„Du guckst so.“, sherlockhomest Thomas vor sich hin und sieht mich an. Wir sitzen in einer Viererreihe in der S-Bahn Richtung Reeperbahn, neben mir Kylie, mir gegenüber Orla und Thomas. Es riecht hier wie in allen Bahnen am Wochenende nach einem Mix aus Nikotin, Bier und Kaugummi, alles mit einem Hauch schlechtem Aftershave und billigem Tussi-Perfüm in jeweils zwanzig verschiedenen Ausführungen. 50 oder mehr Leute haben sich hier reingequetscht, allesamt mit Colaflaschen in der Hand, in denen ganz bestimmt nicht Cola drin ist. Eher Cola mit Korn/Whiskey/Havanna Club/Captain Morgan. Wir haben's genauso gemacht, so fällt den Sicherheitsleuten nicht sofort auf, dass wir in der S-Bahn saufen. Ich sitz am Fenster und schau aus selbigem heraus, obwohl es da nix zu sehen gibt außer vorbei schnellenden Tunnelwänden und ab und an einem scheiße hässlichen Bahnhof nach dem anderem, wo der Zug kurz anhält. Dann steigen noch mehr Asis ein, die heute abend saufen und/oder vögeln wollen, dann wieder Tunnel, dann Bahnhof, dann Asis, dann Tunnel und so weiter. Ich antworte nicht auf Thomas' Frage, sondern nicke nur einmal kurz. Das signalisiert ihm zumindest, dass ich ihn gehört habe. Als wir drei oder vier Haltestellen vor der Reeperbahn sind, sage ich dann endlich: „Wie gucke ich denn?“
Thomas ist überrascht ob der verspäteten Reaktion meinerseits und bricht ein Gespräch mit Orla über die Schanze und wie „scheiße hippiemäßig“ die geworden wäre ab, um mich anzusehen und mich selten dämlich anzusehen. Dann hellt sich der Blick auf und er sagt: „Naja, so geistesabwesend. Sonst schaust du immer so mürrisch drein, heute siehst du fast aus, als hättest du Spaß.“
„Spaß hab ich auch beim wichsen.“
„Guckste dabei auch so mürrisch?“
„Klar. Ich hab ja Scheißlaune wenn ich wichse.“
„Aber Spaß dabei?“
„Jo.“
„Das ist 'n bisschen paradox, find'ste nicht auch?“
„Jo.“
„Was läuft da eigentlich zwischen dir und der Rothaarigen – ach wie hieß sie?“
„Lilly.“
„Genau.“
„Kein Plan, wir haben nur gebumst. Mal sehen, was d'raus wird. Wahrscheinlich gar nix wie immer.“
Thomas schaut mich bedröppelt an und nimmt einen tiefen Schluck von der Cola/Whiskey-Mische. Er reicht mir die Flasche rüber, ich nehme ebenfalls einen Schluck. Das reicht ihm dann wohl als Antwort, schätze ich. Denn jetzt sagt er gar nix mehr. In der Bahn nix, auf dem Weg nach draußen nix, vor der 36 nix. Er hängt dafür an seinem Smartphone (wie ich die Teile hasse...) und wartet darauf, dass ihm Charly sagt wo sie hingegangen sind.
„36 meinten die doch, ne?“, sagt Orla. Sie wird nervig, das heißt, dass sie nüchtern wird. Nicht gut.
„Jo, hatten sie gesagt gehabt.“, antwortet Thomas. Kylie lacht kurz auf und raucht weiter ihren dritten Joint heute.
„Nich' wild, ruf sie ansonsten mal an, ob...“, fange ich an vorzuschlagen. Dann kommen die beiden Grazien schon aus dem Club heraus und winken uns zu.
„Huhu!“, sagt Charly. Lilly dagegen bleibt stumm und winkt nur einmal kurz mir zu, um dann den Blick abzuwenden. Sie sieht stark geknickt aus. Ist das wegen der Sache letzte woche? Ich meine: Es war nur ein Fick und ich bin gegangen. Business as usual. Scheiß Business zwar, aber nix weltbewegendes. Gut, jetzt so vor ihr zu stehen, sie etwas zaghaft zu umarmen, nachdem man sie letzte Woche gebumst hat als gäbe es kein Morgen mehr – das ist ein merkwürdiges Gefühl. Und ein beschissenes gleich dazu. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich nie ein guter Typ für One-Night-Stands war. Ich steigere mich immer zu schnell in Sachen hinein und bau Scheiße, wenn ich schon mal dabei bin. Und es tut mir erst leid, wenn es viel zu spät ist. Shit, ich denke an so 'nen Scheiß, wo ich eigentlich besoffen und glücklich sein sollte. Aber ich bin besoffen, ein bisschen glücklich und irgendwie überwiegend... ich weiß nicht. Ich schäme mich, so kann man's glaube ich ausdrücken.

Zaghafte Umarmung Nummer 2 für Charly, die mir „Wie war's?“ ins Ohr flüstert. Ich nicke nur und setze ein halbwegs verschmitztes Grinsen auf, das sie mit einem ebenso verschmitzten Grinsen erwidert – nur dass sie dabei hübscher aussieht als ich, was für eine Frau ihres Kalibers keine Anstrengung ist. Sie ist nicht modelhübsch, einfach nur gutaussehend. Niedlich. Und ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Lilly ist dagegen im Moment alles andere als redselig. Sie steht da, die roten Haare nach hinten zum Zopf gebunden, eine schwarze, enganliegende Lederjacke, einen schwarzes Minirock und dunkle Strumpfhosen an (weil es doch relativ arschkalt ist draußen), an den Füßen ein Paar hochhackiger Stilettos. Sie sieht verdammt scharf aus. Und ihr trauriger Gesichtsausdruck macht mich perverserweise noch schärfer auf sie.
Ich bin eine schreckliche Person.

Wir gehen also rein. Lilly und Charly zeigen dem Türsteher die Stempelabdrücke auf ihren Handrücken und dürfen passieren, der Rest muss zahlen. Da 2-für-1-Party ist – das heißt, man bezahlt für ein Getränk, aber bekommt zwei dafür, was auch für den Eintritt gilt – zahlen nur ich und Thomas den Eintritt für uns anderen vier. Durch den Eingangsbereich, der mit rotem Teppichboden ausgelegt ist, gelangen wir unter Neon- und Schwarzlichtbeleuchtung, vorbei an der Garderobe und zwei Zigarettenautomaten, auf die große Tanzfläche. Nervöses Flackerlicht, das so gar nicht zum Rhythmus der Musik passt, erzeugt bei mir einen leichten Brechreiz – aber das ist immer so, von daher stört es mich nicht wirklich. Es ist knapp 1 Uhr nachts und der Club ist bereits gut besucht. Da Rock-Nacht ist, spielt hier momentan das schönstschlimmste, was Rock aus den 80ern, 90ern und von heute zu bieten hat. Das heißt: Blink 182, Nirvana, Greenday, Mötley Crüe, all das überwiegend gute Zeug. Ich hätte nicht gedacht, dass Lilly und Charly auf so 'ne Mucke stehen – aber das macht die beiden in meinen Augen noch cooler.

Nach drei Bier, vier Tequilas und ein paar Kippen in der Raucherlounge bin ich gut drauf. Lilly auch. Thomas, Charly, Orla und Kylie sind nach unten in den Kaiserkeller gegangen, im Prinzip der Metal-Bereich der 36. Nachdem ich halbwegs kompetent mit Lilly zu Nirvanas „Mells Like Teen Spirit“ abgezappelt habe, ziehen wir uns in die Raucherlounge zurück. Kaum hab ich mir eine Zigarette angesteckt merke ich, dass ich den beschissenen Pärchen, die um uns herum Kuschelblues zu jedem verdammten Song praktizieren und sich ekelige Zungenküsse geben, noch gar keine Aufmerksamkeit geschenkt habe. Wozu auch? Ich sitze an einem Tisch mit einer hübschen Dame und fühle mich einigermaßen gut. Auch wenn mir die Sache mit Lilly leid tut. Wir schweigen uns ein paar Sekunden lang an, dann sagt sie: „Hey, ich nehme dir das von letzter Woche übrigens nicht übel.“
Ich bin überrascht, weil ich das Thema eigentlich nicht ansprechen wollte, aber krieg's dennoch hin, ein „Sorry.“ herauszubekommen.
„One-Night-Stands halt. War klar, dass du nicht Bescheid sagst und einfach abhaust. Ich kenne das ganz gut. Hätte ich an deiner Stelle auch gemacht.“
„Das macht die Sache trotzdem nicht besser.“, entgegne ich. Durch ein Fenster in der Plexiglaswand, die den Raucherbereich vom Rest-Club trennt und vor dem sich die Bar befindet, werden mir zwei Bier durchgereicht, die ich mit zwei Zwei Euro-Münzen bezahle. Mit einem „Passt so.“ erspare ich mir das Kleingeld und die nette Barkeeperin kriegt einen Euro Trinkgeld. Auch wenn das Trinkgeld am Schluss zwischen allen Barkeepern aufgeteilt wird, womit es von vorneherein nicht ihres ist. Eigentlich ist es somit unnötig, es ihr zuzustecken. Ich tu's aber trotzdem, vielleicht aus Gewöhnung.
„Ich weiß.“, sagt Lilly leise. Ich reiche ihr eines der Biere rüber und wir stoßen an.
„Ich hoffe, das entwickelt sich nicht zu einer Liebeskiste. Denn ich bin darauf momentan nicht scharf.“, halblüge ich ihr eiskalt ins Gesicht.
„Okay.“, sagt sie und steckt sich nun auch eine Zigarette an. „Hat's wenigstens Spaß gemacht?“
„Ja.“, antworte ich und bemerke den bitteren Ton in ihrer Stimme.
„Schön. Schön.“
„Pass auf, ich...“, fange ich an, doch sie unterbricht mich.
„Nein nein, schon gut. Ich kenne das. Wir waren besoffen und verzweifelt, und da fickt man halt und gut is'. Alles kein Problem. Ist nur scheiße, dass es bei mir immer auf sowas hinausläuft. Wenigstens sehe ich dich noch einmal wieder und wenigstens bist du so ehrlich und sagst es mir ins Gesicht, dass wir nix miteinander haben können. Passt schon.“
„Wir können uns trotzdem treffen und so. Ich meine, du bist cool, du bist hübsch, ich mag dich irgendwie und...“
„... und deshalb bringst du so einen Kackspruch von wegen 'Treffen und so', damit du kein schlechtes Gewissen hast, oder?“
So hat sich Sandra wohl letztens gefühlt im Hipster-Café.
Fuck.
„Ja. Also nein. Also...“, stottere ich.
„Nein, lass nur. Ist immer dieselbe Scheiße. Ist anscheinend halt nicht möglich, in unserem Alter in dieser Zeit 'ne normale Beziehung zu führen, ohne irgendwelche 'guten Absichten' zu haben und 'nett gemeinte' Kommentare zu bringen. Find' ich gut, dass du sowas sagst, bevor überhaupt irgendwas anfangen kann zwischen uns.“
Ich schlucke. Sie trinkt ihr Bier in einem Zug aus, drückt die Kippe im Aschenbecher vor ihr aus, ihr Blick hellt sich auf und sie sagt „Komm, lass uns tanzen. Ich liebe den Song.“
Ich nicke überrascht. Sie hüpft von ihrem Barhocker herunter, zerrt mich am Arm von meinem hoch und zieht mich auf die Tanzfläche, wo sie mich direkt umklammert. Wir bewegen uns rhythmisch und eng umschlungen zu einem Song von der Band Bush namens „40 Miles from the Sun“, einer langsamen, melodischen und meiner Meinung nach unglaublich schönen Rockballade.

There is nowhere left to hide, there is nothing to be done
No people to be saved, no pets were ever named
40 miles from the sun


Ihr Kopf ist an meine Schulter geschmiegt. Ihre Haare riechen nach Pfirsich. Und an meiner Schulter wird's feucht. Ihr Körper bebt, doch sie bleibt weiter im Rhythmus des Lied. Sie heult. Scheiße. Und ich bring keine Träne raus, obwohl die Situation es zulassen würde.

As darkness craves the mind, we come undone without our pride
No time on earth to come, all the pleasure's just begun
40 miles from the sun


„Es tut mir leid.“, flüstere ich ihr ins Ohr und streichle über ihren Rücken. Wir kennen uns gar nicht wirklich. Wir sind umgeben von anderen, sich langsam über die Tanzfläche bewegenden Menschen, die alle irgendwie miteinander verbunden sind in trauter Zweisamkeit. Lilly und ich hingegen sind enger miteinander verbunden als jeder andere hier im Raum. Denn wir geben wenigstens zu, dass wir einfach nicht weiterkommen, nicht weiterziehen können. Dass Sex Spaß macht, aber nicht alles sein kann und darf. Im Endeffekt denke ich gerade, dass nichts mehr verbindet als Gefühle. Nicht unbedingt Gefühle zueinander, so von Person A zu Person B. Sondern Freude, Trauer, Wut. Was dich mit deinem Nebenmann verbinden sollte, ist nicht eure scheiß Modemarke, sondern die Empathie zueinander. Lilly und ich rebellieren in diesem Moment gegen oberflächliche Arsch-Beziehungen, die auf nichts als oberflächlicher Scheiße basieren. Naja, sie rebelliert eigentlich nur. Ich halt sie fest und hoffe darauf, dass sie mir vergeben wird. Irgendwann.

I need to lose to make it right, I'll confront the stars tonight
I will babble, I will bite, you'll never know how much you shine
40 miles from the sun


40 Meilen von der Sonne weg. Naja, eher drei Stunden von der Sonne weg. Es ist vier Uhr morgens, der Song ist zuende. Lilly und ich lassen uns los. Sie wischt sich mit dem Ärmel ihres schwarzen Kashmir-Pullis über die Augen, um nicht sofort den allgemeinen Anschein zu erwecken, dass sie geheult hätte.
„Ich will nach Hause.“, sagt sie.
„Ich auch.“, antworte ich und schaue sie dabei eindringlich ein. Bitte nicht. Nein Körper, doofe Idee. Abbrechen, abbrechen! Nein!

Wir liegen zwei Stunden nackt bei ihr zuhause im Bett. Sie pennt neben mir schon und schnarcht leise. Ich finde das irgendwie niedlich. Was ich nicht niedlich finde, das bin ich. Ich bin doch echt zu dämlich. Erst große Töne spucken von wegen „Nee ich will ihr nicht wehtun!“ und „Nee ich will nix von ihr!“ und dann tue ich es schon wieder. Langsam ziehe ich die Decke herunter, kurz nach rechts zu ihr schauend, ob sie schon wach ist. Ich hebe langsam mein linkes Bein von unter der Decke hervor und will gerade mit dem Fuß den Boden berühren, als ich eine Hand an meinem Arm spüre. Langsam werde ich nach hinten gezogen, Lillys Arm legt sich um mich. Flucht missglückt. Scheiße. Gut, dann bleibe ich hier, kein Ding. Ich drehe mich zu ihr. Ihr Augen sind offen.
„Wollt'ste abhauen?“
„Nee, ich musste nur aufs Klo.“, lüge ich.
„Lüg doch nicht.“, ertappt sie mich und grinst.
„Was haste denn so Frühstücks-mäßig hier?“, lenke ich ab und frage die essentielle Frage.
„Brot, Wurst, Ei – alles da.“
„Cool, wann das so ist – dann bleibe ich hier.“
Sanft wie eine Katzenpfote patscht sie mir ins Gesicht mit der flachen Hand. Dann dreht sie sich um, ich lege den Arm um sie.
Jupp, ich bleibe heute Nacht hier.

Das bin ich ihr schuldig.
Währenddessen geht draußen die Sonne auf.
Und ich hab kein einziges Mal Sandra angerufen.
Sowas nennt man glaub ich „Fortschritt“.