Dieser Ort war viel zu unwirklich. Man könnte direkt dazu verleitet werden, wieder an einen Gott zu glauben. Sacht wog Léo die kleine Bibel in ihren Händen, als wäre es das Kostbarste auf der Welt.
Die Famile i Forteza...das klang nach einer sehr alten, spanischen Familie, die irgendwann zur Kolonialzeit rübergeschwappt sein musste. Die meisten Mexikaner tragen doppelte Familiennamen, von Mutter und Vater und die Halbmexikanerin würde eigentlich Arellano-Greensworth heißen, hätten nicht beide Eltern gefunden, dass das einfach oberbeschissen klang. Wenn man sich in México einen Namen wie i Forteza so erhielt, dann war da Geschichte dahinter. Eine Geschichte, von der nur noch dieses kleine Büchlein und die sterblichen Überreste der vielleicht letzten i Fortezas zeugte.
Der letzte Spruch schien wie eine direkte Antwort auf ihr Gespräch mit El Padre. Er würde sie nicht bestrafen, wenn sie es mitnahm. Vielleicht wollte er sogar, dass sie es bei sich trägt.
Bedächtig strich sie ein letztes Mal über den sensiblen Einband, ehe sie sich das Buch vorsichtig in die Hosentasche steckte.
Sie erhob sich und ging zu Álvaro, um wie angekündigt den Gardinenvorhang zu holen.
"Siehst Du, ich war vorsichtig und gegen eine Bibel kannst Du nichts sagen...", meinte sie mit gesenkter Stimme zu ihm.
Schweigen.
"Bist Du jetzt wirklich eingeschnappt?"
Keine Antwort.
"Von mir aus, das hälst Du eh nicht lange aus..."
Mit wenigen Schritten war sie wieder bei der Familie und legte den Vorhang um sie, als ob sie sich darin wie eine Decke eingewickelt hätten gegen die Kälte.
Sanft friemelte sie ein paar verfangene Blätter und Samen aus den Haaren. Einige wegweisende Blüten wurde um die drei verstreut, dann bekreuzigte sich Léo ein letztes Mal und band den nun beinahe blütenfreien Jutebeutel wieder an ihren Affenkumpel, der immer noch stur schwieg.
Ein widerwärtiger Geruch stieg der Latina in die Nase, den selbst die Blumen der Kirche nur schwer übertünchen konnte. Ohne die Masse an Blüten stinkte ihr Papa ungeniert vor sich hin. Aber damit würde sich Léo später auseinandersetzen.
"Eigentlich will ich hier nicht mehr weg. Es ist so...schön. "
Nichts.
Langsam wurde sie nervös.
"Jetzt komm schon, Álvaro, das ist langsam nicht mehr witzig."
Mit einer fließenden Bewegung wurde er aufgeschultert. In wenigen Schritten war Léo wieder bei der Pforte, blickte nochmal zurück und war sich sicher, nie wieder so etwas Friedliches zu finden. Dann trat sie hinaus und verschloß den Ort wieder vor der Welt.
Der Unterschied war radikal.
Die Ruhe und Wärme flossen aus ihr heraus wie Wasser aus einer undichten Flasche. Das Kleid auf ihren Schultern wanderte in den nächstgelegenen Busch und schnell machte sie sich daran, ihre Haare wieder zu befreien.
"Bitte sag jetzt endlich was..."
Die Stille, die ihr entgegengebracht wurde, hatte fast schon schneidenden Charakter. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ein imaginärer Kloß bildete sich in ihrem Hals, der Atem ging schneller.
Schnell setzte sie sich in Bewegung, in der Hoffnung, das würde etwas helfen.
"Álvaro, bitte..."
Ohne es zu merken war sie am Laden, in dem Haile sich befand, vorbeigelaufen. Immer wieder sah sie über die Schulter auf den haarigen Kopf ihres Plüschtieres, dass sich nicht mehr bei ihr meldete.
"Tu mir das nicht an, Du wolltest immer bei mir bleiben...“
Ihre Beine bewegten sich immer schneller, fast schon rennend durchquerte sie die Nueva St. .
Als sie wieder beim Hotel ankam, schien es, als ob sie um ihr Leben gerannt wäre. Sie hielt sich die schmerzende Brust, schwitzte, schnappte nach Luft. Ihr wurde heiß und kalt. Völlig am Ende ließ sie sich an der Wand entlang zu Boden fallen und hielt die Arme fest um sich umschlungen, um das Zittern zu unterdrücken.
"Álvaro...“
Er hatte sie wirklich verlassen.