer. Trotz ihrer windgeschützten Lage nahm sie die Kälte der Nacht in engste Umarmung, unwillig jemals wieder von ihnen abzulassen. Das einzige, das ihnen half, war die Bewegung und Anstrengung auf den Rücken der Pferde. Die hatten ihre Rast zumindest dem Anschein nach gut verkraftet und stapften nun mit neuem Mut den steilen Pfad hinauf. Von den immer wieder zu ihnen hinabsinkenden, chaotischen Wolken aus losen Flocken, die der Wind aus den Bergflanken löste, ließen sie sich nicht beirren und auch als ihre Hufe das erste Mal knöcheltief im Weiß versanken, marschierten sie weiter. Treue und willensstarke Tiere, dass musste Vesa ihnen lassen. Ganz im Gegensatz zu den Pferden, wehrte diese sich eher störrisch gegen die schneidenden Eiskristalle in der Luft, rückte die Kapuze zurecht und zog die dicke Jacke höher. Als hätte es ihre Reise nach Solstheim nie gegeben, musste sich ihr Körper erst wieder an die konstante Kälte gewöhnen.
Inzwischen kam sie sich töricht vor, dass sie auf die Insel geflüchtet war, in einem verzweifelten Versuch, ihre Schuld zu vergessen oder wenigstens zu verdrängen, all die schönen und schmerzhaften Erinnerungen ins Verblassen zu treiben. Mittlerweile wusste sie, dass ihre Schuldgefühle nur eine allzu handfeste Berechtigung gehabt hatten, ein Umstand, der es ihr in diesen langen, zähen Momenten des Wartens nicht gerade einfacher machte. Eine einsame Träne fand ihren Weg aus Vesanas Augenwinkel und rollte ihr über die von der kalten Luft inzwischen ausgetrocknete Haut. Schnell wischte sie sie fort, damit sie ihr nicht irgendwo festfror – zumindest redete sie sich das ein.
Wenigstens deutete die steigende Zahl an Bäumen, die über ihnen aus der Wand ragten, auf ein baldiges Ende des Aufstiegs hin. Das Tal, in dem auch Flusswald lag, erfreute sich regen Bewuchses und mit etwas Glück handelte es sich bei den Schief über den Abhang wachsenden Stämmen bereits um dessen Ausläufer. Völlig ummantelt mit vom Wind grotesk verformten, tiefgefrorenen Schneewehen wirkten sie in den Morgenstunden wie mahnende Gespenster, die sich Unheil prophezeiend über sie hermachen wollten.
Die Kaiserliche schüttelte die Vorstellung aus ihren Gedanken. Ihr Kiefer mahlte schon angestrengt genug, wenn sie sich Gedanken darüber machte, wie sie Darius denn genau befreien wollten, da blieben nur noch wenige Nerven für die Auseinandersetzung mit widersinnigen Omen übrig. »Gibt’s oben eigentlich auch einen Pfad, Skjor?«, fragte sie den Einäugigen, um sich abzulenken.
»Bei dem Schnee? Unwahrscheinlich«, gab er zurück. »Aber das Terrain ist recht zugänglich, wir sollten also zügig vorankommen.« Die Jägerin nickte nur. Immerhin etwas.
Nach und nach flachte ihr Weg ab. Die Serpentinen wurden weiter, bis sie schließlich gänzlich unkenntlich unter einer dicken Schicht aus kalt-weißem Pulver verschwanden. Einige größere Felsbrocken durchbrachen die geschlossene, unberührte Decke, die das Leben in dem sich vor ihnen ausbreitenden Wäldchen zur Ruhe zwang. Bis zu den Knien versanken die Pferde darin, wobei sie sich dennoch nicht daran störten. Ihre langen, schlanken Beine fanden im Schnee kaum Widerstand und die stolzierenden Schritte durchbrachen das Weiß mühelos. Vesana empfand es obendrein als Segen, nicht mehr ständig in die Tiefe starren zu müssen. Die beklemmende, unterschwellige Befürchtung, jemand von ihnen könne fehltreten, verschwand damit endlich aus ihrem Hinterkopf und ließ ihren aufgeriebenen Geist etwas Luft zum Verschnaufen. Auch wenn sie aufgrund der mangelnden Sicht auf die Beschaffenheit des Untergrunds nicht zurück in leichten Trab verfallen konnten, endlich wieder in gerader Linie reiten zu können verlieh ihren Reisebemühungen zumindest den Anschein endlich vom Fleck zu kommen.
»Wenn wir uns allmählich von den Berghängen hier entfernen, sollten wir früher oder später die Straße nach Flusswald kreuzen«, bemerkte Aela und zog mit Vesana gleich, während sie im üblichen Trott weiterritt.
»Ja, sollten wir. Flusswald liegt etwas südöstlich von hier, also behalten wir die Bergflanken immer rechts im Blickfeld«, stimmte der Einäugige von vorn zu.
»Flusswald sollten wir heute auch definitiv noch erreichen, wenn wir im Zeitplan bleiben wollen«, gab Vesana zu bedenken und erntete zustimmendes Brumme der beiden Nord.
»Und wenn wir vermeiden wollen, dass uns das Wetter dazwischenfunkt«, fügte die Rothaarige einen Moment später hinzu und zwang die Kaiserliche somit den Blick zu heben. Zwischen den nackten Ästen der kahlen Laubbäume hindurch blieb die Aussicht in Richtung Süden und tiefer ins Tal weitestgehend frei. Sogar die Höhenlagen des Massivs auf der anderen Seite des Flusses, den sie noch überqueren mussten, waren inzwischen einsehbar. So allerdings auch die dicken, grauen Formationen von Wolken, die sich über die Grate und Pässe wälzten und allmählich in das Tal quollen wie dicker Nebel über die Uferbänke eines Flusses am Morgen.
»Wenn wir uns sputen, kann uns das nützen«, erwiderte die Jägerin, nachdem sie das erste Zwicken und mulmige Krampfen in den Eingeweiden niedergerungen hatte.
»Sehe ich auch so«, stimmte Skjor zu und drückte seinem Pferd deutlich die Fersen in die Flanken. Die Frauen folgten. Kein Trab, aber schneller als zuvor, gerade so an der Grenze, damit sich ihre Reittiere mit Fehltritten selbst verletzten und Zeit zum Reagieren hatten, sollten sie stolpern. Die hereindringenden Wolkenformationen mochten zwar von schlechtem Wetter künden, aber solange sie vor dessen Einbruchs in Helgen ankamen, oder es zumindest nicht mehr weit hatten, würde es ihnen in die Hände spielen. Spurenlesen wäre dann unmöglich und Fallen ließen sich ausgesprochen gut verstecken. Natürlich würde auch ihre Frühwarnzeit schrumpfen, aber das mochte sich verkraften lassen. Nun schneller unterwegs, füllte warme Zuversicht ihre Brust aus. Ein schmales Lächeln der Hoffnung verzog Vesas Lippen und jagte die Vorstellungen davon, wie sie im Trio über die ahnungslosen Kämpfer der Silbernen Hand herfielen, in neue kreative Höhen.
Der bloße Gedanke, sich für all das Leid und all den Schmerz an ihnen rächen zu können, der Verbitterung der letzten Monate und dem eisig kalt gewordenen Hass freien Lauf zu lassen … Ihre Hände ballten sich zu Fäusten um die Zügel, brachten das Leder zum Knirschen und mit halb geschlossenen Augen den Bildern folgend, zuckten einzelne Muskelstränge im Hals und den Armen. Beinahe hätte sie sogar ausgetreten, wäre ihr nicht im selben Moment ein Schwarm loser Flocken auf einer Böe ins Gesicht getrieben. Vom plötzlichen Kälteschock überrumpelt, atmete die Kaiserliche tief durch, schüttelte sacht das Haupt und seufzte anschließend nochmals. Die langsam hervorgetretenen Eckzähne und das stumme Vibrieren im Hals, Vorahnung eines erregten Knurrens, rang sie nieder. Noch war es zu früh für solcherlei Gedanken und verfolgte sie sie weiter, würden sie letztlich nur die Befriedigung mit falschen Erwartungen schmälern oder sie zu Fehlern aus Nachlässigkeit verleiten. Nein, es war an der Zeit, das Grübeln einzustellen und sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Kurz nach der Mittagszeit erreichte die Gruppe die Straße, die sie nach Flusswald führen würde. Zwar ebenfalls im Schnee versunken, zeichneten sich dennoch die Spuren zahlreicher Reisender ab. Schmale Karrenräder durchbrachen die Schneisen, die zu Fuß reisende gezeichnet hatten und die Abdrücke von Pferdehufen zertrampelten die dünnen Furchen im Weiß. Mancherorten hatte sich der Schnee bereits festgetreten, an anderen Flecken war er verweht worden und gab die groben Pflastersteine frei. Den Gefährten mochte es alles recht sein. In der Gewissheit, auf befestigtem Grund mit wenigen groben Unebenheiten unterwegs zu sein, trieben sie ihre Reittiere weiter an und verfielen in lockeren Trab.
Auffrischender Wind, der feuchtkalte Südluft mit sich brachte, an den Zweigen rüttelte und locker darauf liegenden Schnee davonwehte, hielt ihnen zwar entgegen, vermochte es nicht die Drei zu bremsen und auch vom feinen Sprühnebel, den die bald neben der Straße auftauchenden Kaskaden des Weißflusses im Unterholz verteilten, wollten sich die Gefährten nicht beeindrucken lassen. Im Gegenteil, Vesana half es sogar dabei, die Gedanken zu konzentrieren und sich von düsteren Grübeleien abzulenken. Funkelnde Eispanzer hatten sich an Stämmen, Steinen und Zweigen gebildet, wo die feinen Tröpfchen der Gischt niedergefallen waren. Die letzten Strahlen der Sonne, die wohl bald hinter dicken Wolken verschwinden würde, brachen sich darin, ließen sie wie Edelsteine glitzern. Auch auf das wenige noch aktive Waldleben schien der Anblick magisch zu wirken. Auf der anderen Seite des Stroms ruhte sich gerade ein Elch mit mächtigem Geweih aus, hatte den wuchtigen Kopf auf das Dreigespann ausgerichtet und beobachtete doch weniger sie, als das, was zwischen ihnen lag: Ein Meer aus gefallenen Sternen in der eisigen Umarmung des Winters.
Doch letztlich riss der Blickkontakt ab, die Windungen der Straße verschwanden zwischen groben Felsen und durchbrachen scharfe Absätze im Waldboden, als hätte sich irgendwann einmal der Untergrund aufgeschoben. Das Rauschen des Flusses, an seinen ruhigeren Abschnitten von den Rändern her bereits eingefroren, blieb aber noch immer weithin vernehmbar zwischen den kahlen Bäumen hängen. Monoton und allgegenwärtig zerstreute es jeden Gedanken und verlieh dem ewigen Weiß etwas Befriedendes.
Als sie letztlich auch die zerklüftete Passage hinter sich ließen, kam die Idylle zu einem jähen Ende. Von einem Herzschlag auf den nächsten verschwanden die hellen Sonnenstrahlen, verbargen sich in trübem Grau, und gaben den Weg für eisige Böen frei. Beinahe widernatürlich frostig trugen sie scharfe Flocken mit sich, erst wenige und vereinzelte, bald brach dichtestes Treiben als und raubte ihnen die Sicht. Kein vollblütiger Sturm, dafür blieben die Phasen, in denen der Wind abflaute und die Flocken ruhiger zu Boden segelten, noch zu lang. Aber mit Pech mochte das richtige Unwetter nur allzu bald losbrechen.
Vorerst schaffte es ihre Gruppe aber unbeschadet und nur allmählich auskühlend zur Brücke, die den Weißfluss kurz vor Flusswald kreuzte. Es fehlte dann auch nicht mehr viel und sie näherten sich dem Dorf, den Trab zu einfachem Laufen reduzierend. »Es bleibt genug Zeit, noch ein Stück des Weges nach Helgen zurückzulegen«, gab Vesana zu bedenken und griff damit möglichen Überlegungen einer Rast im warmen Wirtshaus, das sich ihnen bald zur Linken offenbarte, vorzugreifen.
»Ja, und das sollten wir nutzen«, stimmte Skjor zu. Die Kaiserliche hatte ohnehin nicht angenommen, dass es Widerreden geben würde, daher überraschte es nicht. Dennoch füllte es sie mit molliger Erleichterung aus, dass er es tat.
»Ich hoffe, Ihr bringt keinen Ärger?«, brummte sie eine bärige Männerstimme von oben herab an. Eine Wache in dicker Lederrüstung und gelbem Überwurf lehnte sich oben auf dem Tor, das Flusswald am Nordende abschloss, über das hölzerne Geländer. Das Emblem des Jarls von Weißlauf prangte auf seiner Brust.
»Nur auf der Durchreise«, erwiderte Vesana und wollte einfach weiterreiten. Allerdings zog Skjor an seinen Zügeln und brachte sein Pferd zum Stehen, so dass den beiden Frauen nichts anderes übrigblieb, als es ihm gleichzutun.
»In dem Wetter? Sicher«, sprach die Wache gedehnt und stieß sich ruppig von der Brüstung ab. Zügig kletterte sie auf der Innenseite der Wehrmauer nach unten und kam letztlich direkt auf sie zu. Wenige Schritte von ihnen entfernt blieb der kräftige Nord stehen, musterte sie aus dunklen Augen heraus und zupfte sich am dichten Bart. »Was wollt Ihr?«
Die Kaiserliche schwieg, biss sich auf die Zunge, um keinen schnippigen Kommentar fallenzulassen. Dass sich ihre Hände wieder fester um die Zügel schlossen, ließ sich jedoch nicht verhindern. »Wir sind auf dem Weg nach Helgen«, antwortete unterdessen Aela zwar höflich, aber Vesa glaubte auch bei ihr einen gut verborgenen, entnervten Unterton auszumachen.
»Helgen? Und was will ein leicht bepacktes Gespann wie das Eure zu dieser Jahreszeit in Helgen? Es wiederaufbauen, vielleicht?«
»Die Angelegenheiten der Gefährten sind für Euch nicht von Belang«, konterte Vesana und schickte sich an, die Reise fortzusetzen.
»Gefährten, hm?«, fragte der Wachposten zurück und zwang die Kaiserliche damit, noch etwas zu warten. Er schwieg einen Moment und strich sich seine üppige Mähne zurück. »Was auch immer. Bleibt Ihr die Nacht hier?«
»Auf der Durchreise«, mischte sich nun Skjor ein.
»Ich nehme das als Nein. Von mir aus, wenn Ihr Ärger machen wolltet, hättet Ihr’s wohl schon längst tun können«, gab der Soldat schließlich nach und trat aus dem Weg. Ohne weiteren Kommentar setzten sich die Drei darauf in Bewegung. Es gab weder etwas zu besprechen. Die Augen der Wache glaubte Vesa zwar noch eine Weile auf sich ruhen zu spüren, mit einem trotzigen Ausschütteln der Schultern löste sie sich jedoch davon.
Mattes Licht, vom Treiben getrübt, zeichnete die Häuser auf lange Entfernungen ins Grau. Und auch die näherliegenden Gebäude verschwammen deutlich wie Schatten im Nebel. Schnee verbarg ihre Dächer und die Dunstschwaden über den Schornsteinen verwehten mit den Windstößen. Nur wenige der Bewohner kämpften sich durch die Kälte.
Die Handvoll Tapferen auf der Dorfstraße blieben allesamt stehen und beobachteten die Neuankömmlinge. Ob nun die allesamt bärtigen Nord, oder die wenigen Frauen, sie wirkten nicht nur vom Wetter mitgenommen, sondern auch skeptisch beim Anblick der drei bewaffneten Reisenden. Verschlossene Gesichter, in abfälliger Verwunderung verzogene Lippen und Augenbrauen – wirklich willkommen hieß sie hier niemand. Unter anderen Umständen hätte es Vesa ihnen nicht verübeln können. Die meisten Reisenden, die sich mit leichtem Gepäck durch derart miserables Wetter schlugen, führten oft nichts Gutes im Schilde. Mehr als einmal waren die Gefährten wegen genau solchen zwielichtigen Gestalten angeheuert worden. Hinzu kam noch, dass es wohl kaum noch ein, oder zwei Wochen sein mochten, bis die Pässe nach Süden gänzlich unpassierbar wurden. Wer sich irgendwohin aus dem Staub machen wollte, nutzte das aus. Wohl auch ein Grund, warum die Silberne Hand gerade jetzt noch einen Konvoi über die Grate sandte, um mögliche Verfolger und Nachforschungen im wahrsten Sinne im Nichts – im weißen Nichts – verlaufen zu lassen.
Flusswald blieb letztlich hinter ihnen zurück, verschwand im Wetter, als wäre es nie dagewesen. Die letzte Etappe brach somit an und wenn sich das Schneetreiben nicht drastisch verschlechterte mochten sie vermutlich sogar schon am Abend des nächsten Tages, oder vielleicht der Nacht, das in Schutt und Asche gelegte Festungsstädtchen Helgen erreichen. Ein Gedanke, der den Bienenschwarm in Vesanas Bauch erneut aufscheuchte und sie nervös auf der Unterlippe kauen ließ. Noch war es nicht so weit, aber jeder Schritt brachte sie näher an Darius, und trieb die Ungeduld in die Höhe, dass ihre Zehen in den Stiefeln zu scharren begannen und die Finger wie Regenwürmer auf der Erde zu tanzen begannen. Die Schwerelosigkeit in den Eingeweiden und das schwindende Gefühl in den vom Sitzen allmählich taub werdenden Oberschenkeln taten ihr Übriges. Lange seufzend schloss die Jägerin die Lider. Eines stand wohl schon jetzt fest: An Schlaf wäre in der kommenden Nacht abermals nicht zu denken.
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Dröhnendes, markerschütterndes Grollen schreckte Vesana aus ihrem gedankenverlorenen Halbschlaf hoch, als sie an einem Baum lehnend ins niedrige und gegen die dicht treibenden Flocken ankämpfende Lagerfeuer starrte. Die orange glühenden Flammenzungen brannten sich aus der Dunkelheit der Nacht herausstechend schmerzhaft in ihre müden Augen. Aber den Blick hatte sie bis jetzt nicht abwenden wollen, beruhigte der Anblick doch auch die hinter ihrer Stirn wild stürmenden Gedanken. Allerdings sollte es damit nun vorbei sei. Skjor und Aela saßen blitzschnell kerzengerade auf ihren Nachlagern und stecken die Köpfe unter der Zeltplane hervor, während das tosende Donnern noch immer anhielt, von überall her auf sie niederdrückte.
Herzflatternd und unruhig ihre Mulde im Schnee festigend, hob die Kaiserliche das Haupt und richtete den Blick in die Dunkelheit. Echos der Flammen tanzen ihr vor den Augen, verhinderten, dass sie auch nur irgendetwas erkannte, zeichneten die Gesichtszüge eines kaiserlichen Mannes in die Nacht. Kurz verzog sie den Mund in Wehmut, schloss die Augen, bis ihr das Bild auf der Innenseite der Lider noch stärker zu schimmern schien. Leise seufzend öffnete sie sie wieder, das schwerelose Ziehen des furchtsamen Lauschens in die Dunkelheit war ihr lieber als das heiße Stechen in der Brust.
Der Morgen verbarg sich noch hinter den Gipfeln und selbst wenn er seine schüchternen Strahlen womöglich bereits irgendwo über das Land schickte, im Tal von Flusswald mochte es noch lange dauern, bis sie zu den Gefährten vordrangen. »Lawine?«, fragte Aela mehr zu sich selbst denn laut in die Runde. Vesa brummte nur und verschränkte die behandschuhten Finger ineinander, ließ die Daumen miteinander ringen und fuhr sich mit der Zunge durch den Mund. »Nahe?«
»Schwer zu sagen«, entgegnete die Jägerin und rieb sich über die Lider. »Vermutlich auf der anderen Flussseite«, mutmaßte sie aber noch. Für gewöhnlich, wenn eine Lawine in der Nähe abging, ließ sie sich bei entsprechender Größe nicht nur hören, sondern auch im Boden spüren. Das Grollen der Schneemassen versetzte dann den Grund in Schwingung, ein leises Vibrieren, ein summender Bienenschwarm im Erdreich. In diesen Momenten blieb es jedoch aus, obgleich das Tosen aufgrund der Lautstärke durchaus so klang, als rollte der weiße Tod nicht allzu weit entfernt die Bergflanken hinab. Der Schluss, dass der Schneesturz deshalb zwar in der nahen Umgebung, aber auf der anderen Seite des Flusses in die Tiefe rollte, lag daher nahe.
Noch bevor Vesana ihre gedankliche Erörterung des Schlusses abgeschlossen hatte, begann das Dröhnen allmählich zu verebben. Leise stieß sie Luft aus, ein schwaches Seufzen der Erleichterung, dass sie zumindest damit Recht behalten hatte, nicht in der Einzugsschneise der Lawine zu rasten. Schweigend verschwanden Skjor und Aela, die noch kurz in den Wind gelauscht hatten, zurück im Zelt. Es blieben noch ein paar Stunden zur Nachtruhe, die wollte ihnen die Kaiserliche auch nicht abringen, obwohl sie sicherlich alle auf einen Schlag etwas munterer geworden waren. Im Dunkeln bei derartigem Wetter zu reisen endete schneller im eigenen Tod als andere Dummheiten, dazu bedurfte es noch nicht einmal einer Lawine.
Letztlich verging das Warten bis zum frühen Morgen schneller, als die Kaiserliche befürchtet hatte. Die hypnotischen Flammenzungen ließen die Zeit rasch verfliegen, obgleich sie ein Gefühl gähnender Leere in Vesa zurückließen, ganz als hätten sie ihren Geist aus ihrem Haupt gebrannt und sie von innen ausgezehrt. Schwermütig, träge und müde hievte sich die Jägerin auf die Füße, grabschte ungelenk am Stamm des Baumes entlang, gegen den sie sich gelehnt hatte, und versuchte so die vom stillen, unbewegten Sitzen völlig steif gewordenen Beine irgendwie aus ihrer Starre zu lösen. Von Kopf bis Fuß in einen zweiten Pelz aus weißen Flocken gehüllt, hielt sich Vesana einen Moment am Gehölz fest, rang um ihr Gleichgewicht, und erst ganz zum Schluss, nachdem das Gefühl in ihre Zehen zurückgekehrt war, begann sie damit sich den frostigen Mantel abzuklopfen.
Es bestand keine Notwendigkeit dafür, Aela und Skjor zu wecken, die beiden wachten von ganz allein auf, als die immer niedriger werdenden Flammen an Kraft verloren und es dennoch immer heller wurde. »Morgen«, grunzte der Einäugige und verließ als erster das mickrige Zelt. Die Kaiserliche nickte nur, Worte froren ihr im Hals fest, wollten nicht recht herauskommen. Ein dicker Kloß schien sich ihr im Rachen geformt zu haben, unterdrückte jeden Hunger, jede Empfindsamkeit außer der schmerzhaften Sehnsucht aufzubrechen, schnellstmöglich Helgen zu erreichen und all dem Leid, all den langen Nächten versunken in Tränen, Wut und Abscheu, ein Ende zu setzen. An ihrem Himmel stand nur noch ein einziger Stern, der den Weg wies, und solange dies so war, verblasste alles andere um sie herum in immergraue Bedeutungslosigkeit.
Noch während auch Aela sich aus dem Unterstand pellte, begann die Jägerin bereits damit, Schnee in einem Topf über den verbliebenen Flammen zu schmelzen und einiges getrocknetes Fleisch in deren warmer Aura aufzutauen. Wenig später bauten die Drei das Zelt gemeinsam ab, verstauten alle Utensilien und frühstückten auf den Rücken ihrer Pferde.
»Der Wind wird stärker«, stellte die rothaarige Nord fest und zog sich die Jacke höher.
»Hmm«, brummte Vesa lediglich. Auch die Menge an Schneeflocken schien größer zu werden. Der Hauptpulk der Schlechtwetterfront mochte wohl gerade erst über die Bergkämme ziehen.
»Helgen können wir dennoch erreichen«, zeigte sich Skjor zur Abwechslung optimistischer. Mit den beiden Frauen auf Frust getrimmt war es nun an ihm die Gruppe wenigstens etwas bei Laune zu halten. Eine willkommene Erleichterung und dass er Recht behalten sollte, zweifelte die Kaiserliche spätestens ab dem Moment nicht mehr an, als sie den Fuß der Serpentinenstraße, die zur Bergstadt hinaufführte, erreichten. Im ewig weißen Schneetreiben etwa um die Mittagszeit ließen sich, obwohl sie direkt neben dem Weg standen, die Wächtersteine kaum erkennen, aber sie blieben eine Wegmarkierung. Der Aufstieg dauerte mit einem Karren führ gewöhnlich einen halben Tag, vielleicht etwas mehr. Zumindest bei schönem Wetter. Leicht bepackt kamen sie in miserabler Witterung wohl vergleichbar schnell voran.
»Sehen wir es positiv«, erhob Aela die Stimme, als sie an einem tief eingeschneiten Schild vorbeikamen, und sah sich um. Drei Pfeile hatte der Wind mit Flocken verkleistert und die Kaiserliche ritt zu dem Holzpfosten hinüber, als die beiden Nord stoppten. Vom Rücken ihres Reittieres vermochte sie sich ein Stück hinabzubeugen und mit den Fingern der Rechten die eingekerbten Schriftzeichen zu befreien. »Falkenring«, »Helgen«, »Flusswald« standen auf den drei Pfeilen.
»Sehen wir was positiv?«, hakte Vesana schließlich nach.
»Wenigstens in der letzten Stunde ist hier niemand vorbeigekommen«, entgegnete die Nord. Erst jetzt fiel es der Jägerin auf. Obgleich der dichte Schneefall sämtliche Spuren binnen kurzer Zeit davonwusch, wäre hier ein großer Tross mit Karren und angeketteten Sklaven vorbeigekommen, das Unwetter hätte einige Zeit damit zugebracht, ihre Furchen in der geschlossenen Decke auszugleichen.
»Oder sie sind schon vor einigen Tagen hier vorbeigekommen«, murmelte die Jägerin und riss an den Zügeln, um ihr Pferd vom Schild abzuwenden. Im rauschenden Wind des immer mehr zum Schneesturm werdenden Niederschlags blieben ihre Worte allerdings wohl unbemerkt. »Lasst uns weiterreiten, kein Grund, unsere Spuren länger als nötig frisch zu halten«, setzte sie lauter nach. Wenn es schon vorher keinen Grund oder Rechtfertigung für Trödelei gegeben hatte, so schlug es nun in regelrecht strafbare Dummheit um, länger als nötig am Wegesrand zu verweilen. Der Konvoi, den sie abfangen wollten, konnte ebenso gut direkt hinter ihnen sein, wie auch einen oder zwei Tage auf sich warten lassen. Im Falle des ersteren Umstandes mochten frische Spuren im Schnee bei diesem Wetter für die Anhänger der Silbernen Hand trotz eines wahrscheinlichen Zufalles Grund genug für Vorsicht und Misstrauen sein. Beides konnten die drei Gefährten nicht gebrauchen.
»Ich schlage vor, wir umrunden Helgen in sicherem Abstand und nähern uns von Süden«, meinte Skjor am frühen Nachmittag.
»Gute Idee. Auf die Weise können wir die Pferde irgendwo außer Sicht im Wald anbinden während wir es auskundschaften und sie später gefahrlos nachholen«, erwiderte Vesana und erntete ein kräftiges Brummen des Nord. Zeit genug blieb ihnen. Zwar lag noch immer eine gute Wegstreckte zwischen ihnen und dem Dorf, aber mit Einbruch der Dunkelheit sollten sie es erreichen. Noch eine Übernachtung außerhalb erschien jedenfalls unnötig.
Nichtsdestotrotz trieb die Kaiserliche ihrem Pferd die Fersen in die Flanken und spornte es dazu an, stärker gegen den heftiger werdenden Gegenwind anzukämpfen. Inzwischen waren die Gefährten auch dazu übergegangen die Wolfsrudeltaktik anzuwenden – einer führte für einige Zeit und die anderen folgten in seiner Spur. So verbargen sie zum einen ihre genaue Anzahl, zum anderen konnten sich so die Nachfolgenden etwas erholen, während sie in der Spur des ersten trotteten. Gerade übernahm Vesana die Führung und wollte dies entsprechend nutzen. Skjor und Aela nahmen es kommentarlos hin. »Wir sollten bald nach Osten von der Straße abweichen, wenn wir Helgen nicht zu nah kommen wollen«, gab der Einäugige jedoch zu bedenken.
In einem etwas lichteren Moment glaubte die Kaiserliche sogar bereits den verwaschenen Schemen ihres Reisezieles im breit verlaufenden Abhang auszumachen, doch eine Schneewehe raubte ihr gleich darauf die Sicht. Schnaufend zerrte sie daher an ihren Zügeln und lenkte ihr Reittier ins Unterholz. Es mochte genauso gut ein großer Felsen oder irgendetwas anderes gewesen sein. Das letzte Mal, als sie Helgen und in diesem Gebiet vorbeigekommen war, lag Jahre zurück, ihre Erinnerung mochte ihr in Anbetracht der immer heftigeren Stiche im Magen daher den einen oder anderen Streich in der Gegenwart spielen. Sie würde das Dorf früh genug von Nahem sehen, es gab keinen Grund, die brennende Ungeduld und das Verlangen, sofort dort zu sein, mit Einbildungen und Tagträumereien zu nähren und zu verschlimmern.
»Vesa, ich übernehme«, gab Aela kund, als sie an der Kaiserlichen vorüber ritt. Kurz lag dieser ein bitterer Widerspruch auf der mühsam beherrschten und zwischen den Zähnen gefangengehaltenen Zunge. Letztlich schaffte sie es aber, sich zu beherrschen und der Nord lediglich ein grimmiges Nicken zu schenken. Nicht zu trödeln und sich unnötig zu beeilen waren zweierlei verschiedene Dinge, das musste sie sich immer wieder einträufeln – und obgleich sie sich unterschieden, mochten sie beide ungewünschte Konsequenzen haben, die letztlich nur eines zur Folge haben konnten: Ihr Scheitern.
»Die Senke sollte sie vor dem stärksten Wind schützen«, bellte Skjor gegen den im Verlauf des frühen Abends heftig gewordenen Wind. Inzwischen umfing sie spätabendliche Dunkelheit, während die Drei ihre Pferde im Wald anbanden und die nötigste Ausrüstung schulterten. Aela und Vesa mussten zähneknirschend hinnehmen, dass es keinen Sinn hatte die Bögen mit Sehnen zu bespannen. In derartigem Sturm folgen Pfeile überall hin, nur nicht geradeaus, und die Sicht mochte ohnehin als bestenfalls eingeschränkt beschrieben werden. Entsprechend rückten sie ihre Dolche zurecht, prüften, dass sie nicht in den Scheiden festgefroren waren, und banden sich die Schwerter auf die Rücken. Wenig später pirschte Vesana an der Spitze, gefolgt von der rothaarigen Nord, und den Schluss stellte Skjor.
In der voranschreitenden Dunkelheit hoben sich selbst die schwarzen Baumstämme kaum noch vom Schnee ab. Es glich einem Taumeln und Straucheln, blind und orientierungslos. Fast zumindest. Oberschenkeltief im Weiß versinkend brauchte das Gespann seine Zeit, schweigend und jeder in seine eigene Nervosität versunken. Für Vesa war es das Ringen zwischen Konzentration und träumerische Hoffnung, Wut und Begehren, das sich durch ihre Eingeweide grub wie ein hungriger Wolf durch seine Beute. Die Finger eiskalt, nahezu völlig taub, und doch schwitzten sie, arbeiteten im eigenen Sud unruhig im Fellfutter der Handschuhe. Unfähig zu sprechen schluckte sie unentwegt zähen Speichel hinab, als ränge ihr Leib nach Wasser.
Erst als die in der Nacht schwarz erscheinende Mauer des Dorfes weniger als zwei Dutzend Schritte vor ihnen auftauchte, lösten sich ihre Kiefer aus den festgefrorenen Ankern, um einen kräftigen Stoß angestauter Atemluft herauszulassen. Im etwas lichter werdenden Gehölz hielten sie inne, kauerten sich in den Schutz einiger Felsen und eines Baumes. »Kein Licht von der Mauer«, bemerkte Aela und hielt den Blick deutlich auf die Schutzanlage gerichtet.
»Muss nichts heißen«, mahnte Skjor und erntete ein Nicken der Kaiserlichen.
»Das Tor ist dort drüben.« Vesa deutete nach rechts. »Die Mauer sieht weitestgehend intakt aus, ich schätze, dass wir dort am ehesten ins Innere kommen.« Die Nord brummten leise, zumal irgendwann zu ihrer Linken ohnehin die Berge schroff in die Höhe schossen und ein Umrunden des befestigten Dorfs auf dieser Seite unmöglich machten. Ohne, dass es eines weiteren Kommentars bedurfte, setzten sie sich erneut in Bewegung. An den Fuß der Wehranlage geduckt, schlichen sie an dieser entlang, bis vor ihnen der bullige Aufbau eines Torhauses auftauchte. Das Dach teils eingerissen, Bretter und Latten hingen in Fetzen und an nur noch dünn wirkenden Fixpunkten hinab. Ein massiver, dunkler Schemen ragte aus dem Mauerdurchlass hervor. Das eigentliche Tor, wie Vesana im Näherkommen erkannte. Einige Stellen wirkten dunkler als der Rest, regelrecht versengt.
Kurz vor dem Durchgang hielten sie inne. Windrauschen in den Ohren, das heftige, schmerzhafte Pumpen des Herzens in der Brust und das Dröhnen in den Adern hörend, verschnaufte die Jägerin und versuchte über all dem Lärm ihrer Gedanken und dem Umfeld auszumachen, ob sich auch nur irgendjemand hinter der Mauer aufhielt. Erst, als sie sich sicher fühlte, dass sie tatsächlich niemand Fremdes hörte, schob sie ihr Haupt langsam um die Ecke. Während auf der anderen Seite des Durchlasses der Torflügel schief in den Angeln hing, fehlte er auf ihrer Seite komplett. Das erleichterte es ihr.
Mit der linken Hand immer am Gürtel, fest um den Griff eines der Dolche geschlossen, und die rechte bereit über die Schulter zu schnellen, beobachtete sie die Szenerie im Innern. Ebenso erleichtert wie bis ins Bein besorgt mahlte Vesa mit den Zähnen. Nur mühsam drängte sie das aufkeimende Unwohlsein im Bauch zurück und rang den Kloß im Hals hinab. »Soweit nichts zu sehen«, flüsterte sie schließlich und wandte den Kopf nach links. Auf den von der Kälte mitgenommenen Gesichtern zeichnete sich nichts als Entschlossenheit ab. Grimmig nickten sie.
Schnell machte sich das Gespann daran, das Tor zu durchqueren, doch nach wenigen Schritten zischte Skjor im Fluch. Aela und die Kaiserliche zogen noch während sie sich zu ihm umdrehten die Dolche aus den Scheiden. Das metallische Schaben ging im Wind unter. »Was?«, hakte Aela nach als sich kein Grund erkennen ließ, die Stimme seidig-dünn. Ihr einäugiger Freund steckte überraschend tiefer im Schnee und kämpfte sich gerade erst wieder aus den weißen Fluten heraus. Schnaufend stampfte er einmal kräftig mit dem Fuß auf. Simultan blickten die Frauen nach unten.
»Bin am Tor hängengeblieben«, erklärte Skjor schließlich, als sie es noch immer nicht begriffen. Entnervt schüttelte Vesana das Haupt, verstaute ihre Waffe und wandte sich nach vorn. Einige Häuser rahmten die Straße ein, allesamt wirkten sie mehr wie hohle Gerippe, denn wohnliche Bleiben. Im Näherkommen wusste sie auch, warum. »Ausgebrannt«, fasste es der Einäugige treffend zusammen.
»Ziemlich heftiges Feuer, wenn es zwischen so weit auseinander stehenden Häusern übergesprungen ist«, meinte Aela als sie sich hinter eine der Ruinen duckten.
»Leise«, maßregelte die Jägerin sie. »Wir sind noch nicht fertig.« Schweigen hielt Einzug und im Schutz der alten Häuser, wo der heftige Wind von außerhalb der Dorfmauern kaum noch Kraft zu besitzen schien, hörte sie auch wieder ihren eigenen Herzschlag, wie er ihren Gedanken den Takt gab. Angestrengt huschten ihre Augen über die Umgebung, entdeckten aber noch immer nichts. Kein Zeichen von irgendeiner Form von Leben. Nicht einmal wilde Tiere, die in den hohlen Gebäuden Zuflucht und Schutz vor der Witterung suchten. Die gespenstige Leere und Leblosigkeit dieser Nischen, die die Natur für gewöhnlich stets als erste neu besetzte, jagte Vesa mehr als nur einen unangenehmen Schauer den Rücken hinab.
Dennoch setzten sie ihren Weg fort, folgten der Hauptstraße weiter ins Innere der Siedlung, vorbei an lose herumliegenden, verkohlten Balken, aus den Gebäuden herausgerissenen Möbelstücken und groben Steinblöcken, die wohl vom ziemlich übel mitgespielten inneren Mauerring stammten. Der Schnee lag zwar hoch genug, um kleinere Objekte vor Blicken zu verbergen, aber häufig genug blieb die Kaiserliche mit den Stiefelspitzen an irgendetwas hängen. Oft handelte es sich einfach um kleinere Trümmer, aber ab und zu wandte sie den Blick nach unten und entdeckte Metall oder gefrorenen Stoff. Unwillkürlich zog sie das Schwert aus der Scheide auf dem Rücken.
»Ich hab‘ ein ganz mieses Gefühl hier«, verlieh Aela ihrer aller Gedanken Ausdruck. Auch die Nord zogen ihre Waffen, obgleich wohl keiner so recht wusste, wogegen sie sich eigentlich wehren wollten. Das weiße Leichentuch, das über diesem Massengrab lag? Das Flüstern des Windes? Oder vielleicht doch umfallende, verbrannte Dachbalken?
»Schonmal einen Stadtbrand gesehen, der sowas anrichtet?« Skjor war stehen geblieben und scharrte mit den Füßen losen Schnee zur Seite. Vorsichtig, und die Augen ringsum wandern lassend, näherte sich Vesa, ebenso wie die rothaarige Nord. Als sich noch immer nichts regte, blickte sie nach unten und verzog das Gesicht in Ekel, schloss kurz die Lider, nur um gleich darauf wieder hinzusehen. Es war ein Mann, der dort im frostigen Weiß begraben lag. Die lederunterfütterte Kettenrüstung und der rote Waffenrock wiesen in als Legionär aus. Sein herausragendes Merkmal war allerdings das zur Hälfte vom Knochen geschmolzene Gesicht. Während die andere, unversehrte Hälfte lediglich Würmern und Maden ausgesetzt gewesen war, blieb die verbrannte Seite verschmäht und zeichnete ihm eine groteske Fratze. Auch das Leder der Rüstung auf der entsprechenden Körperseite war verkohlt oder geschmolzen, vermischt mit den weich gewordenen und letztlich wieder erstarrten Ringen des Kettenüberwurfs.
»Was auch immer es war, jetzt ist es vorbei«, setzte Aela dem Thema ein Ende und wandte den Blick ab. Ihr angewiderter Unterton blieb der Kaiserlichen jedoch nicht verborgen. Dennoch behielt sie Recht, noch mussten sie den Rest des Dorfes auskundschaften, obgleich es ihr mittlerweile sicher schien, dass sie mit niemand sonst die Ruine für diese Nacht teilen mussten.
Das Schwert an der Seite und in leicht gebückter Haltung führte Vesana die Gruppe letztlich weiter an, duckte sich in den Schutz einer bis auf die dicken Stützbalken ausgebrannten Ruine und huschte durch die Schatten weiter die Straße entlang. Sie kam nicht umhin, an die Erzählungen vor ein paar Tagen und die überall kursierenden Gerüchte zurückzudenken. Ein Drache sollte Helgen vernichtet haben? Die sich darbietende Verwüstung nagte an ihren Zweifeln.
Beim bloßen Gedanken, dass die Erzählungen doch mehr sein könnten, als bloßes Gerede, machte ihr Herz eine Reihe unangenehm hektischer Sprünge. Mit dem Stechen in der Brust lehnte sie sich vorrübergehend gegen die Mauer eines Turms und spähte über den kleinen Platz, den er zusammen mit einem anderen, größeren Steinbau genau gegenüber überblickte. Ein großes Loch klaffte im Gemäuer des zweiten Turms, Trümmer verteilten sich nahe seiner Basis und die angrenzenden Häuser hatten sie wohl zum Teil mit eingerissen.
Für einen Augenblick verschnaufte die Kaiserliche, die beiden Nord taten es ihr gleich. Das Gespenst des Todes, das über diesem Ort wachte, drückte schwer auf die Lungen, drohte regelrecht damit, sie zu ersticken. Die Schwertspitze stak in den gefrorenen Boden, als die Jägerin im Schnee kniete und den Blick schweifen ließ. Windgeschützt und in dichtem Schatten kauernd, wäre sie nicht einzusehen, sollte wider Erwarten jemand oder etwas über den Platz schlendern. Kurz schloss sie die Lider, atmete durch und versuchte, die Aufregung in den Adern niederzuringen, und ballte die Hände zu Fäusten. Grummelnd neue Entschlossenheit fassend, öffnete die Kaiserliche die Augen und wandte den Blick nach rechts, an der Seite des Turms entlang, wo der Platz aus ihrem Sichtfeld verschwindend noch etwas weiterführte.
Noch im selben Moment setzte ihr Herz aus und sie stieß einen spitzen Schrei aus. Im Schrecken steif fiel sie nach hinten in den Schnee und schaffte es erst dann wieder, sich am Riemen zu reißen, als ihr kaltes Weiß von Oben ins Gesicht und am Hals entlang unter die Jacke rieselte. Skjor und Aela schwiegen, aber die Jägerin sah ihre glänzenden Klingen deutlich über ihr schweben, zum Stich bereit und als wären sie in der Luft festgefroren. Herzklopfen bis zum Hals und stoßweise verlaufender Atem plagten sie, als Vesana sich langsam aus dem kalten Pulver kämpfte. »Was ist los?«, zischte Skjor und senkte seine Waffe.
Kommentarlos bedeutete ihm die Kaiserliche, ihr zu folgen. Nach wenigen Schritten hielt sie inne und blieb vor einer dunklen Wulst am Mauerwerk stehen. Vorsichtig stach sie mit dem Schwert danach, bis das Metall knirschend darin eindrang. »Stadtbrand, hm?«, meinte Skjor und ging noch einen Schritt auf die an die groben Steine gebrannte Leiche zu. Ob Mann oder Frau, es ließ sich nicht mehr erkennen. Die Knochen traten teilweise schwarz durch geschmolzene Haut und Fleisch hindurch, die Kleidung vor fortgebrannt und nur unter den Armen und zwischen den Beinen blieben verkohlte Fetzen. Was einmal ein Gesicht gewesen war, hing in erstarrten, zähen Tropfen vom Kiefer oder verband den Kadaver mit dem Mauerwerk in seinem Rücken, hielt ihn aufrecht und stabil am Stein.
Erst allmählich beruhigte sich Vesas Herzschlag, als ihre Gedanken langsam begriffen, dass niemand neben ihr gestanden hatte. Kein Lebender, kein Untoter, sondern einfach nur eine völlig entstellte, qualvoll krepierte Person. Sie zog ihre Klinge aus der Brust der Leiche. »Lasst uns sicherheitshalber den Rest des Geländes erkunden«, mischte sich Aela ein und lief an den zwei angewidert auf die Überraste starrenden Gefährten vorüber. Wenn sich tatsächlich jemand in den Ruinen des Dorfes aufhielt, den Schrei der Jägerin hätte wohl niemand überhören können. Die anhaltende Stille zwischen den Mauern ließ darauf schließen, dass sie allein waren. Bei Vesana verstärkte das jedoch lediglich nur das schwerelose, flaue Gefühl in der Magengrube. Im Angesicht all der entstellten Leichen, die sich auf die Straßen und in den Ruinen der Häuser verteilten, wünschte sie sich tatsächlich mehr einem Banditen über den Weg zu laufen, als sich weiter gedanklich mit dem Grad der Verwüstung und den Opfern zu befassen.
Langsam schlich das Trio schließlich weiter. Die rothaarige Nord übernahm die Führung, Vesa folgte und Skjor stellte unverändert das Schlusslicht. »Dort vorn scheint das Haupthaus der Wehranlagen zu sein«, flüsterte Aela und drückte sich gegen die innere Wehrmauer.
»Scheint verlassen«, fasste die Kaiserliche zusammen, was sie sah. Wenig überraschend, aber dafür umso bedrückender. »Lasst uns hier hinten irgendwo einen vernünftigen Ort zum Übernachten suchen«, schlug sie nach einem Moment des eisernen Schweigens zwischen ihnen vor. Skjor brummte nur, Aela wandte sich kommentarlos um. »Ich hol schonmal die Pferde, sucht ihr eine Bleibe.« Vesana verstaute ihre Waffe in der Scheide auf dem Rücken und löste sich von ihren Kumpanen. Möglichst schnell pirschte sie Helgens Südtor entgegen, länger als nötig allein auf den gespenstigen Straßen zu wandeln entsprach nicht unbedingt ihrer Vorstellung von Vergnügen. Das unangenehme Ziehen im Bauch schlug sich dabei als unkontrolliertes Zucken einiger Muskeln in Nacken und Rücken nieder, jagte ihr einen Schauer nach dem anderen die Arme hinab und zeichnete irgendwann dunkle Schemen in die Nacht, die verschwanden, sobald sich die Jägerin zu ihnen umwandte. Manchmal entdeckte sie alte, nicht völlig steifgefrorene Stoffbahnen, die im Wind schwangen, oft genug blieb aber auch nichts als gähnende, schwarze Leere an der Stelle zurück.
Kopfschüttelnd beeilte sie sich, das Dorf – nein, dieses Grab – zu verlassen. Es würde eine zweifellos wenig vergnügliche Nacht werden, das stand fest.
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Himmelsrand, Bucht von Einsamkeit, Herz des Gerechten
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Die Zofe hielt ihr einen Spiegel vor, während Rasvan an ihren kniehohen, rostroten Wildlederstiefeln schnüffelte, als wären sie irgendein neues Spielzeug. Geschickt strich sich Amelia einige lange Strähnen ihres schwarzen Haares aus dem Gesicht hinter die Ohren. Den dunklen Rand um ihre Augen und auf den Lidern hatte Jela ausgebessert, ebenso half sie der blassroten Farbe ihrer Wangen etwas nach, um die noch anhaltende, kränkliche Bleiche der Übelkeit zu verdecken. Silberne Spangen hielten die losen Haare bis auf wenige Ausnahmen an der Seite ihres Kopfes und der Zopf streichelte bei jeder leichten Bewegung über ihren Rücken. »Ihr seht fabelhaft aus, keine Sorge«, bekräftigte ihre Bedienstete und ein breites Schmunzeln legte ihre aufgeplusterten Wangen in tiefe Falten.
Die Adelige stieß feixend Luft aus. »Schon gut, ja.« Nach ihrer öffentlich schwächelnden Erscheinung von zuvor, von der zwar so gut wie niemand etwas gesehen haben wollte, empfand es Amelia als zwingend nötig, nach Außen wieder wohlauf zu wirken, auch wenn sie sich noch immer flau und unwohl fühlte. Mit wenigen Handgriffen richtete sie zum Schluss noch einmal ihr ab der Hüfte in einzelne Stoffbahnen auslaufendes, saphirblaues Übergewandt, zupfte an den hängenden Enden der weiten, kurzen Ärmel und prüfte den weißen Seidengürtel um ihre Taille, der in braunen Stricken vorn auslief. Auch das längere, weiße Untergewand aus dünner, seidig gewobener Wolle rückte sie noch einmal zurecht. »Lasst mich Euch mit der Kette helfen«, bat Jela und senkte schließlich den Spiegel.
»Bitte, ja«, willige die Bretonin ein und nahm sich eines der schmalen Silberdiademe. Jenes ohne Schmucksteine mochte wohl erst einmal genügen. Mit geübten Fingern, die inzwischen auch eine Vielzahl filigraner Silberringe verzierten, schob sie das Stirnband aus verflochtenen Silberdrähten unter ihr Haar. An den Ohren aufliegend saß es fest auf ihrer Haut und in der Zwischenzeit hatte ihr auch die Zofe das breite Geflecht aus Kettengliedern um den Hals gelegt. Wie ein Kragen saß es zunächst kühl und eng auf der Haut, fühlte sich aber bald von innen gewärmt durchaus gut an. »Meinst Du, das genügt für den ersten Eindruck am Hof?« Ein wenig skeptisch beäugte sich Amelia nochmals im Spiegel, zupfte selbst kurz an der flächigen Halskette herum und richtete die Ausschnitte ihrer übereinanderliegenden Gewänder neu aus. Einige Falten, die die weißen Stickereien im blauen Obergewand verzogen, strich sie aus.
»Ihr seid in Himmelsrand, Herrin!« Regelrecht empört verfrachtete Jela den Spiegel auf die nahe Kommode und stemmte die schwammigen Hände in die breite Hüfte. »Euch wird man hier hinterherschauen, sorgt Euch da nicht«, bekräftigte die schmächtige Betronin und verzog den Mund in Zufriedenheit, als sie ihre Herrin begutachtete. Die lachte auf und legte sich die schlanken Finger der Linken vor den Mund, während sich zahllose Fältchen um ihre Augen auftaten und ihr die Wangen zu glühen begannen.
»Schon gut, danke«, winkte sie ab und ließ sich ihren roten Seidenschal reichen. Erst als ihr dieser bis unter die Ohren den Hals wärmte streifte sie sich den gleichfarbigen, schweren Umhang über. Vorn bis zum Gürtel reichend, schmiegte er sich durchaus gefällig an ihren Körper. Die Kapuze richtete Jela für sie und legte Amelia den langen Zopf um ihr Genick, damit er sich nirgends mit dem Überwurf verheddern konnte.
»Aber wer weiß … Vielleicht lacht Euch ja ein hübscher Nord am Hof von Jarl Elisif an«, zwinkerte die Zofe, richtete den dunklen Fellsaum der Wetterkleidung und nickte ihr dann zu.
»Ein hübscher Nord?« Amelia zog schmunzelnd eine Augenbraue hoch. Wenig überzeugt schüttelte sie das Haupt. »Selbst wenn es so einen gäbe, ich glaube, dass mein Vater das nicht gerade gutheißen würde.«
»Vermutlich nicht, nein«, räumte die Zofe ein. »Aber sattsehen könnt Ihr Euch sicher dennoch.«
»Das werden wir früh genug herausfinden.« Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. Der Gedanke, für die unbestimmte Zeit des Aufenthaltes mit einem netten, attraktiven Angehörigen des Hofs anzubandeln, mochte ihr durchaus gefallen. Aber laut aussprechen wollte sie ihn dann doch nicht. »Ich kann also so vor fremde Augen treten?«, fragte sie stattdessen noch einmal.
»Ihr seht bezaubernd aus!«, bestätigte Jela.
»Dann kann ich ja beruhigt an Deck gehen.« Amelia wandte sich ab, legte die Hand auf die Klinke der Tür und schnappte sich die langen Samthandschuhe von der nebenstehenden Anrichte. Ein kurzes Pfeifen entwich ihren Lippen, als sie austrat, und eifrig hechelnd schloss Rasvan zu ihr auf. Viele der ihren Onkel und sie begleitenden Wachen befanden sich noch immer unter Deck, plauderten miteinander oder schliefen in ihren Hängematten. Es gab keinen Grund sie alle nach oben zu rufen. Gleichsam fühlte sie sich aber plötzlich auch beobachtet von zu vielen neugierigen Augen und so beschleunigte sie ihre Schritte. Die Erinnerung an die demütigenden Erlebnisse von wenigen Stunden zuvor trieb noch zu frisch durch ihre Gedanken.
Entsprechende Erleichterung ließ sie aufatmen, als lediglich die knarrende Stiege und der kurze Flur an deren oberen Ende zwischen ihr und der frischen Luft lagen. Im Gehen die Handschuhe überstreifend, stieß Amelia die Pforte auf, ließ ihren Halbwolf ins Freie und folgte ihm anschließend. Sofort brannte ihr die eisige Luft auf der Haut, biss sich in die Nasenspitze und die Ohrmuscheln. Das Silber der Ohrringe leitete die Kälte noch schneller unter die Haut. »Brrrr«, murrte die Bretonin und strich ihrem Tiergefährten durch das Fell zwischen den Ohren. Groß genug war er, dass sie sich nicht einmal bücken musste. »Aber Dir macht das sicher nichts aus, was?«, flüsterte sie weiter und sah sich um, ob sie ihren Onkel irgendwo entdeckte. Da sie ihn zwischen den emsigen Matrosen an den Brüstungen und in der Takelage nicht entdeckte, blieb nur noch ein Ort, an dem er sich aufhalten konnte. An ihr vorbeieilende Mannschafter grüßten sie mit einem knappen »Herrin« und deuteten Verbeugungen an. Freundlich lächelte sie ihnen zu, um im schneidenden Wind und den von ihm getriebenen, scharfkantigen Flocken wenigstens ein bisschen gute Laune zu stiften. Wer die ganze Zeit nur auf grimmige Kameraden starrte, mochte schnell sehr verbissen werden.
Gerade wollte sie sich daran machen, zum Kapitänsstand hinaufzusteigen, da fiel ihr Blick auf die sich vor ihrem Kahn auftürmende Küstenlinie. Noch immer fegten unzählige Eiskristalle in dichtem Treiben auf den eisigen Böen, doch hatte sich der Dunst etwas gelichtet und ließ den enormen Felsbogen, der sich über die Bucht von Einsamkeit spannte, deutlich sichtbar herausstechen. Obenauf erkannte Amelia Mauern und die Dächer der Stadt und auf der anderen Seite des überwältigend großen, natürlichen Tors zeichneten sich die Schemen angelegter Schiffe ab. Im Erstaunen legte sie den Kopf in den Nacken und lehnte sich etwas zurück, um die Szenerie in ihrer Gänze aufzunehmen. Erst einen Moment später bemerkte sie in ihrer Bewunderung, dass ihr der Hauptmast und dessen Segel einen großen Teil der Landschaft noch verdeckten.
Kurzerhand lief sie zum Rand des Kahns und lehnte sich neugierig über das Schiffsgeländer. Rasvan folgte ihr und richtete sich selbst auf, die vorderen Pfoten mit auf die Brüstung gelegt. Fasziniert folgten ihre Augen der Küstenlinie, glitten über den vorgelagerten Leuchtturm zu den schroffen, zerklüfteten Steilwänden, die sich zu Einsamkeit emporreckten, und folgten schließlich der Kontur der Stadt bis sie an ihrem Ende auf den Mauern des Palastes ruhen blieben, von dem ihr Natalios schon so manches erzählt hatte. Beeindruckend, und weit interessanter als vieles, das sie in Hochfels schon gesehen hatte.
»Backbord!«, schrie einer der Matrosen plötzlich auf und Amelia wandte den Blick suchend über das Deck. Vorn am Bug stand ein Mann in dickem Mantel mit einer langen Stange in der Hand, die er noch im selben Augenblick am Schiff vorbei niedersausen ließ. Gleichzeitig schwenkte das Boot deutlich nach rechts, näher zum Ufer hin. So recht wusste sie nicht, was es mit dem Geschehen auf sich hatte. Irritiert und interessiert beobachtete sie daher weiter, bis das Knirschen von Schnee und Eis direkt unter ihr nach Aufmerksamkeit verlangte. Erst in diesem Moment wurde sie sich der zahllosen Eisschollen, die im dunklen, ruhiger daliegenden Wasser des Fjords trieben, richtig gewahr. Einige klein und ihm matschigen Packeis kaum erkennbar, andere leuchteten Weiß aus dem kalten Schwarz auf und boten Platz genug für ganze Gruppen von Horkern.
»Steuerbord!«, rief unvermittelt ein anderer Matrose, der auf ihrer Seite des Schiffs ebenfalls am Bug stand. Auch er hielt eine dicke, lange Stange in den Händen und ließ sie niederstechen. Ein Dreizack aus Metall mit langen Spitzen saß an ihrem Ende, wie die Bretonin gerade noch so erkannte, bevor es vor dem Kahn verschwand. Erst als der zurück nach links schwenkte, ließ sich mitverfolgen, was tatsächlich vor sich ging. Der Mannschafter drückte sein Werkzeug mit seinem kompletten Körpergewicht nach unten und versuchte so eine dem Boot zu nahe gekommene Scholle aus dem Weg zu schieben. Es gelang ihm zumindest soweit, als dass nur noch eine schnell abbrechende Zacke des Eises am Rumpf entlangschabte und letztlich mit dem grauen, dickflüssigen Packeis verschmolz.
»Da bist Du ja.« Natalios Stimme, für einen Mann sehr hell und klar, aber nicht ohne Erleichterung, schwappte von oben über sie hinweg. Schnell wandte sich die Adelige um und blickte zu ihrem Onkel hinauf. In schwerem, königsblauem Mantel stand er am Geländer nahe Domek und Kolja. Lächelnd neigte sie ihr Haupt im stummen Gruß, dann lief sie zu ihm. »Schön, Dich wieder wohlauf zu sehen«, empfing er sie, legte ihr eine Hand an die Seite des Kopfes und strich ihr mit dem Daumen über die Haut. »Fühlst Du Dich besser?« In ehrlicher Freude zog er die Mundwinkel unter dem dichten, sauber gezwirbelten Schnauzer nach hinten und zupfte sich anschließend am teils eingefrorenen Ziegenbart.
»Deutlich besser, ja«, entgegnete sie und wickelte sich stärker in ihren Umhang ein, als der Wind auffrischte.
»G’rad‘ rechtzeitig, wert’s Fräulein«, mischte sich Domek aus dem Hintergrund ein. Amelia schaute erst zu ihm, folgte dann aber seinem Blick, als er in Fahrtrichtung nickte. Genau in dem Moment schob sich die Herz des Gerechten durch den Küstenbogen hindurch. Mehrere Dutzend Mannsgrößen mochte sich der massive Fels über ihnen aufspannen, vielleicht auch mehr. Völlig unbearbeitet, wie es schien, trug er das Gewicht einer ganzen Stadt und unangenehme Schwerelosigkeit durchwirbelte ihren Bauch, als sie sich ausmalte, was passieren mochte, sollte er jemals unter der Last nachgeben. Kurz die Lider senkend schüttelte die Adelige den düsteren Gedanken fort und hielt sich im Staunen am schlanken Arm ihres deutlich größeren Onkels fest.
»Seg’l steich‘n!«, brüllte im selben Augenblick Domek über den Kahn und plötzlich kletterten fast alle der Seemänner, die es noch nicht getan hatten, in die Takelage. Es dauerte nicht lange, da blieb von dem schweren, weißen Stoff nicht mehr übrig, als die dicken Bündel an den querverlaufenden Holzstämmen. Wie auch immer sie hießen. Schnell an Geschwindigkeit verlierend glitt ihr Kahn durch das ruhige Hafenwasser und hielt letztlich punktgenau und unter Hilfe von dicken Tauen, die ihn daran festhielten, an einem der weiter herausstehenden Stege an. Drei andere Schiffe, alle größer als ihres, lagen ebenfalls vor Anker. Vor dem Hintergrund der steil und hoch aufragenden Klippen, an deren unteren Rand sich eine verloren wirkende Uferstraße entlangschlängelte, wirkten sie aber alle mehr wie Spielzeuge.
»Geschafft«, seufzte ihr Onkel, löste sich von ihr und wandte sich an ihren Kapitän. »Gute Arbeit, danke«, lobte er, klopfte ihm auf die Schulter und bat Kolja per Handzeichen ihm zu folgen. Amelia schloss sich ihnen an, als sie vom Kapitänsstand zum Hauptdeck hinabstiegen. »Lass Deine Männer noch unter Deck. Sie freuen sich ohnehin über die Wärme. Es reicht, wenn Du und zwei, drei andere uns begleiten. Wir wollen niemanden verschrecken oder zu viel Aufmerksamkeit erregen«, erläuterte er weiter und blieb nahe dem Hauptmast stehen. Die Adelige lauschte nur und zog die Schultern hoch, als helfe es gegen die zwickend unter den Umfang fahrenden Windstöße.
»Wie Ihr wünscht, Herr.« Der Hauptmann verneigte sich und verschwand unter Deck.
»Denkst Du, Junus ist noch hier?«, fragte Amelia als der Soldat außer Sicht war und hockte sich vor Rasvan. Der ließ seinen langen Lappen aus dem Maul hängen, als sie ihn am Hals kraulte.
»Nein. Aber eine Gruppe betronischer Soldaten in Einsamkeit, die zwei Adelige begleiten, und das kurz nachdem er hier war, dürfte wohl sein Misstrauen wecken. Also geben wir den Leuten lieber möglichst wenig Anlass dazu, zu schwatzen«, erwiderte Natalios. Seine Nichte erhob sich und nickte nur, musterte kurz seine inzwischen wieder angestrengten, scharfen Gesichtszüge und die dunklen, in die Ferne gerichteten Augen. Er bemerkte gar nicht, dass sie ihn beobachtete und schreckte erst zu ihr herum, als sie ihm den verdrehten Fellsaum am Ärmel richtete. Kurz perplex, schüttelte er gleich darauf deutlich die sicherlich wild kreisenden Gedanken fort. »Entschuldige, wenn ich abweisend erscheine.«
»Schon in Ordnung, Nat«, wiegelte sie ab, »aber Du solltest wenigstens ordentlich aussehen.« Bestimmend tippte sie ihm gegen die Schulter und gebot ihm so, sich ihr zuzudrehen.
Verhalten lachte er auf. »Ich vergesse immer, dass ich eine Expertin dabeihabe«, spöttelte er, ließ sie jedoch gewähren, als sie seinen schwach beigen, hellen Schal neu band und den Fellkragen neu darüber legte. Auch den kräftigen Ledergürtel richtete sie besser aus. Einzig ein Kamm fehlte ihr in diesem Moment, um das vom Wind wild verwehte, dunkelblonde Haar zu ordnen. Die fingerlangen, ergrauenden Strähnen wirkten beinahe wie ein Vogelnest. Letztlich senkte sie die Hände und betrachtete ihr Werk. »Besser?«
»Besser«, bestätigte die Bretonin.
»Dann können wir ja los«, lachte Natalios und schaute an ihr vorbei. Sie folgte seinem Blick. Kolja kehrte gerade mit drei weiteren Wachen zurück. Die Zwillinge Bedrich und Franos, kraftstrotzende Kerle in schimmernden Stahlharnischen, die wie bei ihrem Hauptmann den eingravierten, rot nachgezeichneten Löwen mit den saphirblauen Augen darauf trugen. Schwere, königsblaue Umhänge verdeckten die wuchtigen Schulterplatten und umspielten ihre Leiber. An den kräftigen Ledergürteln baumelten lange Schwerter und mit stählernen Platten versehene Kettenhemden verdeckten die Oberschenkel. Armschienen glänzen an den Unterarmen. Imposant wirkten sie definitiv. Das einzige, das sie von ihrem Hauptmann unterschied, war der Mangel an bronzenen Verzierungen auf den Rüstungsteilen.
Lediglich die Vierte im Bunde der Männer, Lida, eine strohblonde Magiern, stach heraus. Ihre Rüstung wirkte feinteiliger, flexibler, und ihrer schlankeren, weniger kraftvollen Statur angemessen. Der Harnisch aus mehreren Platten, verzichtete sie auf Schulterpanzer und Armschienen. Lediglich der Waffenrock blieb derselbe. Ebenso wie das Schwert an der linken Seite. »Nadim übernimmt in der Zwischenzeit das Kommando, er hat seine Anweisungen«, eröffnete Kolja, als er und seine Begleiter die beiden Adeligen erreichten.
»Gut, dann brechen wir lieber gleich auf. Es dauert etwas, bis wir die Stadt erreichen«, beschloss Natalios und gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Matrosen hatten inzwischen eine Planke zum Anlegesteg hinübergeschoben und so setzte die Bretonin, auf dem überfroren Holz von Kolja gestützt, erstmals einen Fuß auf den Boden Himmelsrands.
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Himmelsrand, Helgen, Weißlauf
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Verhaltenes Räuspern zog Vesana die Eingeweide zusammen und ließ sie heftig zucken, löste jedoch die Umklammerung keineswegs auf, krallte sich der offenkundigen Unterbrechung zum Trotz fester an den Kaiserlichen. »Wir haben mit Corolas die Aufteilung der Güter besprochen und laden sie auf den Wagen entsprechend um«, setzte Aela nach kurzem Warten an, hielt ihre Stimme aber gedämpfte, wohl um die seidenzarte Stimmung der Zusammenführung nicht zu zerstören. »Nehmt euch noch einen Moment Zeit und kommt dann nach. Wir dürften genug Hände für die Arbeiten haben«, führte sie dort. Erst jetzt hob Darius den Kopf und sah die Nord wohl an.
»Danke«, erwiderte er, die Stimme rau von Tränen und zum Zerreißen dünn.
»Corolas meinte, er hätte Dir einige wärmere, nicht zu zerschlissene Sachen von Leuten der Hand aufs Bett gelegt.«
»Ich schaue gleich nach, danke.« Ohne ein weiteres Wort verschwand die Rothaarige in einem Hauch kalter Luft, die durch das Öffnen der Tür eindrang. Der Kaiserliche ließ sein Haupt nicht wieder auf Vesas zurücksinken. Stattdessen schob er seine Finger in ihrem Nacken langsam und ohne Druck auszuüben am Hals herum, die Kieferlinie entlang bis zum Kinn und anschließend hoch über die Lippen zur Nase und den Augen. Gänsehaut stand ihr auf den Armen und leise begann ihre Atmung abermals zu rasseln. Nicht mehr von Tränen und Aufregung, in den scheinbar langen und doch zu kurz gewesenen Momenten der Umarmung hatten sich diese nahezu vollständig davongestohlen und wohliger, schläfrig machender Wärme in der Brust das Feld überlassen.
Sanft strich ihr Darius Strähnen ihres Haares aus dem Antlitz, während ihr seine tiefen Atemzüge über die freie Haut auf der Stirn streichelten und verstärkte so nur die vielzähligen Schauer, die ihr den Rücken hinabliefen. »Lass mich kurz nach der Kleidung sehen«, bat er und zwang die Jägerin so dazu, letztlich doch die tränenverkrusteten Augen zu öffnen. Das Salz brannte noch etwas und widerwillig nahm sie die Linke aus seinem Rücken, um sich die verklebten Wimpern auszustreichen. Wenig begeistert hob sie ihren Kopf aus der Mulde an seinem Hals und rang sich ein gepresstes Lächeln ab, nickte dann zwar, aber nicht ohne noch einen weiteren Moment an seinem dichten, lang gewordenen Vollbart zu zupfen und die Augen langsam über seine rauen, dreckstarrenden Züge schweifen zu lassen.
Darius erwiderte die Geste und ließ sie einen Moment gewähren, bevor er mit sanftem Druck ihre Finger umschloss und ihre Hand an seine Seite schob. Blickkontakt haltend senkte er sein Haupt bis er auf ihrer Höhe war und mit einem letzten, kurzen Rucken schloss er die Lücke zum Kuss. Im ersten Augenblick überrumpelt und in heiß glühender Überraschung zu neuen Tränen verleitet erwiderte Vesana die Geste einen Augenblick später und schloss die Lider. Völlig schwerelos merkte sie erst jetzt, wie sehr ihr die Nähe und Zärtlichkeit dieses elenden Sturkopfes gefehlt hatte, vergrub die Finger gieriger in seiner ranzigen Kleidung und zog ihn näher, während seine borstigen Barthaare zunehmend unsanfter über ihre empfindlichen Wangen scharrten.
Der Moment währte zu kurz. Der Kaiserliche löste sich von ihr, lehnte sich aber noch einen weiteren Moment Stirn an Stirn an sie. »Du…«, setzte sie an, brach jedoch ab und räusperte sich, um den noch immer in ihrer Kehle sitzenden Kloß zu lösen. »Kratzt«, vollendete sie gleich darauf.
»Ändern wir bald«, erwiderte er und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Für die Dauer einiger Herzschläge standen sie sich gegenüber, er seine Rechte an ihrem Gesicht und mit dem Daumen darüberstreichend, die Linke an seiner Brust auf ihre dort ruhenden Hände gelegt. »Gleich wieder da.« Ein letzter, sehnsüchtiger Blickkontakt, dann wandte er sich zum Gehen. Die Jägerin sah ihm nach, schlang einen Arm um ihren unruhig summenden Bauch und hob die Finger zu ihren Lippen, wo die zarte Berührung in vielfachem Echo nachhallte. Erst jetzt fiel ihr die leicht gebückte Haltung ihres Liebsten auf. Nicht auffällig, im Gegenteil. Es würde niemand wirklich bemerken, der ihn nicht annähernd so gut kannte oder so intensiv und oft beobachtet hatte, wie Vesa. Aber genau deswegen legte sich die Beobachtung wie ein schweres, kaltes Tuch über ihr Herz, zog an Mund- und Augenwinkeln. Darius gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, doch war genau dieser Umstand das Beunruhigende.
Gequält die Mundwinkel verziehend, senkte sie letztlich den Blick und sammelte anschließend ihre fallengelassenen Sachen auf. Ihr sturer Gefährte brauchte jetzt vor allem eines: Geduld. Das wusste sie, kannte sie es doch von sich selbst und auch von ihm bei früheren traumatisierten Erlebnissen. Es würde viel Disziplin kosten und sicherlich nicht immer so funktionieren, wie sie sich selbst ermahnte, aber drängen durfte sie ihn nicht. Zu viele hatten Vesana auf diese Weise auf Abstand getrieben und mit Darius wollte sie diesen Fehler nicht selbst auch begehen.
Wenig später trug ihr liebster Sturkopf eine dunkle, dickere Tunika, hohe Stiefel und einen schweren Umhang. Alles schien in den Kämpfen der letzten Nacht irgendwie mit Blut in Berührung gekommen zu sein und wirkte entsprechend verklebt und fleckig, aber es würde den gewünschten Dienst erfüllen und das reichte. Zur generell geschundenen Erscheinung des Kaiserlichen passte es allemal. Im Näherkommen schenkte er ihr ein mattes Lächeln, das kaum mehr als die Mundwinkel verzog und die Müdigkeit in seinen dunklen Augen nicht einmal im Ansatz vertreiben konnte. Dennoch erwiderte sie die Geste, sicherlich nicht weniger mitgenommen. Zeit. Die brauchten sie beide, um sich von ihren ganz eigenen Dämonen der letzten Monate zu distanzieren und wieder ineinander einzufühlen. »Gehen wir?«, fragte er und blieb vor ihr stehen.
Für einige Lidschläge betrachtete sie ihn, legte den Kopf kaum merklich schief und lächelte dann breiter, als zuvor. »Ja. Gehen wir.«
Skjor spannte gerade zwei dunkle, fast schwarze Pferde mit glänzendem, etwas längerem Fell vor einen Wagen. Aela zurrte währenddessen die Plane auf der Ladefläche fest. »Pünktlich«, kommentierte der Einäugige das Auftauchen der zwei übrigen Gefährten und schob den letzten Metallstift in die Zugvorrichtung des Gespanns. »Übernehmt ihr den Karren?«
»Machen wir«, kam Darius Vesa mit einer Antwort zuvor.
»Gut.«
Noch im selben Moment kamen die Rothaarige und Corolas zu ihnen herübergelaufen. Der kleine Kaiserliche verneigte sich tief in die Runde und auch vor Darius. »Du kannst Dich glücklich schätzen solche Freunde zu haben und ich stehe ebenso in Deiner wie deren Schuld dafür«, sprach der Ergrauende. »Ich werde sicherstellen, dass Euer Vertrauen und Eure Großzügigkeit weder vergessen noch vergeudet werden«, setzte er fort und reichte zunächst Vesana, dann den beiden Nord die Hand. »Denkt daran, dass Ihr in Bravil stets willkommen seid. Gehabt Euch wohl und sichere Wege, wo immer es Euch hin verschlägt.«
»Vorsicht auf dem Pass, der Schneefall dürfte es noch gefährlicher gemacht haben, diesen jetzt noch zu passieren«, entgegnete Aela.
»Die werde ich walten lassen.« Damit winkte der alte Kaiserliche und zwei hochgeschossene, trotz des sicherlich langen Hungers noch immer bullige Nord führten drei die Braunen der Gefährten und den Schimmel des Anführers der Hand zu ihnen.
»Die haben wir in einem der Häuser gefunden, sehen nicht aus wie von der Silberfaust«, brummte einer der Neuankömmlinge und hielt ein langes Stahlschwert sowie zwei Dolche hoch.
»Gehören mir«, entgegnete Vesa und streckte die Hände aus, verstaute die Waffen in den zugehörigen Scheiden. »Danke.« Der Nord nickte nur und im Gehen überprüfte er den Sitz des Sattels und der daran gebundenen Taschen, sowie Vesas Speer, den sie nicht einmal benötigt hatte, wie ihr dabei auffiel. Kurz darauf stiegen sie und Darius auf den Kutschbock und schlugen die Zügel, damit sich ihr Gespann in Bewegung setzte. Schnell auf dem Dorfplatz gewendet, ließen die Vier Helgen bald hinter sich und überließen die Befreiten sich selbst.
»Was habt ihr mit Corolas besprochen?«, fragte die Jägerin eine Weile später und wandte den Blick zur Seite, wo Aela mit einem der zwei unbesetzten Pferde neben dem Karren ritt.
»Weniger, als wir gehofft hatten. Seine Kenntnisse über die Hand sind relativ begrenzt«, erwiderte die Nord. »Aber er meinte, dass nicht alle der Kämpfer aus dem Tross zu den Leuten gehörten, die ihn gefangen gehalten haben.«
»Stimmt«, brummte Darius neben ihr so leise und tief, dass Aela ihn über dem Huftrappen und holpern der Wagenräder kaum hören konnte.
»Wem dann?«, fragte Vesa dennoch an die Nord und nicht ihren Geliebten gewandt. Aus dem Augenwinkel heraus gönnte sie ihm nur einen kurzen Blick, aber so wie er vorgebeugt auf der Bank saß und den Pferden auf mit leerem Blick auf die Hinterteile starrte, wirkte er nicht gerade, als ob sein Interesse an einem Gespräch darüber hoch stand.
»Das wusste er nicht. Er kennt keine Niederlassungen der Hand auf der Südseite der Jerall-Berge, aber augenscheinlich gehört ein Teil der Truppen genau einer solchen.«
»Hm. Das erklärt, warum so viele Kämpfer den Tross begleiteten und rechtfertig allemal die Güter«, sinnierte die Kaiserliche und senkte das Kinn.
»Das dachten Skjor und ich auch.« Für einen Moment schwieg die Rothaarige, dann hob sie aber nochmals die Stimme an. »Darius, Du musst uns unbedingt schildern, was Du über die Niederlassung der Hand weißt. Die bisherigen Neuigkeiten sind alleinstehend sehr verwirrend, vielleicht kannst Du noch etwas Licht ins Dunkel bringen.«
»Hmhmm. In Weißlauf«, erwiderte der Kaiserliche.
»Habt ihr ihm von den Briefen und dem Gold erzählt?«, lenkte Vesana die Aufmerksam von ihrem Liebsten ab. Es ließ sich kaum übersehen, dass ihm das Gespräch nicht gerade Spaß bereitete, denn geschweige Wohlbehagen hervorrief. Um ihm etwas Halt zu geben, schob sie ihre Hand zu ihm rüber und ließ sie auf seinem Oberschenkel ruhen.
»Weder von den Briefen, noch von den Edelsteinen weiß er etwas. Die Hälfte der Geldsäckel haben wir in einen leeren Proviantbeutel ausgeschüttet und ihm gegeben, damit er das Gold unter den Übrigen und sich aufteilen kann«, erklärte die Nord.
»Eine gute Lösung«, befand Vesa und ließ das Thema damit ruhen. Sie würden später noch genug Zeit haben, die Einzelheiten der gestrigen Nacht und allem davor zu erörtern. Für die Dauer der Reise reichte es ihr ohnehin, sich mit der Gegenwart von Darius zu begnügen. Und um das zu demonstrieren rückte sie gleich noch ein paar Fingerbreiten näher an diesen heran.
Fünf Tage dauerte ihre Reise, allem Tiefschnee und kalten Winden aus den Höhenlagen zum Trotz, während Darius in der Regel die doppelte oder dreifache Menge an Proviant erhielt, um seiner mageren Verfassung entgegenzuwirken. Letztendlich erreichten sie die Hauptstadt des Fürstentums und nachdem sie die vier einzelnen Rösser in den Stallungen untergebracht hatten, trieben sie den neu angeeigneten Wagen immerhin bis zum Marktplatz der Stadt. Erst dort sahen sie sich gezwungen ab der anschließenden Treppen hinauf zum Güldengrünbaum zu Fuß zu gehen. Jeder mit einem Handkarren vom um die Mittagszeit vakanten Übungsplatz hinter Jorrvaskr ausgestattet, schafften die Vier die Fracht, die immerhin noch die alchemistischen Zutaten, einen Großteil der Waffen und die Schatzkiste umfasste, zur Gildenhalle und ließen sie dort erst einmal ruhen.
»Bleibt ihr schon hier, Skjor und ich schaffen den Wagen zum Stall«, wies schließlich Aela die beiden Kaiserlichen an. Die nickten nur und warteten, bis die Nord um die Ecke des Hauses verschwanden.
»Wir können auch etwas warten, wenn Du noch einen Moment Deine Ruhe haben möchtest«, bot Vesana an, strich dem Vernarbten durch das Haar und schenkte ihm einen aufmunternden Blick.
Darius schüttelte sacht das Haupt und warf den Trübsinn aus seinen Augen. »Schon in Ordnung, nur einmal kurz durchatmen«, entgegnete er und die Jägerin nickte. Schweigend besah sie sich den noch immer schneefreien, aber gefrorenen Übungsplatz und wartete, bis ihr Darius das Zeichen zum Aufbruch gab. Ein Schmunzeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie den improvisierten Holzsteg in der Mitte des Terrains bemerkte, der, wenn sie sich nicht täuschte, kein bisschen bewegt worden war. Letztlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter, hob die eigene und griff nach den Fingern. »Lieber jetzt, als es noch weiter hinauszögern.« Damit wandte sich Vesa um und betrat an Darius Seite die Halle der Gefährten.
Deutlich hörbar stieß er Luft aus, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel und der Hauptsaal des Hauses erstaunlich leer vor ihnen lag. Fleischduft schwängerte die Luft, verkohltes Holz und die übliche rauchige Note. Dazu das Aroma von Met und allerlei Alkohol gepaart mit Männerschweiß. »Es hat mir gefehlt«, flüsterte der Kaiserliche und sah sich im Raum um, während Vesana mehr ihn als alles andere beobachtete. Kleine Muskeln an den Augenwinkeln zuckten immer wieder deutlich, zogen am für sie sichtbaren Ende der Braue. Unstet schwenkte er das Haupt von der einen Seite zur anderen und wieder zurück, sondierte das Umfeld und blieb letztlich mit den Augen auf etwas kleben. Die Jägerin folgte dem Blick. Vilkas und Kodlak saßen an der langen Tafel, deutlich in ein Gespräch vertieft und hatten somit wohl das Eintreten der beiden Gefährten nicht bemerkt. Ihre Worte schwangen nur als leises Säuseln durch den Raum, verschwommen und unklar.
Inzwischen begann sie unter ihrer dicken Kleidung zu schwitzen und streifte die Handschuhe ab. Erst danach stupste sie ihren Liebsten an und nickte mit hochgezogenen Brauen in Richtung der beiden Nord am Tisch. Schweigend setzte sich Darius in Bewegung, Vesa folgte ihm mit schweren Schritten. »Ich hoffe, Tilmas Kochkünste haben nicht gelitten?«, zerriss der geschundene Kaiserliche die schläfrige Stille, die Jorrvaskr ausfüllte.
Vilkas fuhr ruckartig herum, der Herold erstarrte einen Moment, nur um gleich darauf nach seinem Becher zu greifen, langsam aufzustehen und sich ihnen zuzuwenden. Der jüngere der beiden Männer am Tisch tat es ihm gleich und verzog das Antlitz in offenkundiger Erleichterung. »Wir haben uns bereits Sorgen gemacht, es könnte etwas schief gelaufen sein«, offenbarte der Graue und kam ihnen entgegen. »Es ist schön, Dich wieder in unserer Halle zu sehen, Darius.« Der Kaiserliche nickte und schlug sogleich mit Vilkas zur Begrüßung ein.
»Es ist in der Tat ausgesprochen schön, euch zu sehen«, bestätigte der jüngere Nord. Seine Züge trübten sich aber schon im nächsten Augenblick ein. »Ihr seht beide nur bedingt glücklich aus. Ist etwas passiert?«
Vesana bemühte sich ihr Lächeln ehrlich aufzubessern und am Rand ihres Sichtfeldes bemerkte sie, wie Darius die Schultern hochzog, um es ihr gleichzutun. »Wir freuen uns. Aber es gibt einiges, das wir bereden müssen. Der Zirkel – und Darius«, erklärte sie.
»Wo sind Aela und Skjor?«, wollte Kodlak wissen und bat die drei Übrigen per Geste, ihm in den Keller zu folgen.
»Wir haben die Gemeinschaft um … einige Ressourcen bereichert. Sie bringen sie gerade zurück zum Stall.« Die Jägerin hielt sich bewusst dicht an der Seite ihres Geliebten, ihre Schulter streifte stets seinen Oberarm und versicherte ihm so, dass sie gewiss nicht vor hatte, ihn in den bevorstehenden, zweifelsohne unangenehmen Gesprächen allein zu lassen. Zum Dank zwackte er sie gelegentlich mit Daumen und Zeigefinger in den Stoff ihrer Jacke.
»Die Sachen stehen draußen auf dem Platz«, fügte Darius hinzu während sie in den Hauptflur des Kellergewölbes traten. Laute Stimmen und Gelächter drangen aus dem Schlafsaal der normalen Mitglieder zu ihnen, die Tür stand nur einen Spalt breit auf und Schatten huschten durch den schmalen Ausschnitt, den Vesana so vom Inneren des Zimmers einzusehen vermochte. Dem Kaiserlichen an ihrer Seite musste dies nur allzu recht sein, vermied er so doch größere Aufmerksamkeit.
Zumindest vorrübergehend. Sie waren nicht einmal halb durch den Korridor, da trat Farkas scheppernd und schabend aus seiner Kammer, blieb plötzlich wie eingefroren stehen und grinste dann so breit, dass er Zähne zeigte. »Ha! Haha! Bursche, ich wusste, dass Dich Vesa raushauen würde!«, feixte er und stiefelte dann auf den Rückkehrer zu, drückte ihn in einer Umarmung, wie sie nur zwischen Männern stattfinden konnte und provozierte bei der Jägerin ein mitleidiges, aber auch amüsiertes Schmunzeln. Ein kurzes Lachen musste sie allemal unterdrücken. »Wo sind die anderen Beiden?«, fragte der große und bullige Nord im Anschluss.
»Kommen sicher in Kürze. Es ist gut, dass wir Dich nicht erst suchen müssen«, erwiderte Vilkas und bedeutete seinem Bruder ihnen zu folgen. Ehe noch jemand von dem Spuk auf dem Flur etwas bemerkte, schlüpften die Fünf in Kodlaks Räumlichkeiten.
»Was hat’s mit dem verschwörerischen Treffen auf sich?«, wollte der bärige Nord schließlich wissen, als jeder von ihnen einen Platz im Arbeitszimmer des Alten gefunden hatte. Vesa und Darius mit Kodlak am Tisch, ihre Waffen legte sie auf dem Tisch ab. Vilkas lehnte gegen eines der Bücherregale und Farkas hievte sich auf eine Kommode, die unter dem enormen Gewicht des Mannes gefährlich ächzte.
»Ich habe das Gefühl, dass nicht alles reibungslos verlaufen ist«, mutmaßte der Graue und nickte in Richtung ihres geflickten und blutverklebten Unterarms, den die Kaiserliche auf dem Tisch abgelegt hatte. Dass er damit nur das Offensichtliche feststellte, störte niemanden.
»So ist es wohl leider«, entgegnete sie. Kodlak schloss für einen Moment die Lider und atmete tief durch. »Allerdings haben wir nichts provoziert, das wohl nicht ohnehin schon lange in der Planung gewesen ist. Was auch immer es ist.« Der Alte hob den Blick, funkelte sie mit einer Mischung aus Überraschung und Sorge auf den faltendurchzogenen Zügen an. »Vielleicht die Geschehnisse zuerst, solange wir auf Skjor und Aela warten?«, die drei übrigen Zirkelmitglieder nickten stumm, Darius lehnte sich tief durchatmend zurück und warf ihr einen wehmütigen, aber dankbaren Blick zu. Sie lächelte zurück, wissend, dass er für jedes Wort aus anderem Munde als den seinen froh war.
Sie endete gerade an der Stelle, wo sie am Morgen nach dem Überfall mit den beiden Nord losgezogen war, um das Schlachtfeld und die Wagen zu durchsuchen, da schlug etwas heftig gegen die Tür. Mehrfach dröhnte es durch den Raum und ließ sämtliche Köpfe herumfahren. Farkas glitt von der Anrichte und lief zur Pforte hinüber. Auf der anderen Seite warteten Aela und der Einäugige mit jeweils beiden Händen an einer schweren, eisenbeschlagenen Kiste. Zur Begrüßung nickten sie in die Runde und setzen die Truhe dann in der Mitte des Raums auf dem Boden ab, während Farkas den Eingang wieder schloss.
»Und damit kommen wir zu den Funden«, erklärte Vesa und hob die hohle Rechte, um den Neuankömmlingen das Wort zu übergeben.
»Du hast den Überfall geschildert?«, hakte die Rothaarige nach und strich sich einige Strähnen aus dem Gesicht. Die Jägerin nickte lediglich. »Wir haben einen Großteil der Ladung noch oben auf den Handkarren. Silberwaffen. Schwerter, Äxte, Dolche, Speere. Genug, um ein Regiment damit auszustatten«, begann erstere zu berichten. »Wir haben alchemistische Zutaten und Geräte, genug um Regenerationstränke, solche gegen Krankheiten und Gifte zu mischen. Ebenfalls genug für ein Regiment, vermutlich sogar mehr«, setzte sie fort und bückte sich über die Kiste. Mit schnellen Handgriffen holte sie den Schlüsselbund des toten Anführers des Trosses hervor und öffnete das schwere Vorhängeschloss. »Und wir haben das hier.« Sie öffnete den Deckel, warf den ob der geschrumpften Goldmenge eingefallenen Samt zurück und entblößte so die Umschläge mitsamt den restlichen Säckeln für Münzen und Edelsteine. Im Anschluss stand sie auf und trat aus der Sichtlinie, damit jeder einen Blick darauf werfen konnte, der diese Aussicht noch nicht kannte. Das anschließende Schweigen verdickte die ohnehin schon stickige Luft im Zimmer bis zur Unerträglichkeit und Vesa öffnete ihre Jacke.
»Für wen ist das bestimmt?«, wollte der Herold nach einer langen Phase der Stille schließlich wissen. Er erhielt zunächst keine Antwort, bis Darius schwer seufzte und sich in seinem Stuhl vorbeugte. Vesana legt ihm die Hand in den Rücken und strich sanft mit dem Daumen darüber.
»Genau wissen wir das nicht, wusste es keiner von uns«, begann der Befreite nach einer weiteren Pause zu sprechen. »Wir wurden immer im Kerker gefangen gehalten und haben nichts außer den Trödeleien der Wachen mitbekommen. Aber auf der Reise … es schien nicht, dass all unsere Wächter aus der Niederlassung der Hand stammten, in der man uns gefangen gehalten hatte. Sie stritten, gängelten sich teils bösartig und über das Maß von normaler Brüderlichkeit hinaus«, erklärte er und zog sämtliche Augen im Raum auf sich. Mit Ausnahme von Kodlak, der sich zunächst eine Handvoll der Briefhüllen geben ließ. »Es stellte sich raus, dass wir über die Jerall-Berge zu einer anderen Zelle gebracht werden sollten.«
»Die Silberne Hand operiert unseres Wissens nach doch nur in Himmelsrand, nicht?«, wandte Vilkas ein und lief zum Tisch hinüber, um selbst einen der Umschläge aufzunehmen und diesen zu begutachten.
Darius schüttelte sacht mit dem Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber diese Leute sind besser organisiert, als ich jemals eine Gruppe der Hand gesehen habe. Das waren sie damals schon, jetzt nur noch mehr.«
»Mannesstärke?«, fragte Farkas und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Irgendetwas musst Du doch mitbekommen haben. Beim Verlassen der … Festung, war es?«, brummte Skjor, der inzwischen an der Tür lehnte und ebenfalls die Arme verschränkt hielt.
»Festung. Als sie uns rausgebracht haben, band man uns die Augen zu. Und vor fünf …«, versuchte Darius zu erklären, brach allerdings ab, senkte das Kinn und fuhr sich durch den Bart. Er wirkte unendlich erschöpft, ausgelaugt. Andererseits spürte sie durch seine Kleidung hindurch das schwache, haarfeine Zittern seines Leibes unter ihren Fingern und versuchte mehr aus seinen geschundenen Zügen zu lesen, als er zeigen wollte. Obwohl er sie nicht ansah und sie nur von der Seite das unstete Kreisen seines Auges bemerkte, schien es ihr, als plagte ihn noch etwas anderes. Angst? Oder Zorn? »Alles, das ich weiß, ist Folgendes: Ich habe den Anführer der Niederlassung im westlichen Falkenring nie zu Gesicht bekommen. Jeden, den man zu ihm brachte, habe ich nie wieder gesehen. Er schart definitiv mehr Manneskraft um sich, als jede andere Zelle, die ich bislang gesehen habe und die Sachen, die wir im Konvoi mit uns führten, waren für irgendeine andere Niederlassung in Cyrodiil bestimmt«, sprach er schließlich und die Verbitterung und Ernsthaftigkeit in seiner tiefen Stimme jagten der Jägerin Gänsehaut auf die Arme. »Kodlak, Du hast eben einen Blick in die Briefe geworfen, was verraten sie Dir?«
Schweigend senkte der Herold seine silbergrauen Augen auf die Tischplatte, strich über das Pergament und den auseinandergefalteten Brief unter seiner flachen Hand. Dann hob er den Blick zu Vilkas, der ebenfalls in den Zeilen gelesen zu haben schien. Zuletzt sah er zurück zu Darius und schob ihm den Brief zu. »Schau selbst.« Der Rückkehrer griff nach dem Papier und ließ es wenig später auf den Tisch sinken.
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Was ergibt keinen Sinn?«, hakte Aela nach.
»Die Briefe. Völlig durcheinander geratene Wörter und Silben«, erklärte der Graue.
»Verschlüsselt?« Kodlak nickte.
Abermals hielt Schweigen Einzug und Vesa spürte, wie sich nach und nach, je mehr die geschilderten Erzählungen einsanken, ihre Eingeweide zusammenzogen. Unwillkürlich nahm sie ihre Hand von Darius Rücken und strich sich über ihr Gesicht, als könne sie so wegwaschen, was eben sagt worden war. »Ich nehme an, es gibt keine Möglichkeit, diese Schriften zu entschlüsseln?«, fragte sie letztlich in die Runde, als die Stille unerträglich wurde.
»Ich kenne da jemanden, den wir anheuern könnten, um es zu versuchen«, räumte Vilkas ein, wirkte allerdings mit gesenktem Blick und wieder am Bücherregal lehnend zutiefst nachdenklich.
»Eines kann ich mit ziemlicher Gewissheit sagen: Wenn diese Leute dort unsere Gemeinschaft hier hätten auslöschen wollen in den letzten Monaten, ich zweifle nicht daran, dass sie es könnten«, warf Darius ein und trübte die finsteren Gesichter des Zirkels nur noch weiter ein.
»Und worauf warten sie dann?«, knurrte Farkes und ballte die Fäuste. Darius zuckte nur mit den Schultern. Bevor noch jemand etwas erwidern konnte, erhob sich der Herold und schritt zur Truhe hinüber. Sich schnell bückend, griff er hinein und holte einige der roten Samtsäckel hinaus. Leise knirschten sie in seinen prankenhaften Händen, als er sich erhob. Aela reichte er zwei, zu Skjor warf er zwei hinüber und als er sich wieder setze, ließ er vier auf den Tisch direkt neben Vesas Arm fallen.
»Den Rest verwahren wir und nutzen es, um uns dagegen zu wappnen, was auch immer es ist, das auf uns zukommt«, sprach er schließlich und hielt die Stimme deutlich gedämpft, nachdenklich. Keinem sah er noch ins Gesicht. »Ich habe mich geirrt, Vesa, und das tut mir Leid. Eure Befreiung hat keinen Ärger über uns gebracht, der nicht ohnehin schon auf dem Weg zu uns war. Stattdessen habt ihr uns eine Vorwarnung und Zeit zum Handeln verschafft«, räumte er ein, hob nur kurz den Blick zu ihr hinüber und starrte dann abermals auf die Briefe auf dem Tisch.
Die Jägerin griff derweil nach den Säckeln und musste überrascht luftholend feststellen, dass nur zwei davon mit Gold gefüllt waren. In den beiden kleineren rasselten Edelsteine. »Bitte lasst mich einen Moment allein«, bat der Herold schließlich. »Und Darius.« Er hob abermals das Kinn. »Es ist wirklich schön, Dich wieder hier zu haben.«
Himmelsrand, Fürstentum Reach, Broken Tower Redoubt
Sie bekamen es nicht hin. Sylaen hatte einen von den drei Eingangswächtern in den Kopf geschossen und ihn damit sofort getötet, Stephanus erwischte einen weiteren an der linken Schulter, bevor sich die zwei noch lebenden Riekmannen in die Festung verzogen hatten, wo sie höchstwahrscheinlich auf der Stelle einen Balken hinter die Tür schoben. Cocius musste sich zurückziehen, bevor er auch nur einen der Abgeschworenen erreicht hatte, um zu verhindern, dass er selbst mit Pfeilen gespickt wurde. Den Felsen, den sie zuvor als Deckung vor den Blicken ihrer Feinde genutzt hatten, nutzten die Söldner jetzt als Deckung vor herabregnenden Pfeilen. Die Bergleute in der Burg hatten einen klaren Höhenvorteil, so dass Sylaen, Cocius und Stephanus so schnell wie möglich wieder Distanz gewinnen mussten.
„Wirklich, Spurius! Du bist so ein Genie, warum gibst du dich überhaupt noch mit uns Trotteln ab?“ rief Stephanus mit vor wütendem Sarkasmus triefenden Worten.
„Ich-“
„Nein!“, unterbrach er den jüngeren Kaiserlichen barsch, während ein Pfeil mit Knochenspitze mit einem lauten „Klack!“ von ihrem Felsen abprallte, und sich Stephanus' Gesicht vor lauter Ärger rot färbte. Der Kragen war ihm sprichwörtlich und endgültig geplatzt. Und sein Arm wurde auch langsam müde, was seine Wut nur zusätzlich befeuerte. Sein Arm hielt nämlich den leichten Stahlschild über seinen Kopf. Der Bogen hing an seiner linken Schulter, damit er ihn nicht aus versehen mit dem gepanzerten Rücken zertrümmerte.
„Du hast jetzt Schicht im Schacht! Jetzt müssen wir deine neunverdammte Suppe auslöffeln! Würden die Neun doch nur Gehirne vom Himmel regnen lassen, oder wenigstens Ziegel, Hauptsache sie treffen ihr Ziel! Molag Bal möge dich holen, du verdammter-“
„Daneben, Bergjunge!“ schrie Sylaen, die sich gerade wieder hinter den Felsen geduckt hatte. Sie lieferte sich seit ungefähr einer Minute ein Duell der Bogenschützen mit dem Abgeschworenen, der zuvor auf dem Plateau Ausschau gehalten hatte. Sie atmete stoßweise, und ihr Mund war vor kindlicher Aufregung geweitet, und sie hatte wieder dieses irre Leuchten in den Augen.
„Habt ihr gesehen wie knapp das war? Der Kerl da kann wenigstens Zielen!“
Es verging ein stiller, nur von klackenden Pfeilen unterbrochener Moment, in dem sie sich alle mit dem Rücken gegen den Felsen pressten, Sylaen glücklich vor sich hin grinste, Cocius Spurius betreten zu Boden sah und sich wohl wünschte, im Boden versinken zu können, und Stephanus den Mund verzog, mit den Zähnen knirschte und den anderen Kaiserlichen so wütend anstarrte, als könnten Blicke töten.
„Oh, übrigens,“ verriet die Waldelfe unvermittelt im Plauderton, und hielt Stephanus so davon ab, das Schweigen zu nutzen, um Cocius einfach zu greifen und zu erwürgen. „Die vier Kerle, die Hrard zur Brücke geschickt hat, die sitzen am anderen Ende der Straße und verstecken sich auch hinter einem Stein. Die wissen, dass etwas nicht stimmt.“
„Gut“, seufzte der Bärtige. „Wenigstens etwas, dass uns in dieser •••• einer Situation zu Gunsten kommt.“
Er blickte auf, als er Bewegung etwas weiter vor sich vernahm, dort, wo der kleine Pfad lag, den sie zuvor genommen hatten. Der Rest ihrer Gefährten hatte wohl das Horn gehört und es endlich durch die schmale Ritze geschafft, die der Schleichweg im Vergleich zu den steilen Klippen um ihn herum darstellte. Mit erhobenen Schilden liefen einige von ihnen an dem Felsen der drei gescheiterten Späher vorbei, wobei andere sie mit Pfeil und Bogen und Armbrust deckten. Untermalt wurde dies durch das konstante Klimpern von Rüstungen und den Befehlen, die Hrard den Söldnern zurief.
Stephanus rappelte sich auf und ließ Cocius und Sylaen links liegen, um sich ihren Errettern anzuschließen. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Bogenschütze auf dem Plateau in der Brust getroffen zu Boden fiel. Auf der Spitze des Turmes, wo der Kaiserliche zuvor noch eine weitere Person ausgemacht hatte, rührte sich auch nichts mehr.
Anscheinend hatten die Verteidiger des Gemäuers sich zurückgezogen, um sich neu zu formieren und um sich zu verschanzen, wohl verschreckt durch das plötzliche Aufgebot an feindlichen Kämpfern.
Diese Ruhe nutzte die kleine Truppe, die die Abgeschworenen an der Brücke erledigt hatte, um sich wieder mit dem Rest der Gruppe zu einem großen Ganzen zu versammeln, in einigem Abstand zu den Mauern der uralten Festung.
Sie schienen, soweit Stephanus das sehen konnte, alle unverletzt, bis auf einen kleinen roten und frischen Schnitt, den Bärenpelz auf seiner Wange trug. Den massigen Nord störte diese Wunde jedoch offensichtlich nicht im geringsten, was den Kaiserlichen überhaupt nicht überraschte.
Stattdessen gesellte sich der Nordmann zu einer kleinen Gruppe, die sich um den von Sylaen getöteten Riekmannen versammelt hatte und dessen leblosen Leichnam von oben bis unten nach Wertgegenständen absuchten. Brarek nahm ihm gerade die mit Fell gesäumten Stiefel ab und Sylaen stritt sich mit Gramul gro-Ogdum um ein kleines Säckchen, dass gewiss einige Septime beherbergte.
Stephanus lief zu Hrard hinüber, der sich etwas erhöht auf einen kleinen Felsen gestellt hatte, um einen besseren Überblick über die Gruppe zu haben. Gerade gab ihm Berend einen kurzen Bericht über ihren Erfolg an der Brücke, doch als der Kaiserliche sich ihnen im Laufschritt näherte, drehten sich beide zu ihm um. Weder der eine noch der andere machte einen wirklich glücklichen Eindruck. Auf Hrards Gesicht zogen sich die Mundwinkel sogar nach unten, was nie ein gutes Zeichen war.
„Levinius,“ verlangte Hrard herrisch zu wissen, unterschwellige Ungeduld in der Stimme. „Wie in Oblivion konntet ihr das hier verbocken?“
„Es war Spurius,“ antwortete Stephanus ohne Rückhalt. „Er ist einfach aufgesprungen und auf die Festung zugelaufen.“
Berend drehte den Kopf suchend zu den restlichen Kaufklingen um, welche teils miteinander redeten, und teils die Festung hüteten und einen kleinen Belagerungsring bildeten. Dabei ging er methodisch vor und sah aus, wie ein Assassine der in einer Menschenmenge nach seinem Opfer sucht.
Hrard seufzte tief und begann sich die Stirn zu reiben. Alles war zwar verhältnismäßig gut gegangen, aber offensichtlich fixierten sich die Gedanken des Nordmannes auf das, was hätte sein können. Es hätte wirklich alles den Bach runter gehen können, wäre die Festungsanlage nicht so überraschend unzureichend bemannt.
Hrard drehte sich ruckartig wieder zu Stephanus um. „Und Euch ist es nicht in den verdammten Sinn gekommen, ihn aufzuhalten?“
Der Kaiserliche zuckte leicht die Achseln. „Ich hab's versucht, aber seine Idiotie war schneller als ich. Ich hätt es mir im Leben nicht geträumt, dass er entgegen aller Vernunft auf die Festung zuläuft, Hrard.“
Der Offizier schien mit dieser Entschuldigung nicht ganz zufrieden zu sein, aber er sah dennoch nicht mehr so wütend aus wie zuvor.
„Boss?“ fragte Berend, der sein Ziel wohl gefunden hatte, und Hrard wand sich ihm zu und von Stephanus ab, was bedeutete, dass das Gespräch zwischen dem Kaiserlichen und ihm glücklicherweise vorbei war, ohne für den Ersteren richtig unangenehm zu werden.
„Was ist?“
Der Dunkelelf lächelte, als er mit seinem Kopf ruckartig zur Seite nickte. Stephanus folgte dem Nicken mit den Augen und erblickte Cocius, wie er mit vor der Brust verschränkten Armen gegen einen der zahllosen Felsen lehnte. Seine Aufmerksamkeit schien allein auf der Festung zu liegen, und er bemerkte nicht, wie die drei Männer sich zu ihm umdrehten.
„Darf ich?“
Hrard wiegte den Kopf hin und her, und dann nickte er. „Ja.“
Zuerst verwirrt, und dann mit vorfreudigem Interesse erfüllt verfolgte Stephanus mit, was der Dunmer vorhatte.
Egal was es werden würde, es würde gut werden.
Berend schlenderte schlaksig zu Cocius hinüber und klopfte dem jungen Kaiserlichen auf die Schulter, und als dieser sich umdrehte, verpasste ihm der Dunkelelf unvermittelt eine kräftige Kopfnuss. Mit einem erschrockenen Schrei fiel Cocius zu Boden, und kleine Bluttröpfchen regneten auf den staubigen Boden herab.
Niemanden schien Cocius' Leid zu stören, einige lachten sogar laut auf, bevor sie sich wieder auf die veraltete Feste konzentrierten. Sylaen gackerte hysterisch und rieb sich freudig die Hände. Niemand machte auch nur Anstalten, ihm zu helfen. Andererseits begann auch niemand damit, dem Dunkelelfen zuzujubeln. Nichts weiter als der tagtägliche, geregelte Ablauf.
„Es gibt also doch noch Gerechtigkeit auf Nirn,“ dachte Stephanus sich, als sich seine Miene wegen des Schauspiels wieder aufhellte.
„Du saudummer Huhrensohn!“ schrie Berend auf den Kaiserlichen herab, welcher sich mit einer Hand die blutende Nase hielt und die andere abwehrend vor sein Gesicht hob.
„Warum haben wir diese ganze Scheiße veranstaltet, mit der Flussüberquerung und dem säubern der Brücke? Huh?“
Der Kaiserliche stammelte schluchzend vor sich hin und schaffte es dann mit gebrochener Stimme ein Paar Wörter herauszubekommen: „Was stimmt nicht mit dir? Oh Götter!“
Cocius versuchte rückwärts von Berend weg zu krabbeln, dem Dunmer reichte jedoch bereits ein einziger Schritt, um mit dem wimmernden Mann mitzuhalten. Bedrohlich hob er seine zur Faust geballte Rechte.
„Beantworte die Frage!“
„Lass mich in-“
„Die Frage!“
Berend untermalte sein Geschrei mit seiner Faust in Cocius' Gesicht. Der Kaiserliche schrie vor Schmerzen auf, doch Berend war noch nicht fertig mit ihm.
„Soll ich dir deine verdammten Beine Brechen? Beantworte die Frage, Spurius!“
„Okay, okay!“
„Warum. Haben wir. Dieses ganze Manöver durchgeführt?“
„W-weil-“
„Ja?!“
„Damit- damit sie die Tür nicht ve-ve-verrammeln!“
„Und was haben sie gemacht?“
Cocius drehte den Kopf zur Seite, um eine Mischung aus Blut und Speichel auszuspucken, dann sah er wieder hoch.
„Die Tür-“
„Und wieso?“
„S-s-sie haben uns bemerkt, weil-“
„Weil eine Schlammkrabbe mehr im Kopf hat als du! Und jetzt steh auf du dreckiger Wurm!“
Dann ließ Berend den gepeinigten Cocius auf dem Boden liegen, aber nicht ohne ihm einmal in die Seite zu treten. Daraufhin flanierte er zurück auf Stephanus und Hrard zu.
Das Lächeln war mittlerweile von Stephanus' Gesicht verschwunden. So einen Ausbruch hatte er nicht erwartet, auch wenn er wusste, wie sehr Berend Cocius hasste. Spurius hatte dem Dunmer an seinem ersten Tag wohl einen falschen Blick zugeworfen, und seit dem nutzte Berend jede Entschuldigung, um den Kaiserlichen zu misshandeln. So gewalttätig war der Dunmer bis jetzt aber nicht geworden.
Berend und Hrard fingen neben Stephanus an, sich wieder zu unterhalten, als sei nichts gewesen. Der bärtige Kaiserliche schüttelte den Kopf, als er dabei zusah, wie Cocius versuchte aufzustehen. Jemand ging zu ihm hinüber, um ihm beim Aufstehen zu helfen, doch er schlug seine Hand zur Seite und schrie ihm zu, er solle gefälligst die Finger von ihm lassen.
"Bärenpelz!" hörte der Kaiserliche dann Hrard neben sich rufen. "Hol die Axt!"
Einige Minuten später hatten sich die Söldner schon um den Zugang zum Kastell versammelt, in gebührendem Abstand zum massigen und äußerst haarigen Nord und seiner enormen Axt. Mit einem leisen Stöhnen hob Bärenpelz die Axt über seinen Kopf und ließ sie dann auf das Holz der Eingangspforte niedersausen. Tatsächlich brach er ein Loch in die verbarrikadierte Tür, während links und rechts Splitter in die Menge flogen und nutzlos an Rüstungen und Stoff und abgewandten Gesichtern abprallten.
Stephanus warf einen schnellen Blick nach oben zum Rand der Palisade, doch nichts bewegte sich dort. Erneut hob der aus allen Poren schwitzende Bärenpelz die Axt. „Nicht mehr lange, und wir sind drin.“
Ein weiterer mächtiger Hieb folgte, ein weiterer Regen aus Holzsplitter, unterdessen der Nord vorfreudig rief: „Hier kommt Pelzie!“
Wieder und wieder und wieder hieb der monströse Nord mit der Axt auf die Tür ein. Die restlichen Söldner bereiteten sich unterdessen angespannt schweigend darauf vor, in die Bresche zu springen, mit erhobenen Schilden und gezogenen Waffen.
Dann ertönte ein lautes Klacken, als der Balken, der die Türe von innen verschlossen hielt, in zwei Teile zersplitterte, aus der Verankerung rutschte und auf dem Boden aufkam. Bärenpelz trat zurück, derweil die anderen Söldner brüllend die nun nutzlosen Überreste der Tür aufstießen und ins Innere der Festung eindrangen. Jedenfalls hätten sie das, wäre nicht bereits der Erste von ihnen nach seinem ersten Schritt sofort zurückgeschleudert worden. Er krachte gegen seinen Hintermann, und dieser krachte gegen seinen Hintermann, und es ging so weiter, und bis auf jene, die geistesgegenwärtig schnell zur Seite traten, lagen bald alle Söldner stöhnend auf dem Boden. Jedenfalls alle, die vor Brarek Jungeiche standen. Der Junge Nord hatte den mittlerweile abgeschwächten Rums seiner umfallenden Kameraden unbeeindruckt dreinblickend weggesteckt und damit das Dominospiel aus Männern und Frauen frühzeitig unterbrochen. Domino-Day 4Ä201 war damit alles in einem ein großer Misserfolg, und irgendwo bereitete sich ein Mann namens Haskill auf den Wutausbruch seines Meisters vor.
Wäre da nicht sein Helm im Weg gewesen, würde Stephanus sich jetzt stöhnend die Stirn reiben. Ein Teil von ihm wollte auf dem Boden liegen bleiben, den leicht bewölkten Himmel ansehen und sich ausruhen. Ein anderer Teil erinnerte ihn meckernd daran, dass er sich gefälligst zur Seite hätte schmeißen sollen, und er lieferte eine Portion Schmerz als Argument. Der vernünftige Teil seines Bewusstseins versuchte ihn dazu zu zwingen, aufzustehen und sich kampfbereit zu machen. Die Schmerzen waren der Grund, der es dem ersten Teil erst ermöglichte, aus seiner modrigen Kiste zu klettern, denn unter anderen Umständen würde der Dritte auf dem Deckel sitzen.
Schließlich bewältigte er die Pein und kämpfte sich wieder hoch. Er sah zum Eingang hin, in dem immer noch der an Seilen befestigte Baumstamm hing, der nach unten geschwungen kam, als sie versucht hatten, reinzulaufen. Vor sich sah er einige seiner Mitstreiter immer noch am Boden liegen, und je näher sie zur Tür hin lagen, desto lauter stöhnten sie. Jedoch stöhnte die arme Seele, die als erste durch die Tür getreten war und so die volle Wucht der Gravitation in Aktion erleben musste, nicht mehr. Er wurde schnell von Zweien der Geistesgegenwärtigen zur Seite gezerrt.
Stephanus drehte seinen noch dröhnenden Kopf ein wenig und erblickte nun Hrard, der ungläubig und mit offenem Mund etwas versetzt neben der umgefallenen Reihe stand und sich nicht bewegte. Danach zeigte der Nord jedoch Emotion, und das war bei Hrard nie ein gutes Zeichen.
„Was sollte das denn, ihr Weichhirne? Steht gefälligst wieder auf und erobert mir diese beschissene Festung!“
Angestachelt von ihrem Anführer, der für seine Verhältnisse einen regelrechten Tobsuchtsanfall hatte, kam der Großteil von ihnen unter schlecht unterdrücktem und wehleidigem Jaulen wieder auf die Beine und bereitete sich erneut vor, die Feste zu stürmen. Dieses mal jedoch verzögerte sich das ganze, denn es war neben der variierenden Dosis an Schmerzen jeder für sich selbst damit beschäftigt, nicht an der Spitze zu stehen. Erst einige Sekunden später bohrte sich die Erkenntnis, dass Hrard immer noch neben ihnen stand, erneut in das kollektive Bewusstsein, und die Ersten stürmten durch die Pforte und an dem baumelnden Stück Holz vorbei.
Der letzte Abgeschworene fiel entsetzt zu Boden und versuchte von den herannahenden Söldnern rückwärts wegzukriechen und zeitgleich den Pfeil wieder aus seiner Schulter zu ziehen. Die Widerhaken ließen ihn sofort umdenken, und er stieß an die Steinmauer hinter sich. Gehetzt blickte er sich um, doch soeben wurde seine fallengelassene Waffe zur Seite hin weggetreten. Die auf ihn zukommenden rauen Männer und Frauen lächelten, doch es lag kein Quäntchen Freundlichkeit in ihren Gesichtszügen.
„Stop,“ befahl Hrards gebieterische Stimme von hinten. „Lasst den hier am Leben.“
Stephanus sah sich nun besser im Raum um, während einige seiner Mitstreiter den verwundeten Bergmann umringten, die verschiedenen Türen in der Halle sicherten oder sich daran machten, ihre gefallenen Gegner von ihren Habseligkeiten zu erleichtern. Sie brauchten sie sowieso nicht mehr.
Erneut war der Kaiserliche davon überrascht, wie wenig Widerstand auf sie zugekommen war. Nachdem sie durch das Tor stürmten, waren ihnen nur behelfsmäßige Holzpalisaden und fünf zu Tode verängstigte Abgeschworene im Weg gewesen. „Sechs“, verbesserte sich Stephanus. „Einer von ihnen ist durch die Tür dahinten entwischt.“ Aber diese Eingangshalle war sehr gut auf eine Verteidigung ausgelegt. Angreifer mussten erst durch eine Art offenen Tunnel durchlaufen, bevor sie eine Treppe nach oben erklimmen konnten. Sowohl im Durchgang als auch auf der Treppe konnten die Verteidiger ohne Mühe auf sie hinab schießen oder mit Speeren nach ihnen stechen. Eigentlich hätte es für die Söldner die Hölle sein müssen. Und doch sind sie mit nur einigen Verletzungen hier und da durchgekommen.
„Aber Hrard,“ flüsterte Fleisch ihrem Anführer zu, damit ihr geschlagener Widersacher sie nicht hören konnte. „Du hast 'sagt keine Gefangenen.“
„Hab ich,“ erwiderte der Nord trocken. „Ich hab auch nicht vor, ihn zurück nach Hause mitzunehmen.“
Fleisch nickte, und Stephanus schaute dabei zu, wie Hrard auf den wehrlosen Riekmannen zuging.
„Wo ist der Rest von euch?“ verlangte Hrard zu wissen.
Sein Gefangener schaute nicht zu ihm auf, sondern glotze schwer atmend auf die gepanzerten Stiefel vor ihm. Eine Wandfackel in der Nähe beleuchtete gespenstisch die Szene und ließ den kalten Schweiß auf der Stirn des Fast-Bretonen glänzen. Seine Augen lagen im Schatten.
Der Nord seufzte kurz und hob sein Schwert an den Hals des Mannes.
„Wo ist der Rest von euch?“ fragte er erneut.
Endlich reagierte der Abgeschworene. Er blickte hoch in Hrards hartes Gesicht, wischte sich zitternd etwas Blut von der Unterlippe, wobei er mit der Hand Abstand zum kalten Stahl des Schwerts hielt, und fing unerwartet an zu glucksen. In und unter seinen Augen glitzerten Tränen.
Im Raum war es still geworden. Die Söldner lauschten gespannt, ob sich gleich ein Schauspiel ereignen würde.
Hrard ließ sich keine Überraschung anmerken, sondern das Schwert wieder sinken und beugte sich über den schwach und leise lachenden Bergmenschen. Grob packte er mit seiner freien Hand den Pfeilschaft in der Schulter des Mannes und drehte ihn unsanft. Sofort verkrampfte sich der ganze Körper des Verletzten und er schrie gepeinigt auf, und erst nach einigen Sekunden ließ der große Nord den Pfeil wieder los. Der Abgeschworene sank stöhnend in sich zusammen und lachte nicht mehr.
„Antworte,“ sagte Hrard kalt.
„Er-er hat sie geholt,“ stotterte der Mann mit trockener Kehle hervor. Erneut hob er den Kopf und sah in Hrards leicht verwirrtes Gesicht.
„Er hat sie alle geholt, und jetzt wo ihr hier seit wird er euch auch holen.“
„Von wem redest du, Wurm?“
Doch der Riekmanne schien ihn nicht mehr zu hören, sondern eher mit sich selbst zu reden. „Jaja, sie haben ihm nicht gehuldigt. Hab'n sich nicht gebeugt. Sie haben seiner frohen Botschaft nicht gelauscht, und so hat er sie geholt, einen nach dem anderen...“
„Schluss mit dem Unsinn. Redet Klartext, oder ich dreh den Pfeil solange, bis er von alleine wieder rauskommt.“
Die schmerzliche Erinnerung an den Pfeil zog den Gefangenen zurück in das hier und jetzt. Hastig sprach er weiter, um einer wahrgemachten Drohung zuvorzukommen.
„Von wem ich rede? Von Gott natürlich, haha! Die Acht sind tot, jawohl, er hat sie gefressen und ihren Platz eingenommen! Es gibt die Acht nicht mehr, nur noch ihn, und ihn alleine, und alle, die sich ihm nicht unterwerfen, die wird er dem Erdboden gleichm-“
Hrard unterbrach das erratische Gestammel des Mannes durch einen Tritt gegen dessen Seite. Wie ein unbarmherziger Richter erhob sich der Nord erneut zu voller Größe und starrte auf das bemitleidenswerte Häufchen Elend hinab und sagte:
„Dieser hier ist hinüber. Macht mit ihm, was ihr wollt.“
Damit wand er sich von dem Mann ab und den restlichen Söldnern entgegen.
„Durchsucht die Festung. Stellt sicher, dass dieser Abschaum keine Rauchsignale sendet.“
Er warf ihnen einen vielsagenden Blick zu. „Was mich angeht, sind sie alle schon tot.“
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„Schaurig,“ flüsterte einer der Söldner, als sie mit gehobenen Waffen vorsichtig die Treppe erklommen. „Nur zwei haben sich bis jetzt überhaupt gewehrt. Alle anderen, die waren sogar noch weicher in der Birne, sogar mehr, als der Bastard im Eingangsbereich.“
Die sechs Mann starke Gruppe nickte langsam, jeder für sich selbst. Erhellt wurden sie dabei von in Wandhalterungen steckenden Fackeln.
„Was bei Molag Bal geht in diesem Drecksgemäuer vor? Habt ihr die Küche ges-“
„Wir haben alle die Küche gesehen,“ unterbrach ihn Stephanus barsch. Er schritt an der Spitze der Gruppe voran.
Beim Gedanken an die Küche lief ihm ein mächtiger Schauer über den Rücken, und das reichte ihm schon. Er brauchte keine Wiederholungen. Hrard hatte ihm erneut das Kommando über eine kleine Gruppe gegeben, und er hatte nicht vor, zusammen mit seinen nervöseren Kumpanen in Hysterie zu verfallen.
Die Küche war ein muffiger, dunkler Raum mit von Rauch geschwärzter Decke gewesen, die einzige Verbindung zur Außenwelt war eine alte Tür und der baufällige Schornstein. Als Ort, an dem Essen zubereitet wurde identifizierten sie die Regale voller Teller, Töpfe und Gewürz. Von den letzteren verschwanden diverse Behälter in verschiedensten Taschen. Trotz der Szene um die ausgebrannte Feuerstelle herum ließen es sich manche einfach nicht nehmen zu nehmen.
Eine Abgeschworene hatte sich dort, gegen eine nahe gelegene Theke gelehnt, beide Handgelenke mit einem Messer aufgeschnitten und war verblutet, bevor die Gruppe in den Raum stürmte. Die anderen zwei Leichen hingen an Stricken von einem Balken herab. Dem Gestank nach zu urteilen war das erhängte Paar bereits lange tot gewesen, bevor die Söldnerarmee überhaupt in Karthwasten angekommen war. Es waren eindeutig keine Gefangenen gewesen, denn sie trugen Tierpelze, und zu ihren Füßen lagen noch die um getretenen Hocker.
Die Gruppe erreichte nun das Ende der Treppe und fand sich an einer schmalen Holztür wieder. Der Kaiserliche warf einen Blick nach hinten, und nachdem ihm die wahlweise harten, gleichgültigen oder unruhigen Gesichter seiner Kameraden ein Zeichen der Bereitschaft zugesendet hatten, holte er tief Luft.
Stephanus stieß die Tür auf und bewegte sich Schild zuerst in den länglichen Korridor hinein.
„Leer,“ sagte er, und klang dabei nicht so erleichtert wie es ihn eigentlich machte. Er musste den Eindruck aufrecht erhalten, dass er genau wusste, was er tat, sonst würde die ihm unterstellte Truppe in Panik ausbrechen und schnurstracks zurück nach Karthwasten laufen, und dann würde nicht einmal mehr ein wütend schreiender Hrard sie aufhalten. Der Kaiserliche musste sich selbst zusammenreißen, um nicht dem Fluchtinstinkt nachzugeben. Das alte Gemäuer triefte nur so vor „Hau-hier-bloß-ab“.
Die Söldner waren es gewöhnt, Tod, Trauer und Verzweiflung um sich zu haben, doch unter normalen Umständen waren sie selbst diejenigen, die sie verursachten. Dass diese Zustände bereits herrschten, bevor sie eintrafen war den meisten von ihnen neu und unangenehm. „Jedoch sollte es nicht so einen starken Einfluss auf uns haben,“ dachte Stephanus stirnrunzelnd. „Vermutlich ist hier Magie im Spiel. Neunverdammte Magie."
Hinter sich hörte er Stahlzapfen halbherzig rufen: „Wo bei Oblivion verstecken die sich?“ „Selbst er will hier nur noch weg,“ entschied der Kaiserliche. Er kannte Soldin nun seit einiger Zeit und erkannte die unterschwellige Unruhe in seiner Stimme. „Er brüllt und stampft nur herum, um altnordische Traditionen zu wahren.“
Die restlichen vier Söldner schoben sich nach dem muskelbepackten Nord nun ebenfalls durch die aufgestoßene Pforte. Durch die gesamte Festung hallten Rufe und das Schaben von Rüstungen während sich Hrards Einheiten Raum für Raum durch das Gemäuer arbeiteten.
Stephanus schritt weiter auf die nächste Tür zu. Der zwei Mann breite Korridor verlief wohl an dem kurzen Stück westlicher Außenmauer, denn zu seiner linken pfiff der Wind durch einige Schießscharten, welche gleichzeitig die einzige Lichtquelle boten. Hier gab es keine Fackeln.
Blinzelnd gewöhnte er sich an den Übergang von pulsierendem Fackelschein an das natürliche Halbdunkel und konnte nun eine Gestalt ausmachen, die zusammengesackt gegen die Mauer lehnte. Er kniff die Augen und runzelte die Stirn, und jetzt erkannte er, dass es sich um die verkohlten Überreste eines Menschen handelte, und jetzt wo er genauer hinsah stellte sich auch heraus, dass die Mauer gegenüber einer der Schießscharten rußgeschwärzt war. Die Figur war zu entstellt, um ein Geschlecht auszumachen. Nachdem er sich genähert und neben der Gestalt in die Hocke gegangen war untersuchte der Kaiserliche sie näher während hinter ihm einer seiner Gefährten bei dem Anblick der Leiche ungewöhnlicherweise leise wimmerte.
Was immer auch den Mann oder die Frau verbrannt hatte musste dies von außerhalb der Festung getan haben. Vor nicht allzu langer Zeit sogar. Dem Kaiserlichen richteten sich die Nackenhaare auf als er durch ein Gefühl auf der Haut erschrocken feststellte, dass die Leiche noch schwach wärme abstrahlte, und er sich plötzlich ganz deutlich daran erinnern konnte, dass keiner der Söldner beim Ansturm auf die Burg Zerstörungsmagie gewirkt hatte, so etwas hätte er bemerkt. War die Mauer außen auch angeschwärzt? Wenn ja, dann musste er dieses Detail beim Ansturm übersehen haben. Diese Leiche erklärte wohl auch, warum die Abgeschworenen absurderweise nur von den Zinnen herab auf sie geschossen hatten, nicht aber durch die zahlreichen Schießscharten. Dass die verkohlte Masse aus Fleisch und Knochen noch warm war deutete deutlich auf Magie hin, natürliche Flammen verursachten so etwas nicht.
Er richtete sich wieder auf und drehte sich kurz zu den anderen um. Die Anspannung war immer noch in der Luft zu spüren, denn jeder von ihnen spürte schon seit dem Theater in der Eingangshalle, dass etwas nicht stimmte, und laut gesagt werden musste es erst nicht. Gekauft oder nicht, Soldaten entwickelten ein Gespür für „etwas stimmt nicht“, oder sie wurden nicht sehr alt.
Stephanus stieß vorsichtshalber die Spitze seines Schwertes durch eine der ausgebrannten Augenhöhlen – Sicher war Sicher - und ging dann weiter zur Tür am anderen Ende des Ganges.
„Ich glaub ich hab's raus,“ sagte er, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet, auf die er zuschritt.
„Was'n?“
„Irgendein Hexenmeister oder Daedrapriester hat diese Tölpel überwältigt und sich zu ihrem Gott erklärt, und...“
Er zuckte die Achseln. „Und die Überlebenden haben den Druck nicht mehr ausgehalten. Komisch nur, dass die ganzen Türen noch ganz sind. Nach einem Magierangriff hätte ich verkohlte Holzreste erwartet.“
Hinter ihm stieß eine seiner Kumpanen, eine Ork, ein tiefes „Hmm“ aus, was Stephanus' Erfahrung nach bei vielen von seinen Mitstreitern bedeutete, dass ein Denkvorgang langsam ins Rollen kam. Bei einigen von den dümmeren versuchte dieser Denkvorgang gegen ein Gefälle zu rollen, weswegen ein „Hmm“ manchmal von Nöten war, um ihn wieder auf die richtige Bahn zu bringen. „Vielleicht mehr als einer,“ sagte die massige Ork schließlich nach ausreichender Denkpause. „Wir wissen ja, wie dieses Magierpack tickt. Bestimmt n' Paar Schüler im Schlepptau.“
Wieder ein Nicken in Einigkeit. Die Söldner wussten sehr wohl, wie Magierpack tickte. Jedenfalls dachten sie das. Viele von ihnen benutzten selbst Magie – schließlich durchfloss die arkane Energie jedes selbst nur zweifelhaft zum Denken fähige Wesen auf Nirn - jedoch taten sie das in vergleichbar geringem Maße. Stephanus selbst beherrschte einen kleinen Zauber, der Schmerzen kurzzeitig etwas dämpfen konnte, und er konnte mit einem Schnippen eine kleine Flamme erzeugen, um Lagerfeuer und Fackeln zu entzünden, aber das war's auch schon.
Nein, mit Magierpack waren vollzeitige Magienutzer gemeint. Von denen gab es einige in der Kompanie, und die zu kennen war für die meisten Söldner bereits genug, um alle Magier zu kennen.
„Was ich mich aber frage,“ grummelte Stahlzapfen, „wo sind diese Robenträger jetzt?“
„Abgehauen, als sie erfahren haben, dass wir im Dorf nebenan aufgetaucht sind, denk ich mal,“ antwortete Stephanus und schloss eine Hand um den nun erreichten Türknauf und bereitete sich mental darauf vor, den Raum dahinter zu stürmen. „Und davor haben sie diese verdammte Festung so verflucht, dass jeder in ihr langsam dem Irrsinn anheim fällt.“
Laut sagte er: „Wir werden's sicherlich früh genug erfahren...“
Auf der anderen Tür befand sich eine von Fackeln gut beleuchtete, breite Wendeltreppe sowohl nach oben als auch nach unten. Zu seiner linken konnte Stephanus dort, wo die Treppe langsam in Richtung der tieferen Ebenen krümmte, eine weitere Fensterlaibung ausmachen, doch sie war so schmal, dass der orangen Fackelschein das durch sie hereinkommende Sonnenlicht übertünchte. Sein Orientierungssinn sagte ihm, dass sie wohl im großen runden Westturm der Festung angelangt waren.
Doch was auffälliger war als die Beleuchtung der Treppe war der klassische Stapel an Baustämmen, zurückgehalten nur durch die Abwesenheit einer Person, die den ersten, untersten Stamm zum Rollen brachte. Der Kaiserliche trat auf die altbewährte Abwehrmethode gegen mordlustige Treppensteiger zu und deutete seinen Gefährten, sie sollten ihm den Rücken decken.
Direkt neben dem Stapel blieb er stehen und reckte vorsichtig den Hals, um nach unten und weiter hinter die Biegung der Spirale blicken zu können. Von unten her drangen bekannte Stimmen zu ihm herauf und er entspannte sich ein wenig.
„Berend, wir sind hier oben fast fertig!“
Kurzes Schweigen, dann: „Levinius?“
Einige Sekunden später erreichte der Dunmer samt seinem Gefolge dann Stephanus.
„Bericht?“ Stephanus konnte an ihren Gesichtern ablesen, dass Berend's Begleiter genauso angespannt waren wie die Anderen und der Kaiserliche selbst auch. Der Dunmer selbst hingegen schien recht zufrieden mit sich selbst zu sein.
„Zwei haben uns angegriffen, der Rest war schon tot oder hat sich nicht gewehrt,“ antwortete Stephanus knapp. „Die zwei ersten Stockwerke auf der südwestlichen Seite sind sauber. Und geht nicht in die Küche.“
Der Dunmer nickte, und lächelte dann etwas breiter. „Wir haben uns einen der Bergmänner geschnappt. Sylaen ist gerade dabei aus ihm herauszukitzeln, warum sich die ganze Festung so schlappschwanzig wehrt.“
Er schien seinen Gesichtsausdruck bemerkt zu haben, denn er fügte noch hinzu: „Keine sorge, ich hab Harun bei ihr gelassen, damit er aufpasst, dass sie den Affen nicht umbringt, bevor er uns alles erzählt hat.“ Anschließend schüttelte er den Kopf und sprach dann in leicht erschöpften Tonfall weiter: „Was soll nur aus der Jungelfe werden? Sie ist einfach zu eifrig...“ Dabei klang er, als würde er über eines seiner Kinder reden, dass wieder einmal etwas Unruhe gestiftet hat.
Dann wurde er wieder ernst. „Hey, glotz mich gefälligst nicht so dumm an, Levinius.“ Stephanus stellte zufrieden fest, dass sein Blick also gereicht hatte, um auszudrücken, wie wenig er von Sylaen und Berend hielt.
Der Dunmer schnaufte verächtlich. „Tu nicht so, als ob du was besseres bist, Levinius. Flanierst hier andauernd mit deiner miesepetriger-Veteran-Visage herum und blickst auf die anderen herab, als wärst du klüger und moralisch besser als jeder hier. Fast wie ein Hochelf.“
Das traf bei Stephanus einen wunden Punkt, er versuchte aber verzweifelt Haltung zu bewahren. Folms Berend lächelte zufrieden, denn er musste wohl bemerkt haben, wie der Kaiserliche kurz zusammengezuckt war.
Das Stephanus Altmer nicht ausstehen konnte war gut bekannt, und mit ihnen verglichen zu werden rief bei ihm Übelkeit hervor, doch was ihn traf war etwas anderes, auf dass der Dunmer offensichtlich anspielte.
„Bist du jetzt fertig?“ fragte der Kaiserliche ungeduldig, erpicht darauf, das Thema zu wechseln.
„Ja. Nimm deine Leute und räum' das Plateau und die Türme,“ befahl Hrard's de-facto rechte Hand schließlich. „Bei der Treppe auf der anderen Seite gibt’s Komplikationen, die ist nämlich mit jeglichem Schrott verrammelt, und Bärenpelz will sich nicht bewegen, weil er sich angeblich irgendwas gezerrt hat. Verdammte Nords.“
Unweit stieß Stahlzapfen ein wütendes „Hey!“ aus, doch der Dunmer beachtete ihn nicht weiter.
„In Ordnung. Wie steht's mit dem Rest der Festung?“ erkundigte der Kaiserliche sich wieder in professionellem Tonfall. Berend's Dauerbeleidigungen größtenteils zu ignorieren war er schon längst gewöhnt – das sagte er sich selbst jedenfalls. Zudem hatten sie noch Arbeit zu erledigen.
„Nur noch ein Paar Gewölbe und das verdammte Plateau. Wenn ihr hier oben fertig seit, bewegt eure Ärsche zur Eingangshalle und wir verschwinden von hier.“
Die Aussicht darauf, diese verfluchten Mauern zu verlassen belebte Stephanus ein wenig.
„Berend, sag Hrard Bescheid, dass es vermutlich Magier waren, die diese Abgeschworenen so übel zugerichtet haben.“
„Magier, hmm?“
„Ja. Wir haben einen verkohlten Leichnam gefunden, offensichtlich Feuermagie. Ist sogar noch etwas warm.“
„Nun gut. Und jetzt mach dich gefälligst an die Arbeit, Kaisermann.“
Und damit ging der Dunmer samt Entourage wieder nach unten.
Stephanus sah ihm finster hinterher und fragte sich, ob Berend wirklich auf die zwei Morde angespielt hatte.
Vor etwa eineinhalb Jahren wurden zwei Altmer in Hrards Trupp gesteckt, und der Kaiserliche hatte sich nie die mühe gemacht, sich ihre Namen zu merken. Nach rund einer Woche war der erste bereits tot: Im Getümmel der Schlacht passierten oft Unfälle, vor allem wenn gerade niemand hinsah. Einen Monat später folgte auch der nächste seinem Vetter ins Grab. Stephanus hatte den Fehler gemacht, den zweiten einige Tage vor einem Kampf und seinem Tod wütend anzuschreien, und Gerüchte hatten damals schnell die Runde gemacht.
„Tu nicht so, als ob du was besseres bist, Hochelf. Du flanierst hier andauernd mit deiner hochwohlgeborenen Visage herum und blickst auf die anderen herab, als wärst du klüger und moralisch besser als jeder hier.“ Berend hatte ihn fast Wort für Wort zitiert.
Der Kaiserliche schüttelte den Kopf. Dass der Dunmer sich nach so einer langen Zeit noch an den genauen Wortlaut eines Wutausbruchs erinnerte war wohl Teil der elfischen Langlebigkeit. Stephanus selbst hatte seine eigenen Worte schon fast vergessen, und erst als er sie wieder gehört hatte wurde die Erinnerung daran geweckt.
„Na und? Warum fühlst du dich plötzlich schuldig? Schließlich hast du der Welt einen großen Dienst erwiesen. Nicht nur waren die beiden Gelbhäute gewissenlose Söldner gewesen, sondern dazu auch noch Hochelfen!"
Sein Blick lies sich wieder auf dem Stapel aus Baumstämmen nieder. Musste er jetzt Erpressung fürchten? Ein Paar rollende Stämme würden ihm gewiss Sicherheit verschaffen.
„Nein. Wie würde er mich damit erpressen? Unter Mördern ist Mord nichts besonderes. Außerdem ist es den ganzen Ärger nicht wert.“ Er seufzte und drehte sich zu seiner Truppe um, um sie mit einem Winken in Bewegung zu versetzen.
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Die Söldner atmeten hörbar auf, als sie sich auf das höchstgelegene Plateau hinaus bewegten und nicht mehr auf der Innenseite der verfluchten Mauern steckten. „Deswegen haben wir die Abgeschworenen auch außerhalb der Festung erwischt,“ dachte Stephanus, als er und seine Mitstreiter von der Tür weg ausfächerten.
Hier oben überragten sie nur noch die beiden Türme am West- und am Ostende der Festung, und als sich ihnen niemand entgegenstellte und vom Ostturm auch nicht sofort auf sie geschossen wurde, entspannten sie sich. Eine grundlegende Bereitschaft behielten sie jedoch bei, die Waffen blieben gezogen und die Schildarme angespannt.
Einschließlich Stephanus waren sie zu viert; zwei seiner Leute hatte er hoch auf den Westturm befohlen, der jetzt in ihrem Rücken lag.
Dort oben hatten sie auch eine große Feuerpfanne mit daneben liegenden Tongefäßen voller Kräuter gefunden, ohne Zweifel das Brennmaterial für ihre Signalfeuer. Die Töpfe waren mit drei verschiedenen Farben markiert, und die daneben liegende auf Pergament geschriebene Liste ließ Stephanus vermuten, dass die Abgeschworenen doch nicht so primitiv waren, wie es zunächst den Anschein hatte. Auf ihr waren alle Bewegungen an der Festung vorbei aufgezählt, doch was Stephanus' Aufmerksamkeit wirklich erregt hatte, waren die auf ihr aufgelisteten Handelskarawanen: Die meisten von ihnen würden dem Stück Papier zufolge erst im Laufe der kommenden Wochen hier vorbeikommen.
Geistesabwesend klopfte er auf den Beutel, in dem er das gefaltete Papier nun aufbewahrte. Außer einigen Kisten und Zelten, die sie rasch durchwühlten, gab es neben der Leiche des Bogenschützen auf der Terrasse nur eines, dass einen zweiten Blick würdig war: Eine kleine Balliste, vom Typus der als „Skorpion“ seit Jahrhunderten bei der kaiserlichen Legion und damit auch bei so gut wie allen Militärs auf Tamriel bekannt war. Die Ork stieß ein zufriedenes „Hah!“ aus, als sie ihren Pfeil in der Brust des Bergmannes wiedererkannte.
Neben dem nach oben zielenden Kriegsgerät lagen ein halbes Dutzend armlange Bolzen verstreut, doch die Balliste selbst war weder geladen noch gespannt.
„Seltsam,“ sagte Stephanus laut, während er mit dem behandschuhten Finger über den in das Holz eingeätzten kaiserlichen Drachen fuhr, der den letzten Zweifel daran beseitigte, dass diese Waffe gestohlen und nicht etwa von den Abgeschworenen selbst gebaut worden war.
„Warum haben die das Ding hier nicht gegen uns eingesetzt?“
Hinter ihm zuckte Stahlzapfen mit einem hörbaren Klappern seiner Rüstung die Achseln. „Ist doch egal, oder? Ihr habt ja gesehen, wie weich die alle in der Birne sind. Und so wie ich die Abgeschworenen kenne haben die's wahrscheinlich als Gott angebetet oder so.“
„Du kennst doch die Abgeschworenen gerade mal seit ein Paar Tagen, Soldin.“
„Lang genug, um genug über sie zu wissen. Muss aber zugeben, dieses Ding sieht nicht gerade aus, als ob es die Neun im Alleingang verschlingen könnte. Vielleicht haben die hier noch irgendwo ein Katapult, das mitgeholfen hat. Mit hinterhältigem Kriegsgerät kann man das nie wissen.“
Stephanus richtete sich mit einem belustigtem grunzen wieder auf und winkte den Rest der Truppe weiter zum Ostturm.
„Was is ein Skorpion überhaupt?“, warf einer der anderen Söldner, ein weiterer Nord namens Olaf, plötzlich ein. „Hab mich das immer schon gefragt.“
„Keine Ahnung,“ antwortete Soldin, doch dann fuhr er mit der Sicherheit eines Teilzeitexperten fort. „Wahrscheinlich eine Art von exotischem Daedroth. Eine Art, die große Nadeln verschießt. Ist doch offensichtlich.“
„Quatsch,“ sagte Stephanus, unangenehm an seine Zeit in Hammerfell und die unbarmherzige Wüste erinnert. „Ist ein Spinnenvieh, dass in der Wüste lebt. So ein Ding hat mir vor Jahren mal fast in den Fuß gestochen.“
„Also haben sie doch Nadeln!“ rief Stahlzapfen mit einem selbstgefälligen Nicken.
„Ja,“ bestätigte der Kaiserliche, „am Schwanz.“
Nach einer kurzen, grübelnden Stille sagte Olaf: „Frauenskorpione tun mir echt leid.“
Ohne dies einer Antwort zu würdigen warteten Sie noch darauf, dass ihre Truppenmitglieder vom Westturm nach einem Ruf zu ihnen aufschlossen, danach betraten sie widerwillig den Ostturm.
Schon nach dem ersten Schritt zurück in das Gemäuer war die gute Stimmung verflogen. Stephanus' Hände fingen leicht an zu zittern, wenn er sich nicht bemühte, es zu unterdrücken. Unter seinen Handschuhen waren sie schon längst verschwitzt, und nicht nur wegen der vorangegangenen Anstrengungen beim Stürmen der Festung.
Wie erwartet war das Innere des Turms das Spiegelbild des anderen, und eine Untersuchung der Turmspitze bestätigte Stephanus' Vermutung, dass sich dort niemand befand. Auch hier gab es eine Feuerpfanne, aber die Gefäße mit den Rauch färbenden Kräutern waren alle zerbrochen. Darüber hinaus gab es für die Söldner nichts von Interesse und sie stiegen wieder hinab.
Auf dem Weg in die andere Richtung der Wendeltreppe, weiter nach unten, stießen sie schließlich auf die von Berend beschriebene Barrikade aus Möbeln, Kisten und einfach allem, was der Barrikadenbauer wohl gerade zur Hand gehabt hatte. Vor ihr saß einer der Abgeschworenen, mit den Händen auf den Ohren hin und her wippend, und von der anderen Seite her waren die anderen Söldner hörbar, die gerade versuchten, die Mauer aus Holz zu überwinden.
„Ich versteh nicht, warum wir dieses vermaledeite Ding nicht einfach abfackeln,“ drang Bodeados Stimme zu ihnen herüber. Jemand antwortete ihm, doch sie wurde von einem orkischen Stöhnen und den Klängen splitternden Holzes übertönt.
Der Abgeschworene bemerkte schließlich die von hinten an ihn herannahenden Söldner. Mit blutunterlaufenen Augen schaute er auf, dann zuckte sein Blick einige Male zwischen der Barrikade und Stephanus' Truppe hin und her.
„D-das- das ist einfach nicht fair!“ stammelte er und wollte nach dem Dolch an seinem Gürtel greifen, bevor er wortlos niedergestreckt wurde.
Während die Leiche des Riekmannen von seinen Mitstreitern durchsucht wurde, trat Stephanus an die improvisierte Sperre heran und musste beeindruckt nicken. Wer auch immer diese Barrikade aufgebaut hatte, wusste genau was er tat, oder eben auch nicht. Tischbeine und Schubladen waren miteinander verkeilt, einzelne Bretter hielten größere Einzellteile des großen Ganzen zurück... Das Ergebnis war eine Mauer aus Holz, die einige Schritt tief war und vom breit gestuften Boden bis an die Decke reichte und den Weg auf ganzer Breite versperrte, und die scheinbar niemals mehr mit bloßen Händen auseinander gezogen werden konnte.
„Bodeado?“ rief der Kaiserliche während er versuchte, ein Loch in der Barrikade zu finden, durch das er auf die gegenüberliegende Seite sehen konnte.
Auf der anderen Seite wurde die Arbeit eingestellt.
„Levinius? Seit das wirklich Ihr?“
„Ja. Auf dieser Seite ist alles frei.“
„Wir haben also umsonst wie die Blöden auf dieses Ding eingehackt?“ Diese verärgerte Stimme war nicht Bodeado, sondern Brarek Jungeiche.
„Sieht wohl so aus. Hrard will, dass wir uns unten am Eingang treffen.“
Wie erwartet atmeten die Leute auf der anderen Seite hörbar auf.
„Na endlich kommen wir hier weg! Bis gleich, dann!“
Der Kaiserliche seufzte. Sie konnten leider nicht wie die Anderen direkt die Treppe nach unten nehmen, aber wenigstens konnten sie noch einen kurzen Spaziergang im Freien genießen.
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Stephanus zückte seinen Bogen, legte eine Hand auf die Brustwehr und seufzte. Naja, wenigstens hatten sie einen Posten im Freien zugeteilt bekommen.
Hrard hatte, als sie ihm von ihrem Erfolg berichtet hatten und die Festung verlassen wollten, mit leicht gerunzelter Stirn zwischen seinen Söldnern hin und her geblickt. „Gehen? Niemand hat was von gehen gesagt.“
Der Nord hatte das Ende des sofort entstehenden Tumultes abgewartet und dann weitergesprochen: „Was bei Oblivion habt ihr denn erwartet? Die gesamte Kompanie soll an dieser Festung vorbeimarschieren. Wollt ihr etwa, dass uns diese Bergtrottel das Ding wieder unter'm Arsch wegschnappen? Nein, wir bleiben hier und stehen Wache, nur die Verwundeten werden zurückgeschickt. Nein, Meum-Te, du kannst nicht gehen, weil du von deinen Eltern ausgesetzt wurdest, seelische Wunden zählen nicht. Brarek, pack das Messer weg, selbst zugefügte Stiche zählen nicht. Nein, Stahlzapfen, du kannst nicht gehen, wenn du und Brarek euch gegenseitig abstecht. Bei den Neun, ihr benehmt euch ja wie ein verfluchter Haufen Kinder heute!“
Sie hatten gemurrt, geflucht, gezetert und geheult, aber am Ende hatten sie sich doch ihrem Schicksal gefügt.
Die kleine Gruppe aus Verwundeten und ihre Eskorte verließen gerade die Festung.
Der Kaiserliche winkte ihnen gedankenverloren hinterher und sah ihnen dabei zu, wie sie nicht weit im Osten in der Straßenkurve hinter den Bergen verschwanden. „Glückliche Bastarde.“
Neben ihm zogen Soldin und Brarek verärgert über Hrard her, wobei sie jedoch nicht sehr laut waren und dauernd nervöse Blicke über die Schulter warfen. Der kühle Nord hatte die Angewohnheit, trotz schwerer Rüstung leise und plötzlich hinter einem aufzutauchen, wo er dann eine weile schweigend dastand und zuhörte, bis jemand ihn bemerkte.
Bei ihrem Gezeter erwähnte Brarek immer wieder, dass die Abgeschworenen dafür berüchtigt waren, böse Naturflüche zu spinnen und sich mit dunkler Magie das Bett zu teilen, dass sie die Festung wahrscheinlich so verflucht hatten, das jeder in ihr wahnsinnig wurde, und dass es von Hrard unverantwortlich sei, seine Leute in ihr gefangen zu halten. Als Soldin fragte, warum die Riekmannen das machen sollten, während sie selbst noch in der Festung steckten, antwortete der Nord nur, dass es zeigte, wie hinterhältig und skrupellos sie wirklich waren.
Ein bisschen weiter weg spielten Bodeado, Gramul gro-Ogdum und Olaf mit der Balliste herum. Über den Dreien stieg blaugrauer Rauch auf, wurde vom Wind mitgerissen und verschwand dann wieder. Sie hatten in einer Kiste, die in der Barrikade im Ostturm gesteckt hatte, einige Säcke gemahlenen Tabaks gefunden und sofort beschlagnahmt. Bodeado hatte den anderen gezeigt, wie sie sich aus einem Stück Pergament eine improvisierte Pfeife basteln konnten, und sofort fingen die Söldner an, ihre Beute mit den von Bodeado „Zigarren“ genannten Rollen zu verrauchen und zu schnupfen. Der Rothwardon selbst benutzte seine eigene, echte Pfeife aus Holz (natürlich mit eingeschnitztem Totenschädel-Motiv), und nickte selbstzufrieden dem laut hustenden Gramul zu.
Stephanus griff seinen Bogen, der gegen die Mauer gelehnt hatte, und schlenderte zu der Gruppe am Belagerungswerkzeug hin, danach bestrebt, sich von der Aura der Festung abzulenken.
„Natürlich ist das hier ein kleines Exemplar,“ erklärte Bodeado gerade in fachmännischem Tonfall, als er das Kriegsgerät mit einem der Bolzen lud. „Die Rote Rhyssa hatte richtige Ballisten auf ihrem Schiff. Mann, was für 'ne Frau das war.“
Die Gruppe bemerkte Stephanus und nickte ihm vereinzelt zu, als er sich zu ihnen gesellte.
„Erbeutet aus einem Transportschiff voller Zwergenzeug. Ein Bolzen konnte die meisten kleineren Schiffe mit einem Schuss versenken. Pyrultimus, unser Zerstörungsmagier an Bord, der musste sich richtig anstrengen, um Schritt zu halten, wenn die Ballistenmanschaft erst mal in Fahrt gekommen ist.“
„Pyrultimus? Wer nennt sein Kind Pyrultimus?“ fragte Stephanus und spürte, wie seine Angespanntheit langsam verflog, unterdrückt durch die alte Tradition des Nonsens-reden beim Wache stehen.
Niemand nahm die Geschichte des Rothwardonen wirklich ernst, sie war wahrscheinlich frei erfunden, aber trotzdem war das Trockenland-Seemannsgarn unterhaltsamer, als stumm Wache zu stehen und auf die Ablösung zu warten.
„Ach, so hat er sich selbst genannt,“ erklärte Bodeado. „Sein echter Name war Stultus, Stultus Starco-, Stecco-, nein, Stercorintus, oder so.“
Stephanus grinste.
„Welcher seiner Vorfahren hat jemals gedacht, dass der Name gut ist? Ich kann verstehen, warum er seinen Namen geändert hat,“ sagte er.
Die drei Nicht-Kaiserlichen sahen ihn verwirrt an.
„Wie dem auch sei...“ sagte Bodeado langsam, vom kurzen Themawechsel etwas aus dem Konzept gebracht. „Die Zwergen-Ballisten, richtige Prachtexemplare waren dass. Was kleine Armbrüste mal sein wollen, wenn sie groß sind. Hatten sogar eingebaute, wie hießen die Dinger nochmal, Gyr-ro-skope, die das Schwanken auf hoher See kompensiert haben.“
„Was ist denn aus der Roten Alyss geworden?“ fragte Gramul, der davor nur nickend und rauchend zugehört hatte.
„Ryssa, nicht Alyss,“ verbesserte der Rothwardon ihn. Ein anderer Erzähler wäre durch den ungläubigen Ton ihn ihrer Fragerei wohl genervt gewesen, doch Bodeado schien er sogar zu erfreuen.
Stephanus vermutete, dass es für seinen Freund eine willkommene Herausforderung war, ohne Verzögerung kleine Details dazu zu dichten, und dass es ihm Zeigte, dass Leute überhaupt Interesse an seinen Geschichten hatten, selbst wenn sie nur versuchten, Unstimmigkeiten zu finden.
„Ach die, wurde in Sentinel in einer Kneipe erstochen. Auf dem Meer war sie unbesiegbar, kämpfte immer, als würde Molag Bal persönlich hinter der Tür des Todes auf sie warten, doch auf dem Land... Leute haben gesagt, sie wäre so sehr an das Leben auf dem Schiff gewöhnt, den Wellengang und den Herzschlag der See, dass ihr auf festem Boden das Schwanken gefehlt hätte, und dass das sie tolpatschig gemacht hatte. Schade eigentlich.“
„Und die Ballisten?“ fragte Olaf.
„Hat die Mannschaft schnell verscherbelt und sich dann mit dem Gold verzogen.“
„Hah!“
„Ja. Und lasst es euch gesagt sein, wenn diese Khajiit-Bastarde keine gewichteten Würfel benutzt hätten, wäre ich heute nicht hier, sondern in meiner Villa in Skingrad. Spielt niemals Drei-Tage-Sheogorath gegen Katzenpack. Also nicht, dass ich was gegen Khajiiten hätte, faszinierende Kultur und alles, interessanter Fokus auf die Monde, aber sie stehlen das Glück aus dem Glücksspiel.“
„Sagen Glücksspieler nicht andauernd, dass es kein Glück im Glücksspiel gibt?“ warf Stephanus ein.
„Ach, was wissen die schon?“
„Wo habt ihr eigentlich das Papier her?“
„Huh? Oh, für die Zigarren. Kurze Geschichte des Kaiserreiches, Band zwei. Diese ungebildeten Lümmel hier…„ er klopfte Gramul mit einem schiefen Lächeln demonstrativ auf die Schulter, „Die wollten ein echtes Buch nehmen, „Cherim’s Herz“. Ich hab’s beschlagnahmt und werd’s in der nächsten Stadt verkaufen, wo hoffentlich jemand noch den Wert von Literatur zu würdigen weiß. Rund sechzig Septime wert, und diese Trottel wollten es verbrennen.“
„Was ich mich frage,“ sagte Gramul, wobei er die Balliste hin- und her schwenkte und somit das Thema von Büchern und Papier weglenkte, „was ich mich frage, wenn wir in 'nem so kleinen Pass sind, was kann man mit diesem Ding schon treffen?“
Stephanus, Olaf und Bodeado wandten sich ihm zu.
„Ich mein', guckt mal, alles is' zu nah dran, wenn man was treffen will...“
„Die brauchen ja nur die beiden Enden der Straße hier zu treffen,“ sagte Olaf.
„Sie erwischen die Ochsen oder die Pferde, die die Wagen ziehen, und dann gehört der ganze Scheiß ihnen, egal, ob die Besitzer abhauen.“
Eine Wolke schob sich vor die Sonne, nur einen kurzen Moment lang.
„Aber, aber,“ sagte Bodeado, „die Riekmannen, in ihrem Bestreben ihre Heimat zurückzuerobern, legen eher Wert darauf, Furcht zu verbreiten. Da wäre es doch viel besser für sie, eine ganze Handelskarawane zu meucheln und vielleicht einen Überlebenden zu lassen, der es weiter erzählt, oder? Was bringt es ihnen, wenn sie ein Pferd erschießen und sich dann der Rest verzieht?“
Stephanus blickte nach oben. Weit und breit war keine einzige Wolke zu sehen. Die angespannte Aura der Festung entfaltete wieder ihre volle Wirkung, wie ein Jäger, der kurz von seiner Beute abgelassen hatte, um sie in Sicherheit zu wiegen. Sein Puls fing an zu rasen und er griff nach seinem Bogen.
„Ganz einfach,“ sagte Olaf, „sie erledigen einfach den letzten Wagen und blockieren den Weg nach hinten. Da vorne, blockieren sie den Pass einfach selbst mit einem Baumstamm oder so, und die Karawane ist gestrandet.“
Gramul blickte nun ebenfalls nach oben. Offensichtlich hatte er das gleiche bemerkt, wie der Kaiserliche.
„Es gibt keine Drachen, es gibt keine Drachen. Es war einfach nur einer dieser verfluchten Vögel, der vor die Sonne geflogen ist.“
Doch es war kein einziger Vogel am Himmel. Stephanus, der sich selbst immer stolz als gebildeten Menschen gesehen hatte, kannte sich besser mit Federvieh aus, als die meisten seiner Kumpane. Die Söldner kannten eigentlich nur Raben, Krähen, Aasgeier und Drosseln – Erdrosseln, genauer genommen. Doch Stephanus konnte einige weitere benennen. Normalerweise kreisten immer mindestens ein oder zwei Adler oder Falken in der Luft über den Tälern und Klüften des Reach. Aber jetzt nicht. Jetzt ertönte, außer den Gesprächen der Söldnern und dem leisen Wehen des Windes, kein Laut mehr. Stephanus spürte, wie ihm wieder kalter Schweiß über die Stirn rann.
Sein Instinkt sagte ihm, dass er es sich nicht einfach nur eingebildet haben konnte, dafür war die Stille einfach zu unnatürlich. „Götter steht uns bei.“
Olaf und Bodeado verstummten nun ebenfalls und wandten den Blick unsicher nach oben, als die Sonne erneut verdunkelt wurde. Ein großer Schatten schob sich in absoluter Stille und für seine Größe unnatürlicher Geschwindigkeit über den Himmel und verschwand wieder hinter den Gipfeln.
Auf der ganzen Festung verfielen die Söldner nach kurzer Starre fluchend in Bewegung.
„Die Balliste, Bodeado!“ schrie Stephanus, als er einen Pfeil aus dem Köcher zog und auflegte.
„Was bei allen Göttern?“ rief der Rothwardone, als er das Kriegsgerät hastig nach oben auf die Stelle zielte, hinter der das fliegende Monstrum verschwunden war. Olaf griff bereits nach dem nächsten Bolzen, bereit, die Wurfmaschine nach dem Abfeuern sofort nachzuladen. Gramul zückte den Bogen, den er einem getöteten Abgeschworenen abgenommen hatte.
„Keine Sorge,“ rief der irre lachende Soldin vom anderen Ende der Befestigungsanlage, ebenfalls einen Bogen in der Hand, „es ist nur eine komisch geformte Wolke!“
Wieder herrschte Stille, doch diesmal war sie eine andere: Zuvor war sie nur das Fehlen der üblichen Umgebungsgeräusche gewesen, jetzt war sie die schon fast hörbare Stille, die entsteht, wenn eine große Zahl an Menschen verstummt und angespannt abwartet. Es war, als hielte Nirn den Atem an. Sie blickten jeder auf den Rand der Klüfte, keiner wollte es wagen, im falschen Moment zu blinken.
Stephanus fühlte sich, als würde sein Herz gleich versagen. In der Lautlosigkeit schlug es so laut, dass er dachte, die ganze Welt könnte es hören.
„Da kommt es wieder!“
Tatsächlich tauchte die Kreatur unweit der Felsen wieder auf, hinter denen Stephanus es zuletzt gesehen hatte, und bewegte sich im Sturzflug auf sie zu. Die grünen in der Sonne glänzenden Schuppen, die enormen Flügel und der mit Hörnern versehene Kopf vertrieben jeden Zweifel: Sie wurden von einem Drachen angegriffen. Drachen waren vielleicht nur ein Mythos, aber dieses Exemplar hatte offensichtlich das Memo nicht erhalten.
Die Balliste schoss mit einem lauten Knattern und verfehlte ihr Ziel.
„Treff richtig, du Scheißkerl, bevor ich dich erwürge!“
„Halt die Klappe, Olaf, und leg Bolzen nach!“
Der Rothwardone war bereits dabei, wild am Mechanismus der Kriegsmaschine zu kurbeln, um den Schieber wieder in Position zu bringen.
Mehrere Pfeile kamen dem fliegenden Monster entgegen, prallten jedoch nutzlos an den Schuppen ab, während es unbeeindruckt und unaufhaltsam näher kam, die kleinen, bösartigen Augen geradeaus auf die Festung gerichtet. Stephanus zog panisch Pfeil nach Pfeil aus dem Köcher, nur um zuzusehen, wie jeder Schuss an der Panzerung des Dings zerschellte.
Vereinzelte Söldner flüchteten bereits durch die Türen in das Innere des Gemäuers.
Direkt vor der Festung breitete es plötzlich die ledrigen Schwingen aus und blieb mitten in der Luft stehen, der irre Sturzflug mit Kollisionskurs schlagartig beendet. Die Flügel des Ungetümes klangen dabei wie die sich ausbreitenden Segel eines Schiffes.
Bevor Olaf und Bodeado die Balliste wieder schussbereit gemacht hatten, öffnete der Drache sein Maul und stieß eine stille Welle aus gekräuselter Luft aus, die immer größer wurde und sich auf sie zu bewegte.
Stephanus begriff, dass sie zwar langsam war, aber es durch ihre Breite allein unmöglich war, ihr auszuweichen. Bei dieser Erkenntnis versagte ihm der Mut. Dann brach der Zauber des Wesens über sie herein.
Der Kaiserliche merkte, wie seine Muskeln versagten, ermüdet erschlafften, und ihm der Bogen aus den Händen glitt. Seine Knie wurden weich, und es wurde ihm immer schwerer, aufrecht zu bleiben und nicht auf die Knie zu fallen. Sein Blick fiel nach unten, starr auf seine zitternden Beine und Füße gerichtet.
Eine Stimme dröhnte in seinem Kopf, und es kam ihm vor, als ob sie einfach dort auftauchte, ohne zuerst die Entfernung zwischen ihm und dem Redner zu überwinden: „Ich bin Nahlotahdinok, und ich bin euer Gott. Eure alten Götter sind tot. Unterwerft euch mir, oder ihr werdet ihnen in folgen.“
Es kostete dem Kaiserlichen seine ganze Kraft, nicht hier und jetzt umzufallen. Angestrengtes und schmerzhaftes Stöhnen zu seinen Seiten verrieten ihm, dass es seinen Gefährten nicht besser ging. Die Schmerzen in seinen Gliedern verhinderten es, dass er in eine Angststarre verfiel, in der er aufhörte, nachzudenken, doch wie lange würde er noch durchhalten?
Die Furcht war beinahe überwältigend, und er spürte, wie sie wie ein wild aufgewirbelter Nebel seinen Kopf füllte und seine Gedanken lahmlegte. Diese Kreatur hatte sie alle mit einer einzigen Welle aus Magie betäubt und Kampfunfähig gemacht, und sie hatten es nicht einmal geschafft, es auch nur ansatzweise zu verletzen. Was für eine Chance hatten sie denn, sich diesem vor Kraft strotzenden Wesen zu widersetzen? Es war zeitlos und den Göttern gleich, Stephanus dagegen war nichts weiter als Staub im Wind, verflogen, bevor Nirn auch nur einen Lidschlag getan hatte. Im Großen und Ganzen war er unwichtig, ein kurzsichtiges Rindvieh, zu nichts zu gebrauchen, außer vielleicht dazu, geschlachtet zu werden...
Neben ihm presste Olaf laut „Raus aus meinem Kopf!“ zwischen den Zähnen hervor, und in diesem Moment realisierte Stephanus, dass diese Gedanken nicht seine eigenen waren, und der Zauber verlor an Stärke. Er gewann unter Anstrengung die Kontrolle über seine schmerzenden Glieder wieder und richtete sich langsam wieder auf, laut nach Luft schnappend. Er fühlte sich, als hätte er tagelang Holzstämme über einen steilen Berg geschleppt.
Einer der anderen Söldner gewann genug Herrschaft über seinen Körper wieder, um einen Pfeil auf das Biest abzufeuern, und das Klacken des abprallenden Pfeils und das anschließende empörte Brüllen der Bestie ließen den Zauber völlig zerbrechen.
Die Kaufklingen regten sich wieder ruckartig und stoben panisch und heiser schreiend auseinander. Stephanus folgte ebenfalls dem nun übermächtigen Fluchtinstinkt und sprintete auf die Tür des Ostturms zu. Im Lauf hörte er hinter sich, wie am anderen Ende des Plateaus, beim Westturm, mehrere seiner Gefährten aufschrien. Was folgte, war das Geräusch von mehreren beschuppten Tonnen Gewicht, die auf Stein aufkamen, das Schnappen eines übermächtigen Kiefers und ein spitzer, plötzlich abgebrochener Schrei, untermalt von dem Knacken einer Stahlrüstung, die von mächtigen Zähnen durchtrennt wurde, wie ein trockenes Stück Pergament.
Kurz danach brandete eine Hitzewelle über seinen Rücken, doch er drehte sich nicht um. „Nicht anhalten, nicht anhalten.“ Kurz darauf erreichte er die Öffnung und hastete in die zweifelhafte Sicherheit des Ostturms.
Wälder östlich der Knochenspitze
Der Ork kniete über dem toten Hasen und begutachtete den Federschaft, der aus dessen Genick ragte. Er rieb sich mit der linken Hand über das Kinn, das sich durch die groben Bartstoppeln mehr wie die Metallraspel eines Schmiedes anfühlte, denn gerade gestern rasierter Haut. Ich muss den Dolch mal wieder schleifen... Seine Aufmerksamkeit wanderte wieder zu der Jagdbeute. Was er so besonders an dem Hasen oder vielmehr dem Geschoss fand war die merkwürdig bunte Befiederung. Er kannte die Einheitsfarben der meisten Jäger. Die imperialen Jäger hatten meist rot, da die Handvoll befugter Jäger aus Einsamkeit kamen. Jäger der Jarl befiederten in den Farben der Wappen des jeweiligen Jarltum. Hier aber war schwarz und ein hochgradig selstames Türkis kombiniert. Kein dem Druide bekannter Vogel besaß ein Federkleid mit so einer Farbe. Vielleicht sind sie auch gefärbt... Er wollte gerade nach dem Hasen greifen um sich den Schafft besser beäugen zu können.
'Griffel weg! Den habe ich erlegt!' Ertönte hinter ihm eine weibliche Stimme. Djure blickte sich über die Schulter. Hinter ihm stand eine Kaiserliche oder eine Bretonin, so genau konnte er das nicht sagen. Sie hielt einen Bogen gespannt vor sich und zielte auf ihn. Djure war in seiner hockenden Position bereits fast auf Augenhöhe mit der Frau. Er schnaufte hörbar und richtete sich dann auf. Er drehte sich zu ihr um und blickte auf sie herab. Der Frau fehlte locker eine halbe Armeslänge zu ihm. Sie musste den Kopf nach hinten biegen um ihm in die Augen blicken zu können. 'Wäred ihr wohl so freundliche, euren Bogen aus meinem Gesicht zu nehmen?' Fragte der Ork. Seine Stimme war die eines tiefen Basses, eines Basses, wie man ihn manchmal auf Paraden der Legion hören konnte. Seine Statur schien sie relativ wenig zu beeindrucken, sie hatte unbestreitbar schon einige Trolle gesehen. Sie machte auch nicht wirklich Anstalten den Bogen zu senken. 'Ihr dachtet ihr könntet mich beklauen?' Fragte die Frau. Immer wieder das selbe... seit dieses Arschloch in Windhelm der festen Überzeugung war einen unglaublich sinnfreien Krieg vom Zaun zu brechen hat jeder Trottel das Recht für sich gepachtet jeden anderen aus Misstrauen einfach angehen zu können...
Djure seufzte und neigte dann den Kopf etwas um in den Himmel über sich blicken zu können. 'Seht, ich wollte euch nicht beklauen, ich bin vermutlich ein besserer Jäger als ihr, ich habe mich lediglich über die mir unbekannten Federfarben gewundert.'
'Natürlich und als nächstes erzählt ihr mir, dass ihr kein Ork seid und eigentlich für die Legion kämpft und ...'
Weiter kam sie nicht. Der Ork nutzte ihre kurze Unkonzentriertheit aus indem er mit Wucht die freie linke Faust ausstreickte - zur Seite.
Sie krachte in den Stamm einer Tanne neben ihm. Der Stamm schwankte beeindruckend. Die Augen der Frau folgten dem wankenden Baum hinauf in die Spitze. Einen Herzschlag später wurde sie unter einer dicken Schicht Schnee begraben. Der Ork bekam natürlich auch etwas ab, aber ihm reichte die Schneeladung gerade einmal bis zur Hüfte und zudem war seine Statur viel zu massig als dass der Schnee ihn tatsächlich umreissen hätte können. Von der Frau waren jedoch nur noch zwei hilflos fuchtelnde Hände zu sehen. Eine seiner riesigen Hände fuhr zwischen den Händen durch den Schnee und ertastete ihr Gesicht. Mit einem Wisch legte er den Kopf der Frau zur Hälfte frei. Sofort begann sie zu brüllen und zu keifen. Und beinahe ebenso schnell verstummte sie wieder, als Djure ihr direkt wieder die Hälfte des Schnees, den er gerade erst vor ihrem Gesicht weggeräumt hatte, wieder auf selbiges drückte. Nur noch Augen und Nase waren frei. Mit der rechten Tatze fuhr Djure an der Seite ihres Kopfes durch den Schnee, drückte ihn zur Seite, sodass sie in dieser Richtung etwas Platz hatte, dann spreitzte er den kleinen Finger von der Hand ab, steckte ihn ins Ohr der Frau und drehte ihn einmal ruckartig in jede Richtung. Am Saum ihrer Kaputze, welche über ihrem Kopf ein wenig aus dem flockigen Weiß ragte, putzte er den Finger ab, dann kam er nahe an den Spalt neben ihrem Kopf. 'Wenn ich gleich den Schnee vor eurem Gesicht wieder entferne, tut mir den Gefallen und haltet die Schnauze, ihr werdet die Puste noch brauchen.' Er machte ihren Mund wieder frei und es wäre auch einfach zu schön gewesen, wenn sie getan hätte, was er gesagt hatte. Aber nein, sie brüllte direkt wieder los. Djure kniff entnervt die Augen zusammen. Ein weiterer Schlag gegen den Baum und es regnete einige Tannenzapfen. Er suchte sich einen schönen aus und drückte ihn der aus Leibeskräften kreischenden Frau zwischen die Kiefer. 'Shhh!' Machte er, dann grub er mit einigen Wischern seiner großen Hände das Kaninchen aus. 'Gut festhalten.' Sagte er übertrieben aufmunternd und drückte ihr das halb geforerene Tierchen in eine der hilflos geöffneten Hände. 'Wenn ihr euch dafür entschuldigen wollt, dass ihr diese ganze Sache hier unnötig provoziert habt, ihr findet mich heute und morgen in Kyneshain.' Dann wuchtete er seinen massigen Körper durch den Scheewall. Er drehte sich noch einmal um. 'Ich würde mich beeilen, es dämmert bereits, soll kalt werden nachts hier draußen...'
Djure ging davon aus, dass die Frau sterben würde. Sie hatte zwar die richtige Kleidung für die Jagd im Schnee gewählt, jedoch sah er nur geringe Chancen für sie, sich allein aus dem Schneeberg zu befreien. Er wusste selbst, wie schwer Schnee sein konnte lag man darunter begraben. Notwehr und so... Sie hatte ihn vermutlich für den üblichen Orkbarbaren gehalten. Naja geschuldet seinem Aussehen liefen diesem Irrtum doch immer wieder erstaunlich viele Fremde auf. Trotzdem, aus ihrer Sicht stammt sie aus einem zivilisierten Volk, hat sich aber aufgeführt wie ein Schläger aus der Gosse.
Es war bereits tiefschwarze Nacht, die Nordlichter tanzten in strahlendem Grün am Himmel als Djure in Kyneshain ankam. Er blieb noch einen Augenblick vor dem Gebäude stehen und betrachtete das Schauspiel am Himmel. Dann nahm er seine Kopfzier ab und hängte sie sich an einer daumendicken Kordel um die Schultern. Er war so bereits zu groß für die Türen, wenn er den Schädel trug war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er am Türsturz hängen blieb und das Ding im schlimmsten Fall zu Schaden kam. Das galt es zu vermeiden, das Ziegengebein hatte einen unmessbaren ideellen Wert. Er zog die Tür auf. Der Schankraum war nicht voll, aber gut besetzt. Als der Riese eintrat und die Tür hinter sich ins Schloß zog und die Kälte aussperrte, wandten sich ihm einige Köpfe zu, beäugten ihn einige Augenblicke und drehten sich dann wieder weg. Djure schaute durch den Raum und fand auch sogleich, was er suchte. An einem Tisch drängte sich eine größere Runde um zwei sich gegenüber sitzenden Männer und feuerte die beiden Gestalten an. Die beiden Sitzenden hatten die Gesichter zu grimmigen Fratzen verzogen, während sie sich im Armdrücken maßen. Sehr gut... ich kann den Geldbeutel bereits klimpern hören... Djure hielt zwar nicht sehr viel von weltlichem Besitz, aber er war nunmal kein Hexenrabe, der von rohem Fleisch, Luft und Hass leben konnte. Manche seiner Vorräte konnte er nunmal nicht in den Wäldern eben so auffüllen wie manch andere. Und Met gabs auch nicht in Flüssen.
Er gesellte sich zu der Truppe. Ein Arm wurde umgeknickt und donnerte auf die Tischplatte. Jene, die auf den richtigen gesetzt hatten jubelte, einige andere begannen ärgerlich auf ihren Einsatz zu schimpfen, während der Geschlagene den Stuhl räumte. Schon wollte sich ein nächster Herausforderer setzen, ein brauchbar trainierter Nord, der dem Ork wenigstens bis ans Kinn reichte, doch Djure legte dem Nord eine seiner mächtigen Hände auf die Schulter und hielt ihn leicht zurück. Der Nord blickte sich um und wollte schon etwas sagen, machte aber angesichts der Erscheinung Platz. Djure blickte einem sehr drahtigen Rothwardonen in die braunen Augen. Hmm... kommt nicht so oft vor, ich bin gespannt. Männer die direkt hinter Djure standen mussten sich auf die Zehenspitzen stellen um über seinen Schultern sehen zu können. Ein Bosmer am Kopfende des Tisches war noch geschäftig dabei die Wetten anzunehmen. Trotz der physischen Überlegenheit Djures setzten doch noch einige nicht gerade kleine Beträge auf den Rothwardonen. Er musste wohl schon einen recht erfolgreichen Abend bestritten haben bisher. Dann beschied der Bosmer den beiden die Fäuste ineinader zu verschränken. Der Elf wartete noch kurz, dann gab er das Zeichen zum Anfangen. Sofort spannten sich die Muskeln des Rothwardonen an. Djure drückte zunächst lediglich dagegen. Er musste anerkennen, dass der Kerl eine sicherlich mit viel Disziplin trainierte Muskulatur besaß. Die Lefzen im Gesicht des Ork hoben sich, als er langsam begann dagegen zu drücken. Die ganze Sache war an sich schon lächerlich unfair. Djures Unterarm war bereits eine ganze Spur länger als der Des Menschen, der Hebel mit dem der braune Kerl agieren konnte war einfach nicht groß genug um dies hier gewinnen zu können. Aber er hielt trotzdem dagegen. In Djures Rücken krachte die Eingangstür ins Schloss, aber er kümmerte sich nicht weiter darum, obwohl ein Teil der Zuschauer verstummt war und sich umblickte. Der Arm des Menschen aus Hammerfell krachte auf die Tischplatte, doch der Jubel blieb aus. Jetzt fühlte sich Djure doch gewzungen, sich zur Tür umzudrehen um zu sehen, wer dort so spannendes eingetreten war.
Eine Frau, gehüllt in einen triefenden Umhang einer Farbe, die Djure sehr sehr bekannt vorkam. Die Frau hatte die Kapuze zurückgeschlagen und ihr schweißnasses Gesicht glänzte im Schein der Kaminfeuer. Djure musste anerkennen, dass das von goldenem Haar eingerahmte Gesicht recht hübsch anzusehen war. Eine nur ganz dezent nach oben gebogene Stupsnase, deren flacher Rücken zwischen zwei offenen Augen gebettet in eine runde Stirn mündete. Die an sich fröhlichen Augen - wäre da nicht die tiefe Zornfalte in der Stirn gewesen - wurden durch die im gesichtsmittigen relativ dicken Ansatz nach einer Fingerbreite bereits zu einer sehr dünnen Linie auslaufenden Augenbrauen betont. Die Bäckchen unter den Augen waren gewölbt und jetzt stark gerötet. Die Lippen wirkten im ersten Augenblick gedrungen und von links und rechts her gestaucht. Aber auf den zweiten Blick war es lediglich ein kleiner, Mund mit ästhetisch zum eher runden Gesicht passenden, vollen Lippen in einer Form, die gern lächelte. Wenn der Bogen nicht die Hälfte des Gesichtes verdeckt - oder eben Schnee - sieht sie doch schon sehr hübsch aus...
'Der da!' Sie zeigte keuchend auf ihn. 'Ist ein Spion der Legion!' Wirklich? Muss das jetzt sein? Die meisten im Raum blickten sie eher stutzig an anstatt wie sie sich vermutlich erhofft hatte mit Waffen auf ihn loszugehen.
'Schaut ihn euch doch an, wie plump er versucht die Uniform der Sturmmändel mit diesem Ziegenfilz zu kopieren!'
Das ist jetzt eine persönliche Beleidigung. Djure stand auf, wobei der Stuhl knackte und Knarzte fast so, als wäre er erleichtert endich das Gewicht loszusein. 'Was fällt dir eigentlich ein Weib?!' Er packte seinen Stab mittig, vollzog eine Drehung über die drei Meter Entfernung zu ihr durch den Raum und mit dem Schwung der Drehung schoß ein Ende des Stabes ihr entgegen und traf sie auf Brustbeinhöhe. Pfeifend wich ihr die Luft aus den Lungen und sie klappte zusammen. Sie japste nach Luft. Djure zog sie an ihrem Mantel hoch. Er hatte den Schlag sehr genau bemessen, sie würde keine Schäden davon tragen, aber er würde sie nun davontragen und einmal eingehend mit ihr darüber verhandeln, dass sie ihrer gesundheitlichen Unversehrtheit einen großen Gefallen täte, würde sie ihn nicht noch einmal derart provozieren.
'Halt!'
Djure drehte sich zu der Stimme um. Ein Soldat der Sturmmäntel stand hinter ihm. Überraschend entspannt, lediglich eine Hand ruhte auf dem Schwertgriff. Hinter dem Soldat versetzt stand ein Kundschafter, ebenfalls in der typisch blauen Uniform. 'Ja?' Machte Djure.
'Dürften wir euch einmal durchsuchen? Nur Routine versteht sich.'
'Nein?'
'Seht guter Mann, wir wollen keinen Ärger hier - und keine Spione der Legion. Wenn ihr kooperiert würdet ihr damit beweisen, dass ihr nicht zum Imperium gehört.'
'Welchen Teil von nein habt ihr nicht verstanden?'
'Herr, wir sind vom rechtmäßigen Großkönig in Windhelm dazu befugt Waffengewalt anzuwenden, wenn es sein muss...'
'Und ich bin befugt mir mit eurem Haupthaar den Arsch nach dem nächsten Haufen abzuwischen, wenn ihr nicht sofort umdreht und mich in Frieden lasst!'
Der Nord schien kurz verblüfft, blickte aber dann grimmit in die Augen des Ork: 'Hiermit seid ihr vestegnommen wegen des dringenden Verdachtes...'
Djure reagierte bevor der Soldat geendet hatte: Die Hand, welche die Frau am Kragen hielt warf diese über einen Dachbalken über dem Ork, wo sie zappelnd hängen blieb, während die andere Hand ausholte und den Stab vorschnellen ließ. Während der Stab durch die Luft schnitt, lockerte Djure seinen Griff, sodass er die Waffe nun an einem Ende Packte, während das andere Ende nun mehr Schwung generierte und krachend an der Schläfe des Soldaten landete. Der Mann kippte sofort bewusstlos um. Der wird die nächste Zeit nicht aufstehen... Kreischend stürmte der Kundschafter mit einem Dolche in der Hand an. Djure schlug die heranfahrende Klinge einfach zur Seite. Sein Knie fuhr nach oben und dem noch nach vorn stolpernden Jüngling in den Unterleib. Was ein Schmerzensschrei hätte sein können gipfelte lediglich in einem aufgerissenen Mund und damit, dass der Mann einen Meter zurück segelte und japsend auf dem Boden liegen blieb.
'Hol mich endlich runter du Sohn eines Horkers!'
Djure drehte sich um und grinste dreckig. 'Achso ja wegen den Stoßzähnen in den Mundwinkeln? Ja, der ist gut, den hab ich auch nicht schon mindestens ein oder zweimal vorher gehört...' Dann drehte er sich wieder zum Schankraum um. 'Noch jemand, der meint ich gehöre zur Legion?' Niemand regte sich. 'Sehr gut, ich bekomme hier noch Wettgeld.' Er klopfte auffordernd auf den Tisch, an dem er eben noch saß und den Rothwardonen besiegt hatte. Zitternd schob der Bosmer ihm ein Beutelchen mit Septimen hin. Der Ork schüttelte den Kopf. 'Ich will nicht alle Einsätze, ich will nur meinen Teil von gerade eben.' Er konnte ungefähr abschätzen, wie viel er gewonnen hatte, es würde wieder eine Weile genügen schätzte er. Er blickte zur Wirtin hinüber: 'Einmal eine Runde Honigbräumet für das Loch hier.' Zustimmender Jubel und vereinzeltes Klatschen wallte in dem Raum auf. 'Und einen Schlauch Gewürzwein für mich.' Sagte der Ork, nachdem er den Gewinn von dem Waldelf entgegengenommen hatte und zur Bar gegangen war. Er ignorierte die Frau auf dem Balken, wie sie wild zappelte und keifte. 'Holt ihr sie da noch runter?' Fragte die Wirtin. 'Wieso, wollt ihr sie behalten?'
'Nein, eben nicht, derart schrille und hysterische Gäste kann ich nicht gebrauchen.'
'Keine Sorge, ich nehm sie mit.'
Die Wirtin schob ihm den Schlauch Gewürzwein über die Bar. Djure griff danach, hängte ihn sich um und ging durch den Raum. Mit einem Ruck hatte er die Frau von dem Balken heruntergezogen. Sie war erstaunlich leicht, wie er jetzt feststellte. Er umgriff beide Handgelenke und hielt sie vor sich hoch, sodass ihre Füße nicht den Boden berührten. 'Folgt ihr mir unauffällig oder nicht?' Ihre Antwort war ein schwacher Tritt gegen ihn. 'Ich werte das als nein.' Ein Ruck ging durch den Körper der Frau als er sie über seine Schulter warf. Gezielt legte er die freie Pranke auf ihr Geßäs. Hm... nicht von schlechten Eltern... Er trat nach draußer und stieß die Tür ins Schloß. Er ging ein paar Schritte vom Eingang weg und warf die Frau dann mit einer flüssigen Bewegung in eine Pulverscheewehe an der Wand des Gebäudes. Er ging vor ihr in die Hocke. 'Wollt ihr mir jetzt verraten, was euch dazu bewegt mir derartig den Abend zu vermiesen?' Er sprach normal und ruhig. Sie kniff die niedlichen Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Djure seufzte. 'Wie heißt ihr?' Sie verschränkte die Arme vor der Brust und drehte bockig den Kopf zur Seite. 'Woher kommst...' Ihm fiel ein Fetzen Papier auf, der keinen Meter über dem Kopf des Menschen an die Holzwand der Herberge getackert war. Der Profilriss des Kopfes kam Djure aber sowas von bekannt vor. Er senkte nochmal den Blick und glich nochmal mit der zur Seite starrende Frau ab. Völlig verblüfft streckte er einen Arm nach oben und riss einen dicken Büschel Stroh aus dem Dach. Ein Schwall Schnee löste sich und fiel nach unten. 'HEY!' schreckte die Frau prustend auf. 'Sitzen bleiben!' Djure drückte sie zurück in ihren frostigen Sessel. Er schnippte dem Stroh entgegen und mit der improvisierten Fackel beleuchtete er den Steckbrief. 'Gesucht, möglichst lebendig: Julienn Moryn. Kaiservolk, etwa...'
'Stop!' Rief die Frau und wollte erschrocken aufspringen und nach dem Steckbrief grabschen.
'Sitzen bleiben sagte ich!' Djure drückte sie wieder zurück. Er las weiter: 'Etwa 24 Jahre alt, nackenlanges, krauses goldblondes Haar. Angeklagt des Raubes aus den Schatzkammen Mortal und Weißlauf. Des weiteren verantwortlich für mehrere Überfälle entlang der Hauptstraßen zwischen Weißlauf und Einsamkeit.' Er blickte auf das zierliche Geschüpf vor sich. Das muss entweder unglaublicher Zufall sein oder schlicht eine Verwechslung... 'Abgabe der Gefangenen gegen ein Kopfgeld von 500 Septimen, wenn tot 200 Septime, in der Kaserne von Einsamkeit. Er steckte die Strohfackel mit der Flamme voraus in den Schnee. 'Julienn...?'
'Ja?' Fragte sie aufblickend, realisierte aber im selben Moment, dass das ihre letzte Chance zum Schwindeln gewesen war. 'Scheiße!' Flüsterte sie. 'Ich... heiße nicht so!' Sagte sie bestimmt. Djure grinste breit. 500 Septime, damit könnte ich mir ein halbes Jahr den Gang zu Tavernen und das Handeln mit Fellen einfach sparen, heute muss mein Glückstag sein. 'Na dann hast du doch sicher nichts gegen einen Ausflug nach Einsamkeit, Julienn. Soll eine beeindruckende Stadt sein hab ich mir sagen lassen...' Der Ork glaubte selbst noch nicht ganz, dass dieses niedliche, nicht unbedingt sehr helle Ding in zwei Schatzkammern von Jarls eingebrochen war. Aber die Ähnlichkeit war groß genug, vielleicht würde er das Kopfgeld trotzdem einstreichen können. Er warf sich die zappelnde Kaiserliche wieder über die Schulter. 'Macht es euch bequem, wir haben einen längeren Weg vor uns.' Er überlegte noch kurz, ob er nicht erst lagern sollte um sie trocken zu bekommen. Achwas, auf dem Steckbrief stand lebend, nicht gesund. Er setzte sich seinen Schädelknochenhelm auf, riss den Steckbrief von der Wand und stopfte ihn sich in den Gürtel, dann stapfte er los der Straße nach Norden folgend.
Himmelsrand, Fürstentum Reach, Broken Tower Redoubt
“Wir sind so erledigt...”, stammelte Olaf, wobei er in dem Raum am tiefsten Punkt der Wendeltreppe, in den sie geflüchtet waren, auf- und ablief und nervös an seinem Daumennagel kaute. Hier unten war es viel kälter als draußen, und nur der Schein der angebrachten Fackeln erleuchtete das Gemäuer.
„Nägelkauen ist schlecht für dich, Olaf,“ sagte Bodeado, während Stephanus eine kurze Zählung machte, und dabei versuchte, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu bekommen.
„Ach, halt doch dein Maul! Uns sitzt 'n Drache auf'm Dach, und du laberst immer noch deine scheiß Waschweiberweisheiten vor dich her!“ fuhr der kurz vor der Panik stehende Nord den Ex-Piraten mit schriller Stimme an.
Neben der gescheiterten Ballistenmannschaft hatte es Meum-Te noch vor ihnen in den Turm geschafft, und Bärenpelz war ihnen verwirrt und mit gezogener Axt entgegengeeilt. Insgesamt waren sie also zu sechst.
„Wir haben wirklich Glück gehabt,“ dachte Stephanus bei sich selbst. „Hätte dieses Monstrum unsere Seite der Mauer zum Grillen ausgesucht, wären wir jetzt tot.“
„Ich sag, wir gehen raus und bringen das Vieh einfach um, zack, Axt zwischen die Augen, so schwer kann das doch nicht sein!“, gab Bärenpelz seine Meinung kund, wobei er von der Kiste aufsprang, auf der er gesessen hatte. Er hatte den Terror des Drachen nicht mit eigenen Augen gesehen, und die Illusionsmagie, die die fliegende Echse auf sie gefeuert hatte – wenn es denn Illusionsmagie war – war wohl nicht sehr tief in das Gemäuer eingedrungen.
Die umstehenden Söldner sahen den massigen Nord an, als sei er Wahnsinnig.
„Nein,“ sagte Stephanus nach einer verdutzten Pause, „das Ding hat mit einem Schlag rund ein Drittel von uns erledigt, Bärenpelz.“
„Und ich hab meine Pfeife verloren,“ warf Bodeado traurig ein.
„Wenn wir uns nicht etwas einfallen lassen, können wir uns gleich selbst anzünden,“ schloss Stephanus seinen Satz ab.
Der massige Nord seufzte und setzte sich wieder auf die unter seiner Last stöhnende Holzkiste, und schien dabei fast enttäuscht, sich nicht in das Maul der Bestie, und damit in den sicheren Tod, stürzen zu dürfen.
„Können wir nicht einfach warten, bis das verdammte Mistvieh wieder abhaut? S'war davor doch auch nich' da. Fliegt also manchmal weg,“ schlug Gramul vor. Der Ork hatte sich mit gekreuzten Armen gegen eine Mauer gelehnt, und warf hin und wieder einen Blick nach oben an die Decke. Nach ihrer Flucht ins innere der alten Festung hatten sie kaum noch Geräusche von draußen vernommen.
Die Söldner grübelten jeder für sich, mit der Ausnahme von Olaf, welcher immer noch halb panisch den Raum durchmaß.
„Hörst du wohl auf damit, du machst mich noch ganz kirre!“ schrie Bärenpelz den anderen Nord schließlich an. Dieser schreckte auf und schenkte ihm als Antwort einen bösen Blick, blieb jedoch wie angewiesen stehen und lehnte sich, wie Gramul, ebenfalls an die Wand, den Blick nach unten auf seine Stiefel Gerichtet.
Die Söldner dachten nun weiter nach: Bodeado kaute auf seiner Unterlippe, Gramul gro-Ogdum sah die anderen erwartungsvoll an, Meum-Te rieb sich nachdenklich das Kinn, Olaf nagte weiter an seinem dreckigen Daumennagel, Stephanus fuhr sich durch den Bart, und Bärenpelz kratzte sich am Hintern.
„Nein,“ sagte der Kaiserliche schließlich, denn ihm war ein grausiger Gedanke gekommen. Er nahm die Hand aus dem Bart und blickte die anderen an. „Wir können nicht warten. Die Kompanie denkt, die Festung ist unter unserer Kontrolle, und nachdem gepackt ist, kommen sie alle durch den Pass. Der Drache fliegt einmal drüber, und bringt alle um, bevor jemand überhaupt weiß, was vorgeht. Und dann ist es aus.“ Das schien nicht jeden zu überzeugen. Er konnte an ihren Gesichtern ablesen, dass einige von ihnen abwägten, wie viel ihnen ihr Sold in dieser Situation eigentlich wert war.
„Außerdem...“, fügte er hinzu. Bilder der Küche gingen ihm durch den Kopf, und Menschen, die sich verhielten, als seien sie schon längst tot gewesen, nur noch leere Hüllen, Schatten ihrer Selbst. „Außerdem haben die Abgeschworenen auch gewartet. Und wir wissen, was aus ihnen geworden ist.“
Die anderen nickten langsam, wobei Olaf gut anzusehen war, dass er sich ebenfalls noch an die Küche erinnerte.
„Rognag ist so ein verdammter Glückspilz,“ murmelte sich Bodeado selbst zu. „Bricht sich ein Bein und darf sich im Lager ausruhen, während wir es mit Gestalten aus alten Legenden zu tun haben...“
„Wisst ihr, wir sollten einfach aufgeben, und uns Gottes Gnade unterwerfen.“ Dieser Satz kam von Meum-Te, der die anderen nun mit einem sehr verwirrten Gesichtsausdruck betrachtete. Offensichtlich waren dies nicht seine eigenen Worte gewesen, die aus seinem Mund kamen, und der Argonier fluchte in seiner Muttersprache und hob verzweifelt die Hände an den Kopf.
„Xuth! Hist zu leise im verfluchten Norden!“
Bodeado, der neben der Echse stand, sah diese misstrauisch an und legte eine Hand auf den Griff seines Schwertes, während sich die anderen Söldner besorgte blickte zuwarfen.
Abgesehen von der Sache mit den Hist konnte Stephanus die Niedergeschlagenheit des Argoniers nur zu gut verstehen. Es war ein grauenhaftes Gefühl gewesen, so kurz es auch war, nicht mehr der Herr seines eigenen Körpers gewesen zu sein, nicht mehr der Herr seiner eigenen Gedanken. Absolut schutzlos und unfähig, sich zu wehren, dem verfluchten Nebel in seinem Kopf ausgeliefert, der den Kern seines Seins angriff und zerfraß, seine Psyche, seine Erinnerungen, dass, was ihn zum Menschen machte, und ohne das er nichts weiter war, als eine leere Hülle, die vor sich hin vegetierte. Selbst jetzt noch konnte er ein stilles Echo der befehlsgewohnten Stimme hören, wegen der sich seine Nackenhaare aufrichteten. Aber wenn man der Stimme des Drachen zu lange lauschte, wurden die selbstabwertenden Gedanken, die sie einem in den Kopf legte, zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Stephanus riss sich mit einem Kopfschütteln von seinen Gedanken los und sagte: „Lasst uns erst einmal mit den anderen neu Gruppieren. Hrard sollte noch in der Eingangshalle gewesen sein, als das Vieh aufgetaucht ist. Er hat bestimmt schon eine Idee, wie wir hier lebend rauskommen.“ sagte Stephanus, und hoffte gegen sein besseres Wissen, dass er recht hatte.
Das Portal zum Westturm stand einen Spalt weit offen, und Soldin Stahlzapfen lugte vorsichtig hinaus. Unweit von der Stelle, die der Drache mit Feuer bespuckt hatte, und wo der Stein fast angefangen hatte, zu schmelzen, lag Brarek Jungeiche, in einer immer größer werdenden Lache seines Blutes, und des Blutes der verstreuten Körper um ihn herum.
Dem Mann fehlte der untere Teil des rechten Arms, und eins seiner Beine stand in einem sehr ungesund aussehenden Winkel von seinem Körper ab. Mehrere klaffende Wunden in seinem Torso markierten die Stellen, an denen die Zähne des Ungetümes ihn durchstochen hatten, jedoch nicht sehr tief, wie Soldin bemerkte. Auch war er kaum verbrannt.
Entgegen aller Erwartung schien Brarek noch zu leben. Er stöhnte, zuckte und röchelte, den Kopf mit den blutverschmierten und damit unbrauchbaren Augen starr in den Himmel gerichtet.
„Nordische Zähigkeit“, dachte Soldin selbstgefällig.
Vom Drachen war weit und breit keine Spur zu sehen, wenn man von der Spur der Verwüstung mal absah. Und wenn man nicht genau darauf achtete, bemerkte man die Paar Steinchen nicht, die auf der Außenseite über der Tür herabrieselten...
Soldin schloss die schwere Tür wieder und blickte die Innenseite der Wand hoch, dorthin, wo er den Drachen in Lauerposition vermutete. „Cleveres Mädchen...“
Das Monster war also in der Lage, Köder auszulegen und Fallen zu stellen. Sie hatten es also eindeutig mit mehr als nur einer animalischen Intelligenz zu tun.
Selbstzufrieden machte er kehrt und stieg die Wendeltreppe wieder herab, während Brarek draußen sein Leben ausröchelte.
Er hatte es doch gewusst. Die Drachen waren zurückgekehrt, wie es in den alten Legenden vorausgesagt wurde. Und mit ihnen, das Drachenblut. Und wer sonst könnte das Drachenblut sein, als ein Prachtexemplar von einem Nord wie er selbst? Wie dem auch sei, wenn sie das Vieh erledigen könnten, nun, das würde ihm auf jeden Fall einen Ehrenplatz in Sovngarde garantieren, ganz nah dran am Kamin, den Metfässern und den knapp bekleideten Walküren.
„Jetzt seit leise und lasst mich nachdenken,“ befahl Hrard.
„Was gibt‘s da groß nachzudenken? Wir sind gearscht, im Großen und Ganzen, mehr gibt’s darüber nicht zu sagen!“ beschwerte sich Sylaen.
„Wenn du das so siehst, dann steht dir frei, durch die Eingangstür zu gehen und dich fressen zu lassen.“
Was folgte, war eine angespannte Pause, während der Hrard Sylaen kalt ansah, sie ihn böse anfunkelte, und die restlichen, nun verstummten Söldner zwischen den beiden hin und her schauten. Schließlich seufzte die Elfe und ließ besiegt die Schultern hängen.
Stephanus versuchte wieder seine zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen, und erneut vergeblich. Es passierte ihm hin und wieder, während Pausen nach Momenten, in denen er sich vollkommen klar werden konnte, dass sein vorheriges Überleben nur vom Zufall abhing. Ein massiver Bolzen einer Balliste, oder der Felsen eines Katapults, der seine Nebenmänner in der Formation zerfetzte; ein Regen aus Pfeilen, der genau zu seinen Füßen niederregnete oder die Reihen hinter ihm traf; ein mit Magie geformter Eiszapfen, der genau dann seinen anfänglichen Anstoß verlor, nachdem er mehrere von Stephanus' Mitstreitern vor ihm durchlöchert hatte. In diesem Falle war der Auslöser die Wahl des Drachen gewesen, welche Seite der oberen Befestigungsanlage er verbrennen wollte.
Der Kaiserliche atmete mehrmals tief ein und aus, aber es half nichts. Wieder einmal würden sich seine Hände nur mit der Zeit beruhigen können.
Er blickte auf und schaute sich in dem Hinterzimmer der Eingangshalle um. Von den neunundzwanzig Söldnern waren ohne ihn nur noch dreizehn geblieben. Fünf Männer Verwundete und Eskorte, der Rest war entweder beim Angriff des Drachen gestorben, oder versteckte sich irgendwo anders in der Festung. Stephanus schätzte, dass sie selbst mit voller Truppenstärke dem Drachen in ihrer Situation wohl nichts entgegenzusetzen hatten. Die Wenigsten hatten Bögen oder Armbrüste – Stephanus ärgerte sich über sich selbst, hatte er doch selbst seinen Bogen bei der Flucht vor dem fliegenden Monster verloren.
„Was ist mit den Gefangenen? Wir könnten die beiden als Ablenkung benutzen und uns davon machen,“ schlug Harun in der nachdenklichen Stille vor.
„Nein,“ erwiderte Hrard sofort. „Können kaum noch stehen. Und das Mistvieh ist zu schnell. Sie wären in einem Augenblick erledigt, und dann wären wir an der Reihe.“
„Wie wäre es stattdessen mit Spurius? Er kann noch laufen, und für was anderes als Drachenköder spielen ist er nicht zu gebrauchen,“ sagte Berend mit einem bösen Grinsen.
„Ach, halt doch deine dumme Schnauze, du Sohn einer räudigen, rotäugigen Gossenhündin!“ rief Cocius Spurius mit einer Hand auf dem Schwert dem immer noch grinsenden Dunmer entgegen. Das Gesicht des jungen Kaiserlichen war an den Stellen, an denen er von Folms Berends Fäusten getroffen worden war, noch stark angeschwollen, was jedoch nicht seinen wütenden Gesichtsausdruck überdeckte. Eins musste Stephanus dem mutmaßlichen Vergewaltiger lassen: Er ließ sich nicht einfach so unterkriegen. Vielleicht war er auch so seiner Exekution entkommen.
„Ihr haltet beide die Schnauze,“ fuhr Hrard sie gebieterisch an und hämmerte seine Hände demonstrativ auf den Holztisch vor ihm. „Wir brauchen keine Ablenkungen für den Drachen. Nicht als unseren Hauptplan. Wie ihr sicher wisst, packt die Kompanie gerade ein und bereitet sich darauf vor, hier an der Festung vorbei zu ziehen. Und sie wissen nichts vom Drachen. Es wird ein Blutbad, und unser Sold und unsere Vorräte sind dann dahin, und wir stecken hier fest, um langsam zu verrecken.“
„Wer sagt denn, dass das verdammte Ding noch da ist?“ fragte Fleisch in die Runde. „Wir haben seit einer halben Stunde nichts mehr von dem Scheißteil gehört.“
„Oh, es ist noch da!“ dröhnte Soldin Stahlzapfen, der gerade durch die Tür gestapft kam, mit vor stolz herausgestreckter Brust, rußgeschwärztem Gesicht und selbstzufriedener Miene.
„Vierzehn“ verbesserte Stephanus die interne Zählung seiner Mitstreiter. Es hätte ihn eigentlich nicht überraschen sollen, dass Soldin in typischer Nord-Manier darüber erfreut war, einem übermächtigen Gegner entgegen zu stehen.
„Wo?“ fragte Hrard sofort.
„Oben. Es liegt auf der Lauer und wartet auf uns,“ verriet der andere Nord in einem verschwörerischen Tonfall.
Hrard nickte nur, während sich Stahlzapfen sich zur Runde der verbliebenen Söldner hinzugesellte.
Es folgte abermals eine grübelnde Stille, in der jeder darüber nachdachte, wie sie alle – aber vor allem er oder sie selbst - der Situation lebend entkommen konnten.
Schließlich blickte Harun vom Boden auf und wand seinen Kopf mit einem Fingerschnippen ihrem Anführer zu. „Rauchzeichen. Die Rauchsignale, die die Abgeschworenen benutzt haben, können wir die nicht als künstliche Nebelwand benutzen, und uns in ihrem Schutz davon stehlen? Und dabei noch irgendwie die Kompanie warnen?“
Alle Blicke im Raum wanden sich nun Hrard zu, der sich das Kinn rieb und offensichtlich überlegte. „Nein,“ sagte der Nord schließlich. „Ihr Leute habt mir berichtet, wie es geflogen ist. Die Flügel sind offenbar sehr stark. Es könnte den Rauch einfach wegdrücken. Und die Dorfbewohner konnten die Rauchzeichen nicht sehen, alles stammt aus Berichten von Reisenden.
Außerdem ist es nicht damit getan, aus der Festung zu entkommen,“ fuhr Hrard fort, „die Leichen, die wir hier gefunden haben, waren alt, und in der Zeit schien das Vieh Karthwasten nicht angegriffen zu haben. Aber wer sagt, dass das sich nicht ändern kann? Wenn es uns in diese Richtung fliehen sieht, geben wir der Bestie vielleicht einen Grund, es doch zu tun. Aber das gibt mir eine Idee...“ Der Anführer der Söldner wand sich plötzlich Stephanus zu. „Levinius! Die Balliste, ist sie noch intakt?“
„Ja“, antwortete der Kaiserliche verdutzt, etwas überrascht davon, plötzlich Hrards Aufmerksamkeit auf sich ruhen zu haben. „Wieso?“
„Wir müssen den Drachen verjagen. Ihm wehtun, damit er sich zurückzieht. Eine andere Option sehe ich gerade nicht.“
Stephanus nickte kurz, und drehte sich zu Bodeado, Gramul gro-Ogdum und Olaf um. „Habt ihr die Balliste noch geladen, bevor wir uns zurückziehen mussten?“
„Ja,“ sagte Olaf.
„Nein,“ sagte Bodeado.
Die beiden sahen sich kurz an, und dann sprach der Rothwardone zum Kaiserlichen: „Es war ein hektischer Moment. Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass wir den ersten Schuss verfehlt haben, und wir mussten vor dem zweiten den Rückzug antreten.“
„Du meinst wohl DU hast den Schuss verfehlt,“ berichtigte Olaf ihn, was ihm einen kleinen Stoß in die Rippen einbrachte.
„Hmpf,“ sagte Hrard. „Die Rauchzeichen, Levinius?“
„Oben in den Türmen,“ antwortete Stephanus.
„Und der Drache?“ fragte der Anführer nun Soldin, der mit verschränkten Armen in die Runde blickte.
„Die Bestie hat sich am Westturm festgekrallt, ich glaub mal mit dem Kopf zum obersten Plateau hin, wo es mich fast gegrillt hat.“
„Hm. Nun gut.“ Hrard kratzte sich erneut am Kinn, wobei er nachdenklich auf den Tisch hinab sah, und dann blickte er auf und sprach weiter: „Männer, es sieht so aus: Wir werden die Aufmerksamkeit dieses Mistviehs weg vom Ostturm halten, wo die Balliste steht. Ein Teil von uns wird's am Westturm ablenken, und mithilfe der Rauchgräser hüllen wir die Brustwehr in Nebel. Genug, um dem anderen Teil die Chance zu geben, unbemerkt an die Balliste zu kommen, zu zielen, und diese fliegende Perversion einer Echse aus dem Himmel zu schießen, oder am Boden zu treffen, oder wo auch immer es sich aufhalten mag. Das Ding zu töten wäre optimal, doch es zu verjagen reicht auch schon.“
„Farbiger Qualm, und dann durch den Rauch mit einer Balliste auf ein fliegendes, bewegliches Ziel schießen? Hrard, das ist absolut zurückgeblieben!“ beschwerte sich Berend.
„Wär dir lieber, sie würden im Offenen rumlaufen? Ohne Deckung, völlig sichtbar für dieses Scheißding? Der Rauch wird sich schon verziehen, es reicht, wenn er sie versteckt hält, solang' sie an die Balliste geh'n.“
Der Dunmer zuckte als Antwort die Achseln, und Hrard wand sich von ihm ab.
„Nun denn. Spurius?“
Der junge Kaiserliche drehte sich seinem Anführer zu. „Was?“
„Du, Sylaen und Mafalda-“
„Mafalda ist tot.“
„Du, Sylaen und Bärenpelz spielen Ablenkung am Eingang zum niederen Plateau.“
„Moment, was? Im Freien?“
„Ja.“
„Du bist doch wahnsinnig!“
Die beiden anderen Erwähnten taten ebenfalls ihr Missfallen kund, doch verstummten wieder, als Hrard als Ruhezeichen seine Hand hob.
„Das ist doch Selbstmord! Du willst uns einfach nur loswerden!“ rief Cocius wütend. Er machte Anstalten, weiter zu schreien, schloss aber seinen Mund in dem Moment, in dem Berend einen bedrohlichen Schritt auf ihn zu machte.
„Es wird nicht lange dauern,“ sagte Hrard.
„Weil wir dann tot sind,“ antwortete Sylaen.
„Nein. Ihr lenkt nur solange ab, bis die andere Gruppe auf der Westseite die Rauchzeichen angezündet und vom Turm geworfen hat. Danach lenken die ab. Das sind Berend, Meum-Te, Fleisch und Bodeado. Levinius und Olaf gehen an die Balliste. Der Rest ist Reserve und Signalläufer. Alle verstanden?“
Es gab vereinzeltes Nicken, aber auch vereinzeltes Murren. Nicht jeder war mit dem Plan einverstanden, und auch Stephanus hatte seine Zweifel. War der Rauch überhaupt nötig, nachdem der Drache dank Ablenkung der Ostseite der Festung den Rücken zugedreht hat? Brauchten sie wirklich diese Stufen-geschaltete Ablenkmanöver? Und was würde passieren, wenn der Plan fehlschlug?
Stephanus wusste, dass weder Hrard, noch er, noch irgendwer sonst unter ihnen viel Erfahrung mit fliegenden Widersachern hatte. Das einzige, was ihm gerade einfiel, waren Magier mit Levitationszaubern, doch die waren in der Regel langsam und für jeden geübten Bogenschützen ein einfaches Ziel.
„Oh, und Harun?“
„Hrard?“
„Sobald die Ablenkung auf dem Turm anfängt, läufst du vom Haupteingang los in richtung Karthwasten und alarmierst die Kompanie.“
Nun war das Murren lauter, doch es war weniger gegen Hrards Plan gerichtet, sondern eher gegen Harun, der wohl mit einem blauen Auge davonkommen würde, während sie zurückbleiben und gegen die Kreatur aus altnordischen Legenden kämpfen mussten.
„Glücklicher Bastard,“ dachte Stephanus bei sich selbst.
„Jetzt wo das erledigt ist... Los. Ihr wisst wohin ihr müsst. Begebt euch in Position und wartet auf das Signal. Noch ist das Rennen gegen die Zeit kein Sprint.“
Himmelsrand, Einsamkeit, Blauer Palast
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Der Weg zum Haupthaus des Palastes blieb ein kurzer, verstrich noch schneller ob Amelias Kopf in den Wolken und Augen auf den Fassaden, bevor dieser der säulengetragene Vorbau des Haupttraktes abschnitt. Nur für einige Herzschläge kam es ihr so vor, als bliese der Wind stärker in die Kolonnade. Dann jedoch schob ihr Wegführer, Hrundal, wie ihn sein Kamerad nannte, die schweren Portalflügel aus massivem bronzeverzierten Holz auf und gebot ihnen, einzutreten. Wärmere, aber keinesfalls sonderlich warme Luft schlug ihr unvermittelt entgegen, derweil sie und ihr Ohm sich ins Innere begaben und letztlich kurz stehenblieben, um auf den Rest zu warten.
Zugegeben, der Anblick der weitläufigen Halle mit Kolonnaden und Emporen zu allen Seiten, gearbeitet aus deutlich kunstvoller behauenem Stein in hellem und dunklem Grau, mancherorten sogar düsterem Anthrazit, verschlug der Bretonin schließlich doch einen Moment den Atem. Trübes Licht funkelte durch die Bogenfenster an der Basis der Domkuppel und zerstreute sich im schummrig von Leuchtern erhellten Empfangsbereich. So manche geschäftige Bedienstete des Hauses und weitere Wachen in den deutlich schwereren Rüstungen, wie sie auch ihr Wegführer trug, die mit den Rücken zu einigen der eckigen Säulen standen, bevölkerten diesen Teil des Palastes. Während die Gerüsteten ihre Posen nicht merklich veränderten, glichen die Diener dieses offenkundige Desinteresse aus und warfen so manchen neugierigen Blick zu den eintretenden Bretonen hinüber, ehe sie hastig zu den Seiten des Saals zwischen Pflanzkübeln mit blässlichem Grün und den Pfeilern verschwanden.
»Es ist üblich, dass Besucher des Hauses den Jarl persönlich über ihre Anwesenheit in ihren Hallen unterrichten, auch wenn sie Gäste anderer Bewohner des Palastes sind«, meldete sich unvermittelt Hrundal zu Wort, seine Stimme rauchig und spröde, einer rostigen, blätternden Eisenstange nicht unähnlich. Erstmals nahm Amelia ihn richtig wahr und betrachtete seine markanten, kantigen Züge, die sich nicht vollends unter seinem dichten, brustbeinlangen Vollbart zu verstecken vermochten. Stahlblaue Augen leuchteten unter seiner starken Stirn und buschigen Brauen hervor. Ein Nord, wie er im Buche stand – Wildes Schimmern in den Augen, kraftvoll. Aufregend.
»Wenn es die Gepflogenheiten des Hauses sind, so werden wir uns ihnen selbstverständlich beugen«, willigte Natalios schließlich ein, als sie alle das trockene Innere des Palastes betreten hatten. Neuerliches Herzklopfen erfasste Lia in der Gewissheit, einer echten Königin gegenüberzutreten. Nach all den kleinen und größeren Fürsten, Herzogen und Burgherren in Hochfels, die ihre Familie kannte, so besaß diese Begegnung eindeutig Besonderheit. Dennoch verspürte sie dieselbe, leichte Unzufriedenheit mit dieser Art des Empfangs, wie sie auch ihr Ohm zu empfinden schien, immerhin wollten sie sich nicht allzu groß bekannt machen. Mehr noch als das einfache Volk tratschte der Adel unter sich – und kam dabei noch weit mehr herum, als ersteres. Von allen Gerüchteverbreitern mochten Blaublütige die Schlimmsten sein – und damit kannte sich Amelia nicht nur bestens aus, sondern musste zu ihrer Schande gestehen, oft genug dazuzugehören. Adelsdamen unter sich. Nichts zeterte mehr.
Unterdessen die junge Bretonin ihren Gedanken nachhing, verpasste sie beinahe den kunstvollen Aufgang am gegenüberliegenden Ende der Halle, ignorierte ihn fast völlig, obwohl sie eine der geschwungenen Treppen nach oben stiegen. Schwere Schritte voraus und folgend, blieben ihr Onkel und sie doch weiterhin von ihren Wächtern eingefasst.
So imposant der Empfangssaal hinter ihnen sein mochte, so schlicht bot sich der eigentliche Thronraum an, mehr eine zu dunkel geratene Nische mit Bannern und einigen Holzbänken. Wenig Licht drang durch die zu klein geratenen Fenster an der rechten Seite und nicht einmal ein großer Teppich, so wie in der Eingangshalle, sorgte für etwas mehr Gemütlichkeit. Amelia fröstelte es unvermittelt.
Darüber hinaus fielen die Bretonen im Vergleich mit den anderen Anwesenden hier nicht nur durch ihre feinere, filigranere Erscheinung und kleinere Größe auf. Wenn sich Amelia die Kleidung der Nordadeligen betrachtete, so mochten diese bisweilen in Hochfels als gewöhnlich durchgehen, wenn sie einmal von den schweren, gut gearbeiteten Fellen absah, die den meisten um die Schultern lagen. Schwere Stoffe, oftmals Samt, überbordet mit schwerem Goldschmuck, gröberen Untergewändern und farblichen Kombinationen, bei denen Amelia die Augen bluten wollten. Ihre Hoffnungen, in diesem Kleiderladen nahe des Haupttores der Stadt den einen oder anderen Septim wohl investieren zu können, welkten nur einen Lidschlag später.
Dennoch blieb ihr nur ein flüchtiger Moment, die Umgebung aufzunehmen, bevor Hrundal ihre Gruppe näher zu einem Podest lotste, auf welchem sich ein deutlich kunstfertiger geschnitzter, hoher Lehnstuhl befand. Eine schmale, älter erscheinende Nordfrau saß auf dem Thron, trug das rot schimmernde, lange Haar mit einem goldenen Stirnband nach hinten gelegt und entblößte damit ihr spitzes Gesicht. Graue Augen, die auf Lia einen traurigen Eindruck machten, musterten die Neuankömmlinge, welche das Gerede zwischen den Anwesenden zum Verstummen gebracht hatten.
Langsamen Schrittes näherten sich letztlich lediglich die beiden bretonischen Adeligen dem Thron. Ihre Wachen und Hrundal hielten sich indes im Hintergrund und nahe der Brüstung oberhalb der gewundenen Treppen ins Erdgeschoss. »Gäste aus Hochfels sind in diesen Hallen selten«, eröffnete Elisif. Was genau Amelia erwartet hatte, wusste sie nicht, aber keinesfalls eine solch tonlose Stimme, auch wenn sie wohl unfraglich zum blassen Jarl passte. Natalios und seine Nichte blieben stehen, als die Regentin sich erhob. Derweil sich ihr Ohm tief verbeugte, senkte Amelia das Kinn und den Blick, um einen makellosen Knicks zu vollführen, auf den ihre Mutter zweifellos stolz gewesen wäre, lange genug wie es gedauert hatte, ihrer Tochter diesen beizubringen.
»Sybille unterrichtete mich, dass sie Gäste aus dem Westen erwartete«, fuhr der Jarl fort und trat auf die mittlere Stufe des Podestes hinab. »Ich gehe recht in der Annahme, dass Ihr diese seid?«
Auf diese Weise angesprochen, richtete sich Nat auf und Amelia folgte seinem Beispiel. »Sehr wohl, Jarl. Natalios Val Nurinia.« Während er sprach und eine neuerliche Verbeugung andeute, meinte die junge Bretonin an seiner Seite das leichte Zucken seiner Kiefermuskeln zu erkennen. »Und Amelia Val Nevenas, meine Nichte«, stellte er im Anschluss Amelia vor, die ebenfalls einen erneuten Knicks andeutete.
»Sybille deutete an, Ihr wärt für persönliche Angelegenheiten hier?« Elisif blieb auf der mittleren Stufe stehen und ignorierte die neugierigen Blicke der umstehenden Adeligen und Palastbewohner ebenso wie ihre neuen Gäste.
»Recht so. Als Hexenmeister der Magiergilde in Urvanus bin ich für magische Studien nach Himmelsrand gekommen. Amelia ist dabei nicht nur meine Nichte, sondern auch Schülerin«, erklärte Natalios und musste dabei nicht lügen, auch wenn es nicht der ganzen Wahrheit entsprach.
»Nun, dann seid Ihr bei Sybille in den richtigen Händen.« Größere Zufriedenheit mit der Antwort des Bretonen zeichnete sich auf Elisifs scharfen Gesichtszügen und um die blassen Mundwinkel ab. »Unglücklicherweise«, fuhr sie gedehnt fort, »ist Sybille gerade noch verhindert und treibt wohl irgendwo im Palast ihr Unwesen.« Sie hob den Blick an ihren Gästen vorbei. »Du, Wächter, Dein Name?«
»Hrundal, Jarl.« Ergebenheit weichte die rauche Stimme des Nord auf und Amelia meinte seine Verbeugung am knirschen des Wamses und der stählernen Panzerplatten zu hören.
»Suche Sybille und sage ihr, dass ihre Gäste eingetroffen sind.«
»Gewiss, Jarl. Sofort, Jarl.«
Gerade wollte er sich bereits mit schweren, rasselnden Schritten entfernen, da hielt ihn die Regentin nochmals auf. »Fange im Verließ an.« Darauf folgten schnell frequente Schritte, die irgendwo in der Weite der Empfangshalle verklungen und letztlich ganz verschwanden. »Erikur«, wandte sich Elisif im Anschluss von den Bretonen ab und kehrte zu ihrem Thron zurück, »sei so gut und zeige unseren Besuchern den Gästetrakt. Die Zimmer sind hergerichtet.« Damit setzte sich der Jarl und betrachtete erneut Amelia und ihren Ohm. »Bei Speis und Trank zum heutigen Abend wäre ich sehr an Eurer Verbindung zu Sybille und Euren magischen Studien interessiert, Natalios.«
»Gewiss, Jarl. Mit Vergnügen«, entgegnete der Angesprochene und deutete eine erneute Verbeugung an.
»Folgt mir«, sprach unvermittelt ein kräftiger, aber keinesfalls muskulöser Nord von der Seite. Sein schwerer Mantel in goldbesticktem Himmelblau wollte so gar nicht mit dem giftigen Grün seines Untergewands harmonieren und biss sich obendrein mit den ins Rosa abgleitenden Quarzkristallen, die im klobigen Goldschmuck um seinen Hals eingefasst auf seiner Brust lagen. Nicht, dass die Kristalle zur Farbe des Metalls gepasst hätten. Lia erschauderte.
Mühsam konzentrierte sie sich auf sein langes Gesicht mit der riesigen Knollnase. Engstirnig geschnitten, fasste kinnlanges, blondes Haar, das in Zöpfen über den Schläfen lag, das Antlitz ein und vertuschte somit die wahrhaft hohe Stirn zumindest teilweise. »Erikur, Thane von Jarl Elisif«, stellte er sich nochmals selbst vor, derweil er ihnen gebot, den Nordflügel des Palastes mit ihm anzusteuern. »Erfreut Eure Bekanntschaft zu machen.«
»Gleichsam.« Natalios schüttelte im Gehen seine Hand. Gleichzeitig kam hinter ihnen wieder das schwere, wenn auch gedämpfte Scheppern ihrer eigenen Wächter auf, und kündete von ihrem schweigsamen Folgen.
»Thane?«, hakte Lia in diesem Moment ein. Der Begriff klang fremdartig und unbekannt, entsprechend interessiert sah sie den Nord von der Seite an, indessen er mit ihnen über die Empore des Eingangssaals in den Nordflügel verschwand.
»Ein ritueller Titel für jene, die in der Gunst des Jarls und der Menschen seines Fürstentums stehen. Besondere Leistungen und dergleichen.«
»Also eine Art Ritter?«
Erikur schien kurz zu überlegen, dann jedoch nickte er in Laufrichtung. »Ja, vermutlich. Obwohl es wirklich mehr eine Volkssache ist. Ein Thane muss sich im Dienste des Volkes ebenso verdient machen wie im Dienste seines oder ihres Jarls, bevor er den Titel verliehen bekommt. Für Ritter gilt dies wohl nicht in der gleichen Weise«, erwiderte er dann, folgte einem kurzen, mit schmalem Teppichband ausgelegten Flur bis sich dieser Teile. »Links liegen die Gemächer des Jarls. Der Gästetrakt befindet sich im zweiten Stockwerk, wenn Ihr mir also weiter folgen würdet?«
Nachdenklich ob Erikurs Antwort schenkte sie seinen Ausführungen zum Lageplan des Palastes nur bedingt Aufmerksamkeit, aber sah wenigstens den langen, von zahllosen Leuchtern erhellten Korridor hinab, bevor sie den schweren Schritten des Nords die schmalen Stufen hinauf folgte.
»Befinden sich viele Gäste im Palast?«, wechselte Amelia letztlich das Thema. Dass ihr die Gesellschaft des Jarls im Thronsaal ziemlich klein erschien, sprach sie nicht laut aus. Es wäre unangebracht gewesen und vermutlich fiel der Grund für die geringe Größe in eine ähnliche Kategorie der Erklärung wie das ruppige Verhalten der Wachen am Stadttor.
Ihre Vermutung sollte sich bestätigen. »Ich bin sicher, dass Ihr von der gegenwärtigen Lage in Himmelsrand gehört habt. Besucher am Hof sind selten geworden. Darüber hinaus verbringen die Thane ihre Tage zwar durchaus im Palast, leben jedoch nicht hier. Der Gästeflügel ist deshalb völlig frei.« Just in diesem Moment erreichten sie das obere Ende der Stiege und traten auf einen weiteren Flur hinaus, der jenem ein Stockwerk tiefer zum Verwechseln ähnelte. Graues Mauerwerk, vereinzelte rote Banner und Wandteppiche, schummriger Kerzenschein. Einigermaßen wohnlich, aber keinesfalls warm.
»Hier, dies ist das größte Schlafgemach und der Dame sicherlich besonders gefällig«, fuhr Erikur schließlich fort und lief eiliger zu einer nahen Tür hinüber, um sie für Amelia zu öffnen. Mit einem dankenden Nicken und schmalen Lächeln trat sie unter dem beinahe aufdringlichen Blick des Thane durch die schwere Pforte in ein hergerichtetes Gemach, das zwar kleiner als jenes in der Burg ihrer Familie war, aber zumindest in seiner Einrichtung keine Abstriche bot. Ein großes, von Schleiern verhangenes Doppelbett, mehr als genug Schränke und Kommoden, um all ihre mitgeführten Kleider und Sachen zu verstauen und sogar eine Feuerstelle ebenso wie ein Raumteiler, hinter welchem sie nach kurzem Umherlaufen einen Badezuber entdeckte. Die Fenster wiesen zwar nach Norden, weswegen nie die Sonne hineinscheinen würde, aber die Aussicht, die sich der jungen Adeligen bot, mochte diesen Umstand wohl mehr als ausgleichen.
So glitten ihre Augen einige lange Momente über den Mund der Bucht und die nördlichen Küstenlinien nach Westen und Osten hin bis sie sich ebenso im tristen Grau verloren wie das Schwarz des Geistermeers. Erst danach beachtete Amelia erneut den Raum und nahm die weichen Felle auf dem Dielenboden wohlwollend zur Kenntnis. Ebenso wie Rasvan, der sich prompt auf einem Bärenpelz zum Fußende des geräumigen Doppelbetts niederließ.
»Diese Tür dort«, deutete der Thane auf eine schmale, unauffällige Pforte am Westende des Raumes, »führt in eine Zwischenkammer. Ideal für Eure Magd, wenn Ihr eine mit Euch brachtet. Sie öffnet sich auch in den angrenzenden Raum, welchen ich Euch anraten möchte, Natalios.«
»Wird Raum für unsere Wachen hier oben sein?«, hakte ihr Onkel daraufhin nach. Ihr Hausführer hielt kurz an der Türschwelle inne, sah aus, als ob er gerade schon weitergehen wollte, dann wog er das Haupt unschlüssig von einer zur anderen Seite. »Das solltet Ihr mit Sybille besser direkt besprechen. Da Ihr ihre Gäste seid, wird sie sich um solcherlei Fragen kümmern und ich weiß nichts darüber, ob bereits Absprachen geführt worden sind.«
»Dann werden wir uns gedulden«, bestätigte Nat und folgte Erikur zurück auf den Korridor, wo sie aus Amelias Sichtfeld verschwanden. Diese blieb in ihrem Gemacht und kniete sich neben den Mischling aus Eiswolf und Schäferhund, der sich wonnig und ruhig atmend auf dem Fell ausbreitete und die langen, kräftigen Beine von sich streckte. Festen Boden unter den Füßen zu haben, musste unzweifelhaft auch er genießen.
»Du scheinst Dich ja richtig wohl zu fühlen«, flüsterte sie dem Halbwolf zu und zerzauste ihm mit ruppigen, aber liebevollen Bewegungen der Hände das Haar am massigen Hals. Anstatt wirklich darauf einzugehen gähnte das Tier bloß und glotzte sie lediglich aus seinen großen, goldbraun leuchtenden Augen heraus an. Unbekümmert streichelte sie ihn zwischen den Ohren, bis er den langen Lappen aus dem Maul hängen ließ und das wuchtige Haupt niedersank. »Ja ja, Faulpelz. Steh auf«, wies Amelia den Vierbeiner an und beobachtete zufrieden, wie er die schläfrig immer wieder zufallenden Lider hochriss und sich anschickte, aufzustehen. »Gut so.« Wehleidig wimmernd wandte sich ihr der Hund zu. Doch anstatt sich weiter kraulen zu lassen und sich gleichzeitig darüber zu beschweren, nicht liegen bleiben zu dürfen, drückte er sich mit den Vorderpfoten ab und legte die schweren Tatzen auf Amelias Schultern.
Überrumpelt entwand sich ein helles Quieken ihrer Kehle, bevor sie nach hinten stürzte und sich einige noch immer vom geschmolzenen Schnee nasse Stofffalten gegen ihren Leib drückten. »Nicht so ungestüm«, lachte sie und schob sich mit verrutschten Gewändern und dem abgewickelten Zopf zwischen ihren Gliedern unter dem hochbeinigen Halbwolf heraus.
Schwere, eilig klingende Schritte näherten sich auf dem Flur und hielten vor ihrer Tür inne. »Alles in-«, hob Lida an und die Adelige warf einen schnellen Blick zu ihr hinüber, wie sie an der Tür unvermittelt innehielt und ihre vom schnellen Lauf verwehte, brustlange Goldmähne richtete. »Oh.«
»Schon gut, Lida. Der Herr wünschte deutlich zu machen, dass ihm nicht an Spielen gelegen ist«, erklärte die Bretonin und begann damit, aufzustehen. Bevor Erikur und ihr Onkel zurückkehren konnten, richtete sie ihre Gewänder und den Überwurf neu und löste den verhedderten Schal. Schwer wog der Zopf über ihrer Schulter, richtete sie das silberne Netz an ihrem schlanken Hals gerade in dem Moment, als der Nord und ihr Verwandter zurückkehrten.
»Ich bin sicher, dass Ihr Euren Aufenthalt im Blauen Palast genießen werdet«, verkündete der Thane gerade und hielt hinter Lida auf dem Korridor inne, warf einen Blick in Richtung der jungen Bretonin, die ihren mit winzigen Saphiren bestückten Halsschmuck gerade fertig justiert hatte und sich anschickte, die ungeschützte, helle Haut und das Metall vor der kühlen Luft in den noch ungeheizten Zimmern mit dem seidenen Schal zu schützen. »Und ich bin sicher, dass wir Eure Gegenwart ebenso genussvoll aufnehmen werden.« Kurz hielt er seine felsengrauen Augen auf sie gerichtet und rang ihr ein etwas widerwilliges, dankendes Nicken bei leichter, unwillkürlicher Röte in den Wangen ob des gezwungenen Kompliments ab. Auf der einen Seite schmeichelte es ihr, ohne Frage, andererseits blieb Erikur nicht ihre erste Wahl unter jenen, von denen sie solch schöne Worte hören würde.
»Wärt Ihr so frei, diesen beiden Herren hier Geleit zu organisieren, damit sie einige unserer Sachen bereits von unserem Schiff holen können?« Erst im Näherkommen erkannte Amelia, dass Natalios auf Bedrich und Franos zeigte. Die kräftigen Zwillinge mit den fast schwarzen, fingerlangen Haaren und gleichfarbigen Murmeln von Augen ließen in Synchronie die Kiefermuskeln unter den buschigen Backenbärten spielen.
»Natürlich. Wenn Ihr wünscht, steht Euch derweil dieser Flügel und der Rest des nördlichen Palastes zur Verfügung. So Ihr wünscht, stellt Euch die Küche sicherlich etwas für die nachmittägliche Stärkung zusammen.« Noch wartete der Thane auf eine Reaktion der Bretonen, aber schien sich allmählich auf den Weg machen zu wollen.
»Meinen Dank. Wir werden uns sicherlich zurechtfinden«, erwiderte Natalios und nickte Erikur dabei anerkennend zu. Der erwiderte die Geste und wollte sich bereits zum Gehen wenden. Aber Amelia hielt ihn noch einmal auf.
»Ihr sagtet, der Nordflügel?«
»Ah, richtig. Eine gut gemeinte Warnung«, antwortete Erikur und setzte ein wenig erfreutes Lächeln auf. »Der Pelagius-Flügel ist schon seit Längerem für alle Besucher und Bewohner des Palastes gleichermaßen geschlossen. Ausnahmslos.«
»Ich denke, dass wir unseren Weg dorthin so ganz ohne Hilfe ohnehin nicht finden würden«, willigte ihr Ohm ein und warf nur einen kurzen Seitenblick auf Amelia, die unbemerkt von ihrem Hausführer mit den Schultern zuckte.
»Abermals: Eine Freude«, verneigte sich Erikur und verschwand anschließend in Begleitung der zwar kleineren, aber kraftvolleren Zwillinge. Lia und ihr Ohm sahen ihnen nach, bis sie die Stufen der Treppe hinab verschwanden.
»Also warten wir?«, hakte die junge Bretonin nach.
»Kolja«, wandte sich Natalios ohne auf ihre Frage einzugehen an den Hauptmann, der einige Schritte in Richtung des Zimmers ihres Verwandten auf dem Korridor die Stellung hielt.
»Herr?« Der muskelstarke Kämpfer strich sich eine lockere Strähne aus der Stirn und richtete im Anschluss seinen Mantel wieder so aus, dass er das Wappen auf seiner Brust verdeckte.
»Offenkundig ist es nicht die beste Idee gewesen, sich am Hof einzuquartieren, wenn es darum geht, unsere Anwesenheit möglichst verdeckt zu halten. Aber…« Er warf einen Blick auf seine Nichte. »… in diesen Zeiten ist das Bewusstsein des Jarls über unsere Anwesenheit sicherlich nützlicher und in jedem Falle sittlich wie schicklich. Deswegen erwarte ich, dass unsere Späher aufbrechen, sobald wir mit Sybille gesprochen haben.«
»Wie Ihr es wünscht.« Koljas tiefe Stimme klang in den engen Verhältnissen des Flurs wie eine Lawine an fernen Berghängen und jagte Amelia Gänsehaut auf die Arme.
»Sollten wir Jarl Elisif über unsere anderen Aufgaben hier unterrichten?«, wandte sie junge Adelige ein und warf ihrem Onkel einen fragenden Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
»Unbedingt. Aber nicht im Beisein des gesamten Hofstaates.«
Daraufhin nickte sie lediglich. Ihnen fehlten so manche Güter für längere Reisen hier, die für über zwanzig Mann zu beschaffen sicherlich nicht einfach werden würde ohne die Unterstützung des Hofes. Pferde, um nur eines zu benennen.
»Ein Spaziergang in den Hof, derweil wir warten?«, schlug sie im Anschluss vor und griff erneut in das dichte Fell zwischen Rasvans Ohren. Nat nickte lediglich und folgte ihr die Treppen hinab. Sie nahmen nicht den Weg durch die Thronnische, sondern folgten der Stiege einfach bis hinab ins Erdgeschoss, um von dort direkt in den Eingangssaal und hinaus ins Freie zu gehen. Niemand hielt sie auf oder behelligte sie in irgendeiner Weise und so traten sie letztlich hinaus in die frostige Luft des fortgeschrittenen Nachmittags. Längst senkte sich die Sonne den Berggipfeln im Westen entgegen und es fehlte nicht mehr viel, bevor sich der frühe Abend über die Stadt legte – wenn es denn an einem trüben Tag wie diesem einen Unterschied machte.
»Lauf!«, befahl sie unvermittelt und warf die linke Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger vor. Bellend und freudig knurrend sprintete Rasvan aus dem Stand los und querte unter den irritiert zu ihnen gewandten Blicke der Wachen am Torhaus des Palastes in Windeseile den Hof, bis er in einer der Ecken Stellung bezog. Bellend tänzelte er auf der Stelle und provozierte ein gefälliges Schmunzeln seines Herrchens. Die Rechte auf Hüfthöhe neben sich haltend, als schwenkte sie einen großen Weinkelch, sammelte Amelia Mana in ihren Fingern, entzog mit diesem der umliegenden Luft noch mehr Wärme, dass sich um ihre Hand ein dichter, glitzernder Nebel bildete und verlieh der Energie in einer bläulich bis leicht violett schimmernden Wolke Kraft ihrer Gedanken die Form eines Balls. Simpel, wie der weiße, perfekt gepresste Schnee war, kostete es sie auch bei weitem nicht die Konzentration, die ihr die Blume abverlangt hatte, zumal sie ihn nicht zu Eis verdichten musste. Ohne Vorankündigung gab sie dem schwebenden Ball mit weiterer Magie einen kräftigen Schubs und das Geschoss flog pfeilschnell davon, entzog sich gänzlich dem Fokus ihrer Augen.
Blitzartig sprang der große Halbwolf aus dem Stand in die Höhe, katapultierte sich mit den mächtigen Hinterläufen vom Boden weg und schnappte den Schneeball aus der Luft, bevor er die Wand hinter ihm treffen konnte. »Guter Junge«, schmunzelte sie, mehr zu sich selbst, als zu den zwei Männern und der Frau, die neben ihr standen.
»Er hat seinen Biss gewiss nicht verloren, Herrin«, lobte Kolja dennoch und trat an den Rand des Weges, der durch den Hof führte. Arme vor der Brust verschränkt, halb unter seinem Mantel verborgen, blieb er stehen und betrachtete das hechelnd umhertänzelnde Tier, welches ob seines beinahe komplett weißen, nur stellenweise gräulichen Pelzes mit dem flockenbedeckten Boden verschmolz. »Sendet ihm noch einen, oder gleich zwei, dann wird Euch in Zukunft niemand hier behelligen, solange er an Eurer Seite steht«, fuhr er fort und deutete vor deren Blicken verborgen in die Richtung der verunsichert dreinblickenden Torwächter. »Verehrer wie Erikur eingeschlossen.« Ob eine Spitze von Ironie in seinem letzten Satz lag, wusste Amelia nicht recht zu bestimmen, aber sie entschloss sich, es so zu verstehen.
Offenkundig ahnten die Wachen, welches nicht-hündische Blut durch die Adern des Mischlings floss, und wussten um die tierische Urgewalt, die dieses zu entfalten vermochte. Sie trainiert und abgerichtet am Werk zu sehen mochte wohl durchaus Respekt – oder gar Furcht – abverlangen und schnell die Runde machen.
»Was meinst Du, Nat? Wohlwollen oder Furchtsamkeit?«
»Ein bisschen von Beidem, vielleicht?«, erwiderte er.
Sie stieß ein heiteres Schnauben aus und formte neuerliche Magie, diesmal in beiden Händen, und spürte wie die Anstrengung und Konzentration an ihren körperlichen Kräften zu zehren begannen, sich ihr Leib von innen erwärmte, als ertüchtigte sie sich gerade – und das obwohl kalte Nebelbänke ihre feinen, behandschuhten Finger umschwirrten. Kein unangenehmes oder auslaugendes Gefühl, aber eines, das sich dazu aufschwingen konnte, wenn sie nur lange genug fortführte, was sie gerade tat – auch wenn es bei dieser leichten Übung sehr lange dauern mochte.
Von der schwindenden Kälte in ihren Gliedern beflügelt, schmunzelte sie und sandte die Schneebälle zeitlich und in ihrer Flugbahn leicht versetzt in Rasvans Richtung. Den ersten schnappte er im Sprung aus der Luft, bevor er sich noch im Flug in seinem flexiblen Rückgrat wandte und mit den Hinterläufen von der nahen Wand abdrückte, um sich dem zweiten Geschoss entgegen zu katapultieren.
»Herzlichen Glückwunsch, Herrin, die Nord dieser Stadt werden Euch als Jungfer heimkehren lassen, ohne dass Ihr sie abweisen müsst«, scherzte Kolja diesmal offener.
»Das ist genug«, erwiderte sie ehrlich empört. Sie nahm es ihm nicht übel. Aber gewisse Grenzen der Etikette mussten bestehen bleiben und auch wenn Kolja sie von Kindesbeinen an als Soldaten und Leibwächter im Dienste ihrer Familie kannte, der sich in diversen Konflikten und Gefahrensituationen verdient gemacht hatte, so musste er diese ebenso wie alle anderen einhalten. Deutlich straffer und ergebener nickte er am Rande ihres Sichtfeldes.
»Unrecht hat er nicht.« Auch wenn sie Natalios nicht sah, hörte sie sein Schmunzeln.
Bevor sie auch ihm einen empörten Kommentar angedeihen lassen konnte, sprintete Rasvan plötzlich zu ihnen zurück. Allerdings ohne seine Pfoten freudig tänzelnd über den Schnee zu heben, sondern weitaus kraftvoller und bestimmter, als befände er sich auf der Jagd, pflügte er hindurch. Im Näherkommen erkannte Amelia auch die angelegten Ohren. Ihr Gesicht verlor binnen eines Herzschlages jede Entrüstung, jede Freude und spannte sich zu einer steinernen Maske an. Dann gelangte der Halbwolf auch schon neben ihr an und sie hörte das tiefe Knurren, welches seinen Leib unter ihrer schnell auf seinen Rücken gelegten Hand zum Vibrieren brachte.
»Was is-« Dann bemerkte sie, wie sich die Männer und Lida bereits umwandten, weil der Hund starr und mit gefletschten Zähnen an der Seite seines Herrchens in die Schatten unter dem säulengetragenen Vorbau des Haupthauses starrte. Geifer troff ihm von den Fangzähnen. Schließlich straffte sich auch die junge Adelige und machte auf der Stelle kehrt.
Eine dünne, kleine Gestalt stand dort im Halbdunkel, wo selbst an sonnigen Tagen kein Licht hingereicht hätte, hüllte sich in die schlichten, blauen Gewänder eines Magiers und versteckte sein Gesicht zu großen Teilen unter einer Kapuze. »Sch, ganz ruhig, Rasvan«, flüsterte Lia ihrem Gefährten zu und strich zwischen seinen Ohren entlang. Gleichsam spürte sie jedoch auch, wie die Anspannung ihres Vierbeiners beim Anblick der stillen und geräuschlos hinter sie getretenen Person auf sie selbst übersprang.
»Er ist nicht der einzige, der auf diese Weise reagiert«, schnitt die Stimme einer Frau unter der Kapuze hervor und ein schiefes, wenig freundliches Lächeln umspielte die schmalen, femininen Lippen, die zu sehen blieben und unter einer schlanken Nase saßen.
»Und Ihr seid?«, fragte Amelia vorschnell zurück, biss sich aber gleich im Anschluss verärgert auf die Zunge, um weitere Kommentare zurückzuhalten.
In diesem Moment schob sich Natalios an seiner Nichte vorbei und trat zwischen den unverändert knurrenden Hund, den wohl lediglich Amelias Hand und deren beruhigende Streichbewegungen davon abhielten, auf die schmale Frau loszugehen. »Sybille, wie ich sehe, scheinst Du Deine Angewohnheit, Normalsterbliche zu Tode zu erschrecken, nicht abgelegt zu haben.«