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Thema: Schnelle Gedichte, Ultrakurzgeschichten, Ideensammlung und Gedanken #1

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  1. #1
    Die dreifache Verpflichtung -
    von Norpoleon

    Oh, Gesellschaft.
    Seid gegrüßt, Reisender.
    Ihr seid Adept der magischen Wissenschaften, nicht wahr?
    Mir ganz sicher gleich. Nehmt euch was zu Essen aus dem Feuer. Es ist garantiert kein Mensch. Haha!
    Es sei denn, ihr mögt Mensch. Kleiner Scherz. Das ist eine Wasserratte, die ich gerade erlegt habe. Mensch als Proviant ist mir zu teuer. Und selber einen zu töten, nur um ihn zu essen, bringe ich nicht übers Herz. Ich weiß, das klingt altbacken in einer Gesellschaft, in der es normal ist, dass manche Menschen geboren werden, um auf den Tellern der Wohlhabenen zu landen; oder - in Zeiten von Überbevölkerung - auch dem gemeinen Volk als Nahrungsquelle zu dienen.
    Nicht ohne Grund steht Mensch selten auf meinem Speiseplan: ich bin Harapsheki und ich bin geboren als menschliches Vieh. In der "Mastkaste", wie man sagt.
    Seht ihr diese Brandnarbe auf meiner Schulter? Der Engel ohne Arme und nur einem Flügel? Sie bedeutet, dass ich bei Hofe gegessen werden soll. Ich wurde sogar dazu ausgebildet, zu singen und als Gauklerin zu dienen, bevor ich gekocht werde. Wenn man auf einem Gehöft aufwächst, das Menschenfleisch produziert, erscheint einem der Tag, an dem man endlich seine Bestimmung erfüllen kann, wie der Moment absoluten Glücks. Ja, Bestimmung.
    Wurde nie schlecht behandelt auf unserer Farm. Kann nichts Negatives sagen. Das liegt aber wahrscheinlich auch daran, dass ich die einzige war, die diese Narbe trug. Alle Anderen waren entweder mit einem Anker gebrandmarkt worden - sie dienen also der Verpflegung von Seeleuten - oder trugen ein Mal in Form einer Münze auf der Schulter - diese wurden auf den Märkten der größeren Städte verkauft. Diese Körper wurden zwangsgemästet, durften sich nur eine Stunde am Tag auf der Wiese bewegen und wurden ansonsten in enge Pferche gesperrt, um sich nicht aus Versehen gegenseitig zu verletzen. Diese Menschen waren träge und unförmig und waren nicht mehr als Tiere. Nur wenigen brachte man überhaupt das Sprechen bei. Manche konnten ein paar basale Floskeln in Umgangs-Gan radebrechen. Dagegen konnte ich über meine Aufzucht nicht klagen: ich wurde nur mit erlesenen Nüssen, Salaten, Wurzeln und Gewürzen gefüttert, bekam eine erweiterte Bildung angediehen und Sprachunterricht in Ihib, Trans-Gan und Dafenko, um bei Hofe auch angemessen parlieren zu können. Man las mir die großen Mythen, Epen und Gesänge vor und ich las den ein oder anderen Naturphilosophen, Ethiker und Theologen. "Das Eine fließt durch dich.", pflegte eine senile Besitzerin zu sagen. Der Das-Eine-Kult war damals in Mode. Besonders interessierten mich Bücher über Architektur und Materialkunde. Man kann sagen, dass ich in diesen beiden Bereichen sogar zu einer der größten Koryphäen unserer Zeit aufstieg. Des Tags, wenn nur noch Zeit für Müßiggang anstand, zeichnete ich Konzepte von Palästen, Theatern, Brücken und Straßen und sammelte seltene Materialien zur näheren Untersuchung. Man brachte mir den Umgang mit Hakenbüchse und Langsax bei, damit ich helfen konnte, die anderen menschlichen Rindviecher, die alle nicht älter als zwanzig Sommer werden durften, zu erschießen und fachgerecht auszuweiden. Mir dagegen war ein geringfügig längeres Leben vorherbestimmt und eine bessere Behandlung. Das hochwertige Essen und die frische Luft auf den satten Weiden hielten mich gesund und schlank und durch die Arbeit für die Fleischergilde war ich auch sehr muskulös.
    Unsere Züchter waren einfach gestrickte Leute. Sie waren wortkarge, hagere Tabakraucher, die niemals gegen die Zunft, die auch meine Verpflegung und Ausbildung bereitstellte, aufbegehren würden. Die Gilde besaß außer ihrem Land, auch unsere Züchter. Sie gehörten zu den freien Völkern auf den Gehöften in den Auen der nördlichen Föderation, aber wie unser Hofmeister zu sagen pflegte:
    "Freies Volk. Pah! Jeder weiß, dass die Gildenmacher und Hexenmeister hier uneingeschränkt herrschen. Wie sonstwo auch. Einerlei."

    Alles war gut und idyllisch in unserer kleinen Welt. Ich hatte mich mit meinem gar nicht mal so üblen Schicksal bereits als Kind abgefunden und wartete nur noch auf meinen großen Auftritt am Hofe eines Fürsten oder Tempeldieners. Doch die Anmutung eines Zitterns in meiner Stimme sollte euch bereits verraten haben, dass alles nicht so verlaufen ist, wie ich es mir wünschte.
    Wartet.
    Ich brauche nur einen Schluck und lasst mich eine Pfeife stopfen.
    Gut.
    Eines Nachts tauchte dieser Schatten am Grenzzaun unseres Gehöfts auf. Ein zehn Fuß hoher mumifizierter Schrecken mit blitzenden, sternweißen Augen. Es war ein Guhom. Ein untoter von jenseits der großen Wüsten. Ich hatte von ihnen in einem Almanach gelesen. Er griff unsere Farm mit trampelnden Hufen und schlitzenden Klauen an. Weder die Wachhunde unserer Besitzer, noch letztere mit ihren zahlreichen Feuerwaffen und Hellebarden konnten dem Monster etwas entgegensetzen. Die Hunde regneten als feiner Fleischschnee zu Boden, während der Guhom unsere Züchter mit Terrorsprache in die Knie zwang und ihr Inneres nach außen stülpte. Die Mastmenschen schrien oder riefen wie von Sinnen um ihr Leben; doch zu unser aller Erstaunen krümmte uns die Mumie kein Haar. Er öffnete die Pferche, zerriss ihre Ketten und ließ sie frei. Als sein Werk getan war, wandte er sich mir zu mit diesem ehrfurchtgebietenden Blick einer Entität aus einer mir völlig fremden Welt.
    "Harapsheki.
    Endlich habe ich euch gefunden.
    Mein Name ist Dreitausendsieben und ich bin gekommen, um Euch zu holen.", dröhnte es vom grotesk langegestreckten Kopf des Wesens.
    Mir gingen tausend Fragen durch den Kopf. "Ihr kennt meinen Namen? Selbst ich hatte ihn fast vergessen..."
    "Natürlich kenne ich Euren Namen. Nun folgt mir und lernt etwas über Eure wahre...
    Bestimmung.", brummte er beruhigend.
    Ich folgte dem sanftmütigen Wiedergänger.
    Er führte mich gen Osten in einen dunklen Hain zu einem Versteck. Er kleidete mich, wie einen Landsknecht. Rüstete mich mit einem hoch modernen Steinschlossgewehr, einem Forket, Stoßsäbel und Kurzschwert und ein Bandelier mit Pulverflaschen und Munitionsbeuteln, sowie mit einem Brustharnisch und einem Morion aus Sularmyt-Erz aus. Nach dieser Prozedur fühlte ich mich mindestens 70 Pfund schwerer. Dreitausendsieben rief sein Reittier zu sich: offensichtlich ein ehemaliger Mensch, der auf allen Vieren lief, übel verstümmelt wurde und keinen Unterkiefer mehr besaß. Der Mann stand offensichtlich unter irgendeinem gottlosen Bann.
    Während wir über die breite Hochstraße zu unserem nächsten Ziel gen Osten ritten, beantwortete mir der Guhom einige meiner vielen Fragen. Zum Beispiel warum er nicht nur in Terrorsprache kommunizierte, wie ich es bei den Guhom vermutet hatte.
    "Nun, in hundertausend Jahren des Untodes ereignete es sich manchmal, dass einige von uns wieder ein Bewusstsein entwickelten. Wir nutzten diese glücklichen Fügungen des Schicksals, um echte Sprachen zu lernen, neue Maschinen zu entwickeln und unsere uralte Zivilisation wieder Stein um Stein aufzurichten. Wir werden bald wieder eine Macht in der Welt sein. Und Leute wie Ihr werden uns dabei helfen."
    Ich wagte nicht, ihm zu widersprechen, da mich der Anblick dieses Wesens, das ich bisweilen für eine mythologische Figur gehalten hatte, zunächst völlig verstörte.

    An einem sonnigen Göttermorgen erreichten wir den Hafen von Kalmo. Wir hatten das Land Belado hinter uns gelassen, einem Vasallenstaat an den Grenzen der Födaration. Ein Syndikat aus mächtigen Patriziern unter der Schirmherrschaft der Sekte der vereinten Zünfte, die hier seit zwei Jahrhunderten eine Gewaltherrschaft begründeten. Ich, menschliches Fleisch, das noch nie etwas Anderes als unseren Bauernhof im feudalen Tunbuk gesehen hatte, war völlig überwältigt vom größten Hafen des Kontinents und der angrenzenden Werft, sowie der Stadt der Kontoren. Hier trafen sämtliche Waren für den anschließenden Verkauf in der gesamten Föderation ein. Aber ein großer Teil wurde auch direkt auf dem Markt des Hafens pfeilgeboten. Bündel aus allen Winkeln Ehebs wurden hier zusammengetragen und türmten sich auf sich biegenden Ladentheken: alle Arten von Fischen, die der Menschheit bekannt sind, alle Fleischsorten, ja, auch Mensch, außerdem Wildschwein, Zebrafleisch, Wisenthälften, dicke Blutwürste, Prachttauben, Prachttaubeneier; und alle Gewürze, Früchte und Gemüsesorten des Kontinents, wie in Essig und Salz eingelegte Trüffelwurzeln, Regenbogenschmetterlingspilze, Wintermorgensalat, Karotten aus den Sümpfen des Leen, Duftreis aus Galtanoranga, Senffeigen aus Osketun, Tee aus den Klostern von Tsudae und Pfeffer von den südlichen Inseln; aus den neu entdeckten Landmassen des Südens gesellten sich würziger Tabak, Bittermandeln, Pyramiden aus reinstem braunen Zucker, Honigwabennüsse, Kaffeebohnen und essbare Riesenfauchasseln; Pilzschnaps, Ingwerschaumtörtchen, Rosenwasser und Moltebeerkäse.
    Dreitausendsieben holte uns ein Paket mit Proviant für unsere weitere Reise, dann hielt er eine Goldmünze mit dem Konterfeit des Großgildenmeisters von Kapol zwischen seinen langen, spitzen Fingern: "Da, wo wir hingehen, wird das hier bald schon keine Macht mehr haben." Im selben Augenblick sahen wir eine Droschke an uns vorbeifahren, die eine fremdartige Apparatur geladen hatte; eine Art Weinpresse nebst mehreren Platten mit unzähligen Buchstaben darauf. Dreitausendsieben bemerkte: "Das wird eure Revolution werden. Doch im Reich, wo wir hin aufbrechen und Ihib gesprochen wird, kann man diese nicht nutzen, weil sich ihre Schrift nicht zum Drucken eignet." Er schnaufte tief und lang anhaltend: "Aber eine Revolution wird es in der Wüste nichtzuletzt auch geben."
    "Wo wollt Ihr mich überhaupt hinführen?"
    "In den Norden. Dem echten, fernen Norden.", triumphierte seine Stimme. Mit seinem unproportional langen linken Arm wies er zum kleinen Luftschiffhafen am Horizont, wo drei mal am Tag ein Schiff anlegt.
    Angeschlossen an dem Lufthafen befand sich ein Söldnerlager, um Händler, Diplomaten oder einfach Abenteurer zu schützen, die von hier aus in die tiefen Wüsten des Nordens aufbrachen.
    Dreitausendsieben störte eine Gruppe gut gerüsteter Kämpfer beim ausgelassenen Umtrunk mit einer winkenden Hand, an der ein voller Beutel mit Silbermünzen baumelte.
    Die vier Recken beendeten sogleich ihr Palaver und stellten sich der Reihe nach vor:
    "Heda, mein Name ist Blutknecht Schreimusikant."
    "Tränenkoster Eingeweidezerreißer. Angenehm."
    "Schmerzerzwinger Universaleindringer. Freut mich Eure Bekanntschaft zu machen."
    "Äh, ja, Quaggel. Einfach nur Quaggel...
    ...
    ...der Schreckliche."
    Als ich diese muskelbepackten Kämpfer in ihren dicken, teilweise mit Stacheln bewehrten Harnischen begutachtete, musste ich gestehen, dass ich weiche Knie bekam. Ich ertappte mich sogar bei dem Gedanken, danach zu fragen, ob es eine Frau Eingeweidezerreißer gibt.

    Zu sechst und schwer bewaffnet bestiegen wir ein vergleichsweise kleines Luftschiff; zu klein, um mit Feuertöpfen bewaffnet zu werden und gerade groß genug für eine kleine Bliede vorne in der Nähe des Bugs.
    Da dies meine erste Flugreise war wurde mir exakt in dem Moment schon schlecht, da das Schiff aufhörte auf dem Erdboden aufzuliegen. Der Grund entfernte sich von uns in größerer Geschwindigkeit, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Ich konnte bald das gesamte üppig grüne Umland von Kalmo mit seinen Flüssen und Marschen und den ständig ankommenden und abfahrenden Handelsschiffen unterschiedlicher Bauart, Nationalität und Größe überblicken. Am Horizont ragte schon der Nordwall auf, ein mächtiger Gebirgsrücken, der nicht nur die Feuchtgebiete des südlichen Kontinents von den Wüsten des Nordens trennte, sondern auch die föderale Welt der Gildenmacher vom Empire. Das atmosphäre-blaue Massiv in der Ferne stieß durch eine dichte schwere Wolkendecke, die um uns herum schneeflöckchenweiß erschien, aber umso dunkler wurde, je näher sie sich am Nordwall befand; wie ein Wegweiser zeigte der Gipfel, wo uns unserer Reise zunächst hinführen wird: nach oben.
    Verächtlich blickte der Gipfel des Sargoss auf uns herab, als wir durch die Wolkendecke gestoßen waren. An den Hängen dieses Berges müssen so viele Skelette verstreut liegen, war er doch von jeher Schauplatz großer Schlachten. Und der General, der seine Feste nahe dem Gipfel des Sargoss errichten würde, würde der Herrscher des gesamten Kontinents sein. Doch all das ist schon so lange her. Nur noch Gerippe einst kolossaler Wehranlagen wurden in Zeitdimensionen von Jahrhunderten immer mehr vom Schnee bedeckt. Über dem Berg, auf dem in mythologischer Zeit einst Zyklopen und Basilisken gegeneinander kämpften, braute sich ein Unwetter zusammen und Blitze schlugen in die Koppe ein. Sturm und Donner erfassten unser Gefährt und warfen es hin und her. Ich hatte keine Ahnung, was 'seekrank' bedeutet und nun lernte ich dieses Gefühl zum ersten Mal 4.000 Meilen über dem Erdboden kennen.

    Doch hielt unser kleines Luftschiff, die 'Wagemut', stand; auch dank der erstaunlichen Navigationskünste Dreitausendsiebens. Die Gewitterfront brach auf und gab die Sicht auf die Ausläufer des Gebirges und das südliche Tor frei. Das Monument aus Sandstein und Bronze mit den zwei Wachtürmen an jeder Seite zierte die einzige Hochstraße, die das Gan-Delta und die Länder im Süden mit den offenen, trockenen Weiten des Empires verband. Wir waren heilfroh, dieses Manifest imperialer Herrschaft nicht zu Fuß durchschreiten zu müssen, hätten uns doch bei der damaligen angespannten politischen Lage die riesenhaften Parhakali-Schildwächter auf Patrouille sofort liquidiert.
    Vor uns öffnete sich das Kernland des Kontinents: die offene Wüste. Man kann fast dabei zusehen, wie die Gezeiten der Dünen und der Wüstenwind langsam aber unausweichlich das Antlitz dieses mystischen Ortes verändern. Uns umschloss eine Glocke aus rotbraunem Staub, der unsere Sichtweite auf ungefähr 20 Meilen reduzierte. Wir überflogen Ruinen von den großen Zivilisationen der Vergangenheit, deren Name lange vom Wind der Geschichte verweht worden ist, Gruppen von Beduinen, den Fürsten der offenen Wüste, die die Erdhütten von eremitisch lebenden Parhakali ausraubten um zu überleben, kleine und große Karawanen, die sich gemächlich, aber entschlossen Richtung Norden oder Süden bewegten und Skelette unbekannter riesenhafter Monstren, die hier wohl mal gelebt haben mussten. Wir erspähten nicht eine Pflanze, ein Gewässer oder eine Besiedlung größer als ein Einhaus.
    Diese Idylle unter der staubverhangenen Abendsonne wurde plötzlich zerstört, da sich ein ohrenbetäubendes Grollen von hinten näherte. "Wieder ein Unwetter? In der Wüste?"
    Nein. Es war ein Perlmuttglatisant, bestimmt über 30 Klafter lang, das sich donnernd aus einem ausgetrockneten Flussbett erhob. Es flog über uns hingweg, verdunkelte den ockerbraunen Himmel und ließ Sand und Geröll auf uns regnen. Sein Flügelschlag riss uns mit sich und wir verloren zeitweise die Kontrolle über unser Schiff. Das zweifelsohne anmutige Tier beschrieb langsam eine Kurvenbewegung vor unseren Augen. Wir nutzten diese Gelegenheit, um die Bliede mit schweren Bleikugeln zu füllen und dem Tier eine volle Breitseite zu geben. Doch die Kugeln prallten einfach von der steinharten Haut ab, ohne dass das Wesen auch nur ansatzweise seinen Kurs korrigieren musste. Das Glatisant bäumte sich vor uns auf, kam kurz mitten in der Luft zum Stehen und blendete uns mit seiner spiegelglatten Oberfläche, sodass wir in einem Meer aus Licht verloren zu sein schienen. Sein markerschütternder Schrei hallte vom endlosen Erg unter uns wider. Es schien um uns geschehen zu sein, wäre nicht einen Moment später die Sonne endgültig hinterm Horizont verschwunden. Ein fast bemitleidenswertes Pfeifen stieß das Glatisant noch aus, bevor es mit einer ruckartigen, mit einem Flügelschlag durchgezogenen Bewegung in einer Schlucht verschwand.
    Die Reise ging noch Tage so weiter.

    "Schmerzerwinger, wie weit ist es noch?", wollte ich erschöpft wissen.
    "Bitte, nenn mich einfach nur Schmerz. Etwa zehn Meilen liegen noch vor uns."
    Endlich gab eine ausgedehnte Hügellandschaft die Sicht frei auf den Orla-See; und vor diesem zeichnete sich das dornige, gebirgsartige Konterfeit der Stadt der Städte ab: Orla,
    Sitz der Imperatorin, Hauptstadt des uralten Empires, Zentrum von Zivilisation, Kriegskunst, Philosophie, Magie und Handel. Bisweilen kannte ich nur Holzschnitte von Künstlern, die ich in meinen Büchern bewundert hatte, die allesamt diesem Anblick auch nicht im Entferntesten gerecht wurden. Orla wirkte als wären mehrere Dutzend Großstädte, die alle ihr eigenes Zentrum zu haben schienen, zu einer verschmolzen. Zwischen den einzelnen Dorfplätzen konnte ich konzentrische Kreise von Aristokratenbehausungen, den Herrenhäusern von Kaufleuten, Handwerkerwohnungen und die Katen des Plebs erkennen. Zur Mitte des Ganzen hin schienen sich die abertausenden Hütten, Wohnkasernen und Verwaltungsgebäude zu einem Berg aufzutürmen, der in die verschiedenen Architekturepochen der gesamten Menschheitsgeschichte gegliedert war. Die Metropole mit ihren verstreuten Hochöfen, Manufakturen, Sägewerken und Baustellen produzierte ihr eigenes Klima und dichter, das Licht verzerrender Nebel stieg aus den weniger schön anzusehenen Distrikten auf. Die Tempel von drei Göttinnen reckten sich, jeder in seinem eigenen pompösen Baustil gestaltet, in weit voneinander entfernten Stadtteilen dem Himmel entgegen. Das alles stieß beim absoluten Mittelpunkt Orlas, dem Kristallpalast, endgültig an die Wolkendecke. Der Palast, so hatte ich gelesen und so konnte ich es jetzt auch mit meinen eigenen Augen bestaunen, bestand aus unzähligen Edelsteinen und Kristallen, manche so groß wie Monolithen, die aus ehemals unterworfenen Vasallenstaaten geraubt und hier verbaut worden waren. Der monumentale, doch filigrane Turm reflektierte alle Farben des Regenbogens. Wir legten zur Landung an.

    Die Musik der Stadt: Pfeilschen, Predigen, Leibeigene, die mehr Essen einforderten, Spielmänner, Philosophen, Marktschreier, Schausteller, verkrüppelte Bettler, die sich überboten, die Aufmerksamkeit der vorbeiziehenden Flaneure zu erheischen. Helle Aufregung herrschte in der Stadt der Millennia, bevor mein erster Fuß auf die heilige Erde traf. Das alles verstummte, mit einer kurzen Verögerung, aber dafür absolut. Besitzlose, Sklaven, Handwerker, Kaufleute und Patrizier, Menschen und Parhakali gleichermaßen wandten sich alle zu mir. Und legten allesamt ihre Hände auf die dazugehörige Schulter, als sie meine Narbe erspähten.
    "Was bedeutet das, Dreitausendsieben?"
    "Was wohl? Du bist die Auserwählte.", entwich es ihm beiläufig, während wir durch den Pfad schritten, der sich in der Menge gebildet hatte.
    Tatsächlich führte unser Weg direkt Richtung Palast der Imperatorin, über dem die Flagge des armlosen Engels mit einem Flügel und dem Säbel, jene Flagge mit dem tiefen, die Augen verletzenden imperialen Blau, im schwachen Wind des Mittags wogte.
    Darunter stand in großen Lettern, in uraltem Ihib die Staatsdoktrin:
    "Herz und Schwert sind zur Frau geworden."
    Es war alles sehr ehrfurchteinflößend.

    Die perspektivisch verwirrenden Hallen im Inneren wurden nur erhellt durch schmale Fenster hoch oben an der Decke und den Reflektionen in den Kristallen, aus denen die Wände bestanden. Das Innere hatte seine eigene 'Musik', die durch den Widerhall unserer Schritte und meiner aufgeregten, flachen Atmung an unterschiedlichen nicht-rechtwinkligen Wänden erzeugt wurde.
    Aus einem Seitengang kam ein Mann auf uns zu. Seine Haare und sein linkes Auge waren schneeweiß und sein rechter Arm war nur ein Stumpf, den er mit seinem Umhang stützte, der wie eine Schlaufe vor seiner Brust hing.
    Er fixierte meine Augen, sank auf ein Knie und hielt meine Hand:
    "Harapsheki, endlich.
    Ich bin Gaiserik, der Regent der Imperatorin. Wir haben viel zu besprechen."
    Instinktiv fragte ich mich, wieviele Auserwählte hier wohl am Tag ankommen mögen.

    Er führte mich und meinen Begleiter in eine Kammer mit einem großen Tisch in der Mitte. Ein gößeres Fenster spendete etwas Licht. Auf dem Tisch, inmitten des zarten Lichtkegels, befand sich ein Klumpen Sularmyt-Erz. Hinter dem Tisch stand ein muskelbepackter, maskierter Thaumaturg, dessen Hände bagannen, das Erz zu beschwören. In die zaghaften Gesten des Magiers stimmte bald sein gesamter nackter Oberkörper ein bis er jeden einzelnen Muskel anspannen musste und verkrampfte. Die Adern auf seinen Händen und Armen pulsierten und Schultern und Brust begannen zu zittern, als seine Hände um das Metall kreisten. Zwei weitere Zauberer eilten aus anderen Zimmern herbei, um ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Die Beschwörungsgesten wurden anscheinend immer anstrengender und die kreisenden Bewegungen ihrer Hände immer ausladender.
    Dann passierte es: der Klumpen Erz auf dem Tisch schwoll langsam an bis er die dreifache Größe erreicht hatte. Die Thamaturge sanken erschöpf zusammen.
    "Die Masse dieses Klumpens wurde verdreifacht.
    Das können wir jetzt mit allen Stoffen machen.", verkündete Gaiserik triumphierend. "Folgt mir." Dreitausendsieben nickte wissend. Ich zitterte am ganzen Körper, ob des unheimlichen Schauspiels, dem ich gerade beiwohnen durfte.

    Nachdem wir einen endlosen Korridor, der sich endlos nach oben zu winden schien, gefolgt waren, erreichten wir den riesigen Thronsaal. Zwei zwanzig Fuß hohe, eherne Türen gaben die Sicht frei auf Imperatorin Erigun aus dem Geschlecht des Violetten Blutes. Die Weltenherrscherin lagerte wie eine Spinne umgeben von einem Netz; ihr gewaltiges Kleid, ein Mantel, ein Schleier, unendlich lang, verdeckte die hohen Fenster und hing selbst von der Decke.
    "Wendet Euren Blick ab, Harapsheki. Zum Boden. Seht ihr der Gebietrin ins Gesicht, muss ich Euch auf der Stelle töten."
    Ich tat, wie mir Gaizerik befahl. Nur ihre Hände mit den unnatürlich langen schwarzen Fingernägeln konnte ich noch sehen, die auf den Armlehnen eines Thrones ruhten, der sich wohl unter ihrem raumfüllenden Kleid befunden haben musste.
    Die zerbrechliche Stimme einer jungen Frau flüsterte vom Thron herab und erfüllte durch den verstärkenden Widerhall des Saals den ganzen Raum:
    "Es wird Krieg geben.
    Ich sehe es überall.
    Das Eine dringt in meine Träume ein und erzählt mir von meinem Sieg.
    Die Sternbilder am Nachthimmel zeigen die Sagen des Triumphs des Empires.
    Die Gabe des Vervielfältigungszaubers ist ein Beweis dafür, dass auch die Göttinnen auf meiner Seite sind.
    Ihr, Harapsheki, seid als Inkarnation meines Willens geboren; ein Schnittpunkt der Kräfte der Welt. Ihr sollt mir einen neuen Hexenturm bauen im Land Eurer Peiniger, meiner Feinde.
    Der größte Hexenturm, der je in Auftrag gegeben worden ist.
    Unterwerft die Gilden und Sekten des Südens in meinem Namen und bringt sie zurück in den Schoß des Imperiums."
    Dreitausendsieben drehte sich in meine Richtung und nickte einmal mit dem Kopf.
    Erigun machte eine absinkende Geste mit der Hand und Dreitausendsieben zerfiel vor meinen Augen zu Staub und wurde langsam von einem zarten Luftzug verweht.

    Gaizerik und ich verließen den Saal. Er folgte ihm den ganzen Weg hinunter in den Kerker des Gebäudes.
    "Erigun.", gab er zu verstehen und wedelte mit dem Bauplan für den Turm und einer Rolle für den Vervielfältigungszauber in der Luft. "Sie ist nur eine Marionette. Ich bin seit langem der Verwalter des Empires. Ihr werdet den Turm bauen, aber in meinem Namen. Mit diesem Turm haben wir genug Macht in unserer Hand, um unser eigenes Land zu führen. Dieser Hexenturm ist eine Struktur, um strategische Ziele zu erzwingen. Er ist ein Verstärker für die Fähigkeiten unserer Thaumaturgs. Mit ihm kann man die Toten wiedererwecken, einen Drachen herbeirufen, die ewige Nacht ausrufen, wie es einst im Nachtwald im Süden geschah, oder Phantome anlocken, um in einem Gebiet Chaos und Schrecken zu verbreiten."
    Ich willigte ein und wir machten uns zusammen mit den Zauberern auf den Rückweg in die Gefilde der Föderation, indem wir ein weiteres Luftschiff mieteten. Da ich diesmal in Begleitung war, sah ich davon ab Söldner zu engagieren.

    Die Heimreise verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle.
    Irgendwo nahe der Grenze zwischen Ganra und Belado, in den äußersten nordöstlichen Vasallenstaaten der Föderation, tötete Gaizerik den Fährmann unseres Luftschiffs und leitete einen kontrollierten Absturz in die Baumwipfel der Wälder ein.
    "Hier wird unser unabhängiges Reich entstehen."
    Ein Schauer erfasste mein Herz, doch redete ich mir mein neues Schicksal schön und begann mir vorzustellen, wie mein weiterer Lebensweg aussehen könnte. Schon immer war meine Neugier stärker, als mein Vermögen Angst vor dem Tod zu haben.
    "Mit den Magiern an unserer Seite, durch die wir nun eine unversiegbare Quelle für Ressourcen haben und den Bauplänen in unserer Hand, können wir die Föderation unterwerfen und mit den vereinten Söldnerheeren schließlich das Empire zu Fall bringen.
    Die Imperatorin ist eine Betrügerin. Sie hat meine Familie, die Linie Barundos, um den Thron gebracht.", weihte mich Gaizerik ein.
    Wir begannen sogleich, die Haine mit Sprengstoff zu ebnen, um Platz für ein Lager und den Turm zu haben. Doch etwas stimmte nicht: die Thaumaturge waren irgendwann verschwunden. Eine böse Vorahnung überkam mich, also zog ich mein Breitschwert.
    "He, Gaizerik, pass auf!"
    Zwischen uns detonierte plötzlich eine der Petarden und aufgewirbeltes Erdreich verschleierte unsere Sicht. Einer der Magier betrat die Staubglocke, die sich um mich herum gebildet hatte. Ich stach sogleich zu, als wolle ich ihn filetieren. Er nutzte schwache Levitation, um die Klinge komplett zu verbiegen. Ich benötigte also etwas Schnelleres, etwas auf das er nicht so schnell mit einem Zauber würde reagieren können. Ich ließ mich nach hinten in ein Gebüsch hinter der Wand aus Staub fallen, während ich die Maske von seinem Gesicht riss. Schnell bekam ich meine Donnerbüchse in die Hand, füllte Lauf und Pfanne mit Zündkraut, nahm eine große Hand voll mittelgroßer Steine und füllte sie in den Trichter, drückte die Ladung mit dem Ladestock fest, schloss die Batterie und zog den Hahn zurück. Ich nutzte die Konfusion des demaskierten, durch makabere wulstige Narben im Gesicht entstellten Zauberers, um zu Zielen. Es knallte und der Kopf meines Gegners explodierte; sein Gehirn folgte dem Schädel, der zu Boden sank, wie der Schweif einem Kometen.
    Der Staub legte sich langsam.
    Erstaunt stellte ich fest, dass trotz seines fehlenden Armes Gaizerik bereits die anderen beiden Thaumaturgs niedergestreckt hatte.
    Er stöhnte atemlos: "Harapsheki, es sieht so aus, als bräuchten wir für unsere Pläne neue Baumeister."

    So schlug ich mein Lager auf, hier wo sich die Hochstraßen zu den Universitätsstätten kreuzen, um Adepten anzuwerben, die es Leid sind, in den Kriegen der großen Reiche verheizt zu werden. Wir sollten gemeinsam ein neues Reich aufbauen und eine neue Welt ohne diese uralten verblendeten Fanatiker erschaffen.
    Seid Ihr bereit, fähig und besitzt Ihr genug Fantasie, um diese neue Welt entstehen zu lassen?
    Was meint Ihr?

  2. #2
    Fuck, meine Antwort ist verschwunden .. nach fast 20 Jahren in diesem Forum passiert es mir IMMER NOCH!

    Kurzforum: Toller, atmosphärischer Text mit kreativen Ideen & Details! Während Menschenfresserkultur und Empire (Imperium?) ein gewisses "Zusammenhangsgefühl" erreichen, wirkt die Reisebeschreibung dazwischen ein wenig random, nicht wie eine wirklich runde Welt. Generell ist der Text ein wenig hemmungslos, aber du kriegst diesen Stil auch echt gut hin; er fordert nur eben einiges von den Lesenden.

    Verdient imho einen eigenen Thread! Soll ich einen draus machen?
    Und gehört es zu einem größeren Werk oder wolltest du nur mit World Building "herumspielen"?

    !

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