Ich denke, diese Frage kann ich selbst im Rahmen der folgenden Wall of Text ... nicht endgültig klären.
Mich würde aber daher auch deine Meinung des Gesamtbildes interessieren, bevor du PT spielst.
Zitat von Fortschritt!
○ Nur die Kartoffeln
2 West-RPGs über 15 Stunden durchspielen! (1 von 2) Torment: Tides of Numenera, ???
...
Oh boy.
Torment: Tides of Numenera
Zuallererst möchte ich sagen, dass TToN ein mutiges Projekt ist, das sich hehre Ziele setzt, diese zu einem großen Teil durchdacht angeht und sie auch in einem überraschenden Maße erreicht. Wäre es "nur irgendein West-RPG", ohne diesen altehrwürdigen Namen, wäre es nicht nur eine beeindruckende Errungenschaft, sondern auch frisch, lebendig und abermals sehr mutig. Und das ist es auch so. Eingängig, emotional und ziemlich rund, einfach ein richtig gutes Gesamterlebnis. Würde ich subjektive Wertungen geben, wäre es so ganz typischer Fall für 4/5.
Nun kommt aber der Kontext dazu: Planescape Torment existiert, ist eines der besten West-RPGs ever (subjektiv für mich sogar DAS beste) und TToN möchte sein "thematischer Nachfolger" sein. Und das ist auch keine billige Werbemasche, sondern absolut eindeutig für jeden, der PT gespielt hat, weil sich wirklich alles an diesem Spiel nach Torment anfühlt – Ich wusste davor nicht mal, dass "Torment" ein dermaßen charakteristisches Gefühl abgibt. Der Name ist also völlig gerechtfertigt, und die Entscheidung, keinen "richtigen" Nachfolger zu entwickeln, sondern die Essenz des Originals einzufangen, war zweifelsohne die klügste, die man hätte treffen können. Inwiefern das dann geklappt hat, darauf werde ich noch im Detail eingehen. Allerdings hat diese Entscheidung so oder so die Konsequenz, dass TToN förmlich danach schreit, verglichen zu werden, bis hin zu den einzelnen Bestandteilen. Für mich würde es überhaupt nicht anders gehen, und genauso gehe ich dementsprechend an diesen Text heran.
Ob das jetzt gut für das Spiel ist, kA. Ob es ohne PT überhaupt hätte existieren können, mit Sicherheit nicht! Ob man PT vor TToN oder danach spielen sollte, hm.
Schauen wir mal.
Das Setting: Die neunte Welt
Ich gehe die neunte Welt mal von drei Perspektiven aus an: Als (Pen & Paper-)Setting, im Vergleich mit Planescape und spezifisch als Setting für dieses Videospiel.
Ich habe das Numenera-Grundregelwerk im Rahmen des alten Kickstarters anno 2013 bekommen, weil mich die Präsentation und auch die Prämisse – High Science-Fantasy auf der Basis uralter technischer Zivilisationen – fasziniert haben. Und ohne jetzt allzu tief ins Detail zu gehen, tatsächlich konnten beide Aspekte meine Erwartungen nicht erfüllen. Das fertige Buch deutet zwar eine eigene Design-Identität an, in einigen Farbillus (siehe Cover oben!), enthält aber auch noch dreizehn andere Stile, die da überhaupt nicht mit reinpassen. Dieser Kritikpunkt ist dann in der zweiten Edition deutlich besser geworden. Die Prämisse lief und läuft am Ende des Tages aber leider noch immer darauf hinaus, dass einfach ALLES möglich ist, was man so aus der Fantasy kennt, nur eben mit Sci-Fi-Anstrich. Im Rollenspielbereich nennen wir das gerne mal "Kitchen Sink" – Man kann reinwerfen, was man will, aber am Ende ist es halt ein Becken voll dreckigem Geschirr. Das heißt natürlich nicht, dass das Ganze schlecht ist; die Inhalte selbst, also das "Geschirr", waren teilweise ziemlich cool und einfallsreich, Monte Cook als Designer weiß, was er tut, und tatsächlich sind viele der bekanntesten Rollenspielsettings irgendwo Kitchen Sink, bspw. auch die Forgotten Realms. Aber faszinieren konnte es mich so eben nicht.
Ganz im Gegensatz zu Planescape.
Warum gibt es eigentlich kaum vernünftige Bilder der alten Box?
Planescape ist definitiv auch Kitchen Sink, keine Frage (das ist sogar die Grundidee der endlosen Ebenen!), aber das Team hat es damals ganz hervorragend geschafft, dem Spiel trotz allem eine Identität zu verleihen: Von einem einheitlichen Illustrationsstil über die Stadt Sigil als UR-charakteristischen Mittelpunkt der Welt bis hin zum Gesinnungssystem von D&D, das verwendet wurde, um nicht nur eine ideelle, sondern auch noch eine "geografisch" und politisch in sich geschlossene Welt aufzubauen (vgl. das Rad der Ebenen oder die Factions). Hat die immer Sinn gemacht? Nö. Hatte sie Sachen, die überhaupt nicht reingepasst haben? Holy fuck, eine MENGE. Aber durch diesen wahnsinnig stabilen Kern wird das Chaos der Ebenen zu einem Teil des Ganzen, und das Setting damit eingängig und liebenswürdig.
Aber halt ... Das ist nicht alles! Wer Bock hat, kann sich ja mal die Sektion "Development" im Wiki-Artikel von Planescape Torment angucken. Im Internet kann man sogar noch das alte Konzeptdokument des Videospiels finden. Die Designer haben nämlich nicht nur das (sowieso schon absolut großartige) D&D-Setting genommen und ihr Spiel "draufgeklatscht".
1.) Sie haben geguckt, welche inhaltlichen Themen wirklich tiefgehend zu diesem Setting passen. "Torment" (Leid, Pein, Qualen) ist ja nicht nur ein cooles Wort, Torment entsteht durch die ideellen Kämpfe zwischen Gut und Böse, zwischen Chaos und Rechtschaffenheit, inmitten der Entscheidungen, die der Namenlose in seinen vielen Leben getroffen hat, wie er mit den zahllosen Ebenen und den Factions von Sigil interagiert hat. "Regret can change the nature of a man" (um Ravel Puzzlewell zu zitieren), und wenn nicht Regret, dann irgendetwas anderes, was der Spieler (!) gewählt (!) hat, und wenn das nicht der moralische Kern des West-RPG-Genres als GANZEM sein könnte, weiß ich auch nicht mehr, ob wir nicht doch einfach nur Ratten und Wilde erschlagen.
2.) Sie haben das Setting mehr oder weniger subtil angepasst, das sowieso schon runde Konzept noch weiter verfeinert, viel von dem weggeschliffen, was ich oben meinte: "Sachen, die nicht reingepasst haben"! Das Planescape von PT ist zwar im Kern noch das Pen-and-Paper-Setting, aber laser focussed auf Torment eingeschossen. Die Geschichte des Namenlosen kann eine Menge mit Dämonen anfangen, denn die stehen für Entscheidungen und Konsequenzen, aber es braucht keinerlei Zwerge oder Elfen. Also sind sie rausgeflogen, denn sie sind nur eine Fantasy-Konvention und haben nichts mit dem Thema zu tun.
Und nun kommen wir zu TToN. Denn was diese kleine Ausführung sollte: Sie macht für mich absolut klar, dass es TToN nicht leicht hatte. Dass "Planescape" und "Torment" eigentlich sogar konzeptuell zusammengehören!
Die gute Nachricht: Die Kitchen-Sink-Sache haben sie ziemlich gut hingekriegt. Gerade die optische Identität ist eindeutig da, die "Alles-geht!"-Mentalität hat mich deutlich weniger gestört als im P&P (was tatsächlich am Medium liegen könnte) und das Setting hat einfach Spaß gemacht. Ich würde sogar sagen, auf einer ganz oberflächlichen Ebene passt dieser Ausschnitt der Numenera-Welt zu Torment, denn sie hat die Fantasy, sie hat das Abstruse und Makabere, sie hat die Grauzonen. Und um mal die wirtschaftlichen Realitäten mit einzubringen: Wahrscheinlich war Numenera sogar die bestmögliche Wahl, denn dass WotC ihre Planescape-Lizenz nicht mehr billig aus der Hand geben, ist leider bekannt, und wenn man ein auch nur ansatzweise "abgefahrenes" Setting möchte, das auch noch ein paar Fans mitbringt, sehe ich 100%, warum die Wahl auf Numenera gefallen ist.
That being said, unter der Oberfläche ist es den Entwicklern nicht gelungen, eine Verbindung zwischen "Numenera" und "Torment" aufzubauen. Es gibt praktisch keine thematische Verbindung zwischen inhaltlichem Konzept des Spiels und dem des Settings. Was sicher auch daran liegt, dass Numenera im Gegensatz zu Planescape eben kein wirklich inhaltliches Konzept hat, sondern "nur" eine gute Idee für ein Abenteuerspiel: "Technik, die weit genug fortgeschritten ist, wirkt für uns wie Magie." Das ist vielleicht cool, aber es führt noch nicht zu einem roten Faden, den man inhaltlich mit der Torment-Essenz verbinden kann. Und im Gegensatz zu den PT-Entwicklern haben die TToN-Entwickler auch nicht wirklich daran gearbeitet, diese Verbindung zu finden! Oder sie hat für mich nicht funktioniert. Ich denke nämlich, das wäre durchaus möglich gewesen.
Hier mal eine wilde Idee, wie man es hätte angehen können, mit einigen Spoilern!
tl;dr Numenera als Setting für TToN passt schon und hat auch unter der Oberfläche Potenzial für ein Torment-Spiel, aber ich finde nicht, dass es den Entwicklern ist, dieses Potenzial auszuschöpfen. So wirklich spürbar wird das aber erst im Vergleich mit PT, weil Tides of Numenera durchaus einen inhaltlichen roten Faden hat. In Planescape Torment reicht dieser Faden aber eben bis tief ins Setting hinein, und das ist einer der Gründe, die den Klassiker so rund und damit einprägsam machen.
Die Story und was das Spiel damit macht
Ich greife mal den Punkt aus dem Spoiler auf, ohne aber nochmal groß zu spoilern: In TToN geht es um die Frage, inwiefern Entscheidungen und Handlungen zu Leid führen. Das ist ein stabiles Thema! Einmal ist es generell, einfach menschlich ein stabiles Thema (ich meine, vgl. Buddhismus? ), aber zum anderen ist es auch ein stabiles Thema für ein West-RPG mit vielen Entscheidungen und ein Torment-Spiel. Weil ... "Torment", ne? Klasse also!
Und ich muss sagen, ich finde auch die Story, die hier aufgebaut wurde, im Gesamtbild ganz großartig. Ohne zu spoilern: Sie ist episch, komplex und vielseitig, aber am Ende immer noch eine sehr persönliche Story, die sich um wenige schwierige Fragen dreht. Ich mag die zentralen Charaktere, den großen Antagonisten und die Story-Beats, die zur Auflösung führen. Und ich muss sagen: Mannomann, diese Auflösung! Hier sind wir an einem Punkt, an dem TToN das Original problemlos hinter sich lässt. PT war zwar auch ziemlich mitreißend, hat aber spürbar mehr unter seiner Entwicklung gelitten, was das Finale angeht. Tides of Numenera war mal wieder ein Spiel, das mich nicht nur sehr zufrieden, sondern auch positiv nachdenklich und optimistisch zurückgelassen hat, und das weiß ich sehr zu schätzen.
Wenn wir zur Umsetzung kommen, wird es allerdings etwas schwieriger. Ich habe drei Kritikpunkte.
1. An zukünftige Spieler: Wenn euch das Spiel am Anfang sagt, ihr sollt euer Resonance Chamber reparieren? Das ist nicht die erste große Quest von vielen oder so. Das ist die Hauptquest. Und keine Sorge, das macht am Ende auch Sinn! Aber mir ist völlig schleierhaft, wie es das Spiel schafft, die Hauptquest so darzustellen, als wären es die Ratten im Keller. Lustigerweise hatte ich bei PT ja ein ähnliches Problem, weil ich irgendwie die ganze Zeit dachte, das Spiel würde richtig losgehen, wenn ich Sigil hinter mit gelassen habe ... und Sigil ist nun mal der Großteil des Spiels.
Dazu muss man aber auch sagen: Generell funktionieren die Prioritäten und das Pacing von TToN sogar einen Tacken besser als bei PT. Es gibt zwei große Regionen und ein paar kleinere dazwischen, und nichts davon wirkt wirklich halbherzig oder hingeschludert. Es gab zwar offenbar auch einige Entwicklungsprobleme und geschnittene Inhalte (was man selten auch merkt), aber es ist nicht so krass wie im Original, wo ja wirklich ganze Abschnitte seltsam leer wirken.
2. So interessant die Hauptcharaktere der Story auch sind, sie bleiben über weite Strecken seltsam "am Rand" der Handlung. Bei einigen habe ich im Finale das erste Mal das Gefühl gehabt, sie wirklich kennenzulernen. Das liegt einmal am Pacing, zum anderen aber auch an der Technik des Spiels. Es gibt keine Charakterbilder und bei jedem Dialog ranzuzoomen ist nervig bzw. im Dialog unmöglich. In den Merecastern habe ich die NSCs meistens gar nicht wirklich erkannt, und optisch hübsch waren die jetzt auch nicht. Und letztendlich liegt es auch daran, dass die Partymitglieder mit 1-2 Ausnahmen nichts mit der Hauptstory zu tun haben. Was ... okay ist, I guess. Nur etwas seltsam nach Torment, wo wirklich alle eine persönliche Bedeutung für den Namenlosen haben.
3. Eine überraschende Qualität von PT ist, dass beinah alle Nebenquests zum Thema oder sogar zur Story beitragen. Das ganze verdammte Spiel dreht sich um den Namenlosen und die Konsequenzen seines Handelns. Das ist in TToN nicht so. Zwar sind die Nebenquests ziemlich cool und umfassen definitiv keine Bärenärsche, aber es gibt doch so einiges, das sich vorrangig nach "cooler Idee" anfühlt, das man problemlos schneiden könnte. Aber da es wirklich coole Ideen sind und das Writing diesen Umstand auch ganz gut verbirgt ... geht klar!
tl;dr Inhaltlich kann es TToN durchaus mit PT aufnehmen, und das ist eine Leistung! PT mag zwar abermals etwas konzeptueller und beizeiten besser erzählt sein, aber TToN hat in anderen Momenten die Nase vorn und ergibt ein ähnlich gutes Gesamtbild. Respekt!
Damn, meine Geduld hat ihr Ende erreicht. Liegt wahrscheinlich daran, dass das die Sachen waren, die mich wirklich bewegt haben. ^^ Hier noch etwas ... ... Stuff!
Das Writing ist gut und ich habe etwas gebraucht, um zu realisieren, dass es doch leicht schlechter als PT wegkommt, weil TToN mehr ... labert, mehr mystischen Kladderadatsch einbaut, der nicht viel Exposition oder Inhalt und stattdessen "nur" zur Atmosphäre beiträgt, während PT immer beides zur selben Zeit gemacht hat. Es macht aber trotzdem Spaß zu lesen und ist eben auch atmosphärisch as fuck! Alles andere wäre bei dieser Art Spiel aber auch ein Todesurteil. ^^
Das Gameplay außerhalb der Kämpfe ist klasse! Das Numenera-System funktioniert ziemlich gut und ich mag, dass es Konsequenzen für das Übernachten gibt, auch wenn mir das das Spiel durchaus etwas deutlicher hätte machen können. Die Tides gefallen mir als Gameplay-Mechanismus auch ziemlich gut. Insgesamt sogar deutlich besser als PT, das außerhalb der Kämpfe ja eher rudimentär war, gerade für ein Spiel, das sich zu 95% außerhalb von Kämpfen abspielt.
Das Kampf-Gameplay ist ... nicht gut. Ich hasse es, nicht zuschlagen zu können, nachdem ich mich in gutem Glauben bewegt habe, und das ist nur eine von vielen kleinen wonky Sachen, die nicht wirklich glänzen. Ich meine, es ist auch kein Weltuntergang, aber ich empfehle unbedingt, Kämpfe zu vermeiden. Aus Spaßgründen. Fairerweise: Das ist bei PT nicht viel anders, aber ich hatte das trotzdem mehr Spaß dran.
Die Charaktere sind cool. Sympathisch und gut geschrieben, und es gibt ein paar wirklich coole Arcs. (Rhin!) Ich hätte mir allerdings etwas mehr gewünscht, denn die Bindungen in PT haben sich schon irgendwie tiefer angefühlt. Der Humor ist allerdings einwandfrei.
Lustiger Punkt: Für mich hätte TToN durchaus ein Drittel kürzer sein können. Ich habe einfach ein gewisses Maß an Ermüdungserscheinungen gemeint, aber ich habe auch nicht mehr die beste Ausdauer, wie man vielleicht am Verlauf dieses Posts merkt. :<
Um nochmal ein Fazit zu ziehen: Für mich reicht TToN nicht ganz an PT heran, aber es ist tatsächlich sehr viel beeindruckender, wie nah es kommt. Es hat sich einfach mit dem stärksten Kämpfer im Ring angelegt und muss sich wirklich nicht schämen, nach ein paar guten Runden auf der Matte zu landen. Zumal der Vergleich natürlich hinkt, weil man einfach beides genießen kann, und TToN auch durchaus als Nachfolger Spaß macht.
Was man zuerst spielen sollte ... Puh. TToN ist schon in mancherlei Hinsicht moderner und ein wenig runder, aber für mich ist PT definitiv das tiefgängigere und letztlich eingängigere Spiel. Ich würde es vielleicht von der Toleranz für Bullshit abhängig machen. PT wirft den Spieler (aus heutiger Sicht) etwas härter ins kalte Wasser. TToN dürfte ohne PT aber definitiv besser wirken, weil man nicht immer zum Vergleichen angehalten wird. kA wie es andersrum funktioniert.
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