Da meine Schwester und ich einen sehr ähnlichen Geschmack in Sachen Videospiele haben und ich in der Regel (besonders in Hinblick auf die alten ROMs) meine Erwartungen oft nicht so hochschraube bzw. experimentierfreudiger bin, kommt es eher selten vor, dass sie sich für ein Spiel interessiert, das ich nicht wirklich auf dem Schirm habe. Eine dieser Ausnahmen war Lost Odyssey, das ich quasi mehr für sie als für mich gekauft habe. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, warum ich das Spiel im Vorfeld nicht besonders mochte, aber in Erwartung dessen, dass sich meine Ersteinschätzung bestätigen würde, überließ ich ihr das Feld und übernahm lediglich die Rolle des (Lösungs-)Navigators.
Um schon mal ein Fazit vorwegzunehmen: Irren ist bekanntlich menschlich.
Lost Odyssey beginnt mit einer großen Schlacht zwischen zwei verfeindeten Nationen, die für beide Parteien ein verheerendes Ende nimmt, als ein Meteor direkt auf die Kämpfenden herabstürzt. Einziger Überlebender der Katastrophe ist ein Söldner namens Kaim, der schlicht und ergreifend nicht sterben kann und als einer der wenigen Unsterblichen bereits seit 1000 Jahren auf Erden weilt – und zudem an Gedächtnisverlust leidet. Zusammen mit einer weiteren Unsterblichen, die ebenfalls die Erinnerung an einen Teil ihrer Vergangenheit verloren hat, und einem zauberkundigen Lebemann wird er von Gongora, einem Ratsangehörigen der Republik Uhra, auf eine Mission geschickt, die den Frieden des Landes sichern soll. Doch schon nach kurzer Zeit wird offensichtlich, dass Gongora genau dies nicht im Sinn hat, sondern stattdessen nach weit Höherem strebt… (Und nein, das ist nicht wirklich ‘n Spoiler.)
Anfangs war ich – wie bereits erwähnt – nicht sonderlich von Lost Odyssey angetan. Meine negativen Erwartungen schienen sich in den ersten Spielstunden auch prompt zu erfüllen:
- Die Graphik der Charaktere war mir einerseits zu realistisch, andererseits zu... steril (Seths Haare, die Gesichter der meisten Leute z.B. Roxian, Jansen...). Klamottentechnisch gesehen machte es den Anschein als hätten die Designer besonders bei den Partymitgliedern die Begriffe optisch umgesetzt, die ihnen als erstes in den Sinn gekommen waren, was zu teils eigenwilligen Kreationen führte (Ming = Strapse, Max (‚Freizeitkleidung‘) = Schürze, Kuke = Geschenkverpackung, Tolten = Juweliergeschäft).
- Mit den Träumen fand ein Element den Weg ins Spiel, das an und für sich recht interessant war, einen in der Praxis allerdings öfter aus der Handlung riss – vor allen Dingen, wenn sie hintereinander gestaffelt kamen. Darüber hinaus waren sie bis auf wenige Ausnahmen fast alle erschreckend deprimierend und niederschmetternd.
- Bei einigen Leuten wurde die Liebe der Japaner fürs Posen bis aufs Blut ausgereizt. Speziell Götterbote Hermes… sorry, General Kakanas wedelte in einer Tour dermaßen viel mit den Händen herum, dass man den Eindruck bekam, er müsse sich gegen ganze Geschwader von Mücken erwehren.
- Mitunter hatte die Lautstärke einen Haschmich, da das Verhältnis zwischen Szenen (sehr leise) und Kämpfen (ziemlich laut) dann und wann recht unausgegoren war.
- Gerade zu Beginn fiel der Schwierigkeitsgrad ziemlich happig aus. Garniert mit der Entscheidung der Entwickler das Grinden quasi zu verbieten, kam hier und da stellenweise gehörig Frust auf (Bosskampf und nachfolgende Szenen rund um den Großen Stab, Gegner im Karmesinwald…). Denn anders als in den meisten Spielen, in denen der Spieler selbst dafür verantwortlich ist, ob er ausreichend trainiert ist oder nicht, schiebt Lost Odyssey dem Leveln von sich aus einen Riegel vor. Später fällt dies nicht mehr so ins Gewicht, weil es ein paar Ausnahmen von der Regel gibt, aber dass paradoxerweise ausgerechnet die Einstiegsphase in das Spiel unnötig erschwert wird, weil irgendwann jeder Gegner nur noch 1 EXP rausrückt, ist irgendwo schon selten dämlich und unlogisch.
In diesem Zusammenhang waren wir auch von einer Stelle extrem genervt, in der sich ein (gezwungenermaßen) niedriges Level mit unglücklichem Spieldesign und (zugegebenermaßen) gehörigem Pech die Hand reichte: Erstens war der Bosskampf beim Großen Stab alles andere als leicht, zweitens verpassten wir die Heilmöglichkeit danach, weil ein unsichtbarer Zähler ablief, drittens folgte darauf ein weiterer haariger Kampf, viertens liefen danach mehrere Szenen ab, fünftens befand sich der nächste Speicherpunkt dermaßen dicht an der Tür zum nächsten Raum, dass wir statt zu speichern diese öffneten und uns prompt die Rückkehr in den vorigen Raum untersagt wurde. Da es zu diesem Zeitpunkt im wahren Leben schon ziemlich spät geworden war, mussten wir – aus Mangel an einer Speichermöglichkeit – die Konsole ausmachen und ein andermal neu starten – was die Kämpfe davor natürlich keinesfalls einfacher machte…
Dankenswerterweise nahm das Spiel ab der 2. CD merklich an Fahrt auf: Die Handlung verdichtete sich, die Gegner gaben mehr bzw. länger EXP, Nebenaufgaben begannen sich zu häufen etc. etc. Zwar gab es noch einige knifflige Passagen (z.B. die beiden Bosskämpfe, in denen Max die Hauptarbeit leisten musste, weil der Rest der Party nur aus Magiern bestand), aber irgendwie wurde auf einen Schlag der Schwierigkeitsgrad der Kämpfe moderater und das Drumherum bedeutend ansprechender.
Was uns hauptsächlich das ganze Spiel über bei der Stange hielt, war in erster Linie die Story, denn wir wollten natürlich schon wissen, warum die Unsterblichen unter Amnesie litten und was genau Gongora eigentlich bezweckte.
Auch Jansens doofe Sprüche trafen eigentlich immer unseren Sinn für Humor und gerade seine Plänkeleien mit Seth lockerten die mitunter düstere Stimmung merklich auf. Wobei man dazu sagen muss, dass wir nach kurzer Eingewöhnungsphase alle unsere Partymitglieder mochten (speziell Sed), auch wenn Goldlöckchen aka Tolten ‘ne ganze Weile brauchte, um sich von seinem Luschenimage zu lösen.
Punkten konnte Lost Odyssey besonders in folgender Hinsicht:
- Komplettheilung der HP und MP, sobald man die Weltkarte betrat oder kurz das Spiel neu startete (was auf der Xbox eine Sache von Sekunden ist)
- ein Skillsystem, das zwar mitunter ein wenig zeitaufwändig war, aber den Unsterblichen erlaubte alle verfügbaren Fähigkeiten von Accessoires und den Normalsterblichen in der Party zu erlernen
- interessante und z.T. skurrile Ideen in Sachen Dungeongestaltung (Stichwort Tempel der Erleuchtung)
- die Nautilus (Mehrzweckfortbewegungsmittel sind einfach nur praktisch)
- jede Menge Sidequests, Nebenaufgaben, optionale Orte und Bosse
Explizit der letzte Fakt hat uns mehr als positiv überrascht, denn nach den Startschwierigkeiten war das genau das, was uns den weiteren Spielverlauf extrem versüßt hat. Aufgrund der unterschiedlichen Aufgabenbereiche war ein gewisses Maß an Abwechslung geboten und auch wenn manche Aufträge einiges an Backtracking beinhaltete, wurde es selten nervtötend und demotivierend. Und die Belohnungen konnten sich so manches Mal wirklich sehen lassen – schlussendlich war unsere Party (speziell natürlich die Unsterblichen) so gut ausgerüstet und gewappnet, dass der dreiteilige Endbosskampf mühelos abgefertigt werden konnte (meiner Schwester war er sogar ZU leicht, aber lieber das als zu schwer).
Zusammenfassend kann man sagen, dass es Lost Odyssey dem Spieler anfangs wirklich nicht leicht macht dem Titel Sympathie entgegenzubringen. Hat man allerdings erst mal die erste CD hinter sich gebracht, offenbart sich nach und nach das wahre Potenzial des Spiels und man wird mit einer interessanten Story, einem an und für sich flotten Kampfsystem, guter Musik und einem Füllhorn an optionalem Kram schier überschüttet.
Wer sich noch nicht rangetraut hat, sollte es mal auf einen Versuch ankommen lassen. Ich bin jedenfalls froh, dass mich meine Schwester in dem Fall überstimmt hat.![]()