Kapitel 5:
Erst spät am nächsten Morgen erwachte sie aus ihrem tiefen Schlaf. Es dauerte eine ganze Weile bevor sie begriff, wo sie eigentlich war. Doch bevor sie losfiepen konnte, blendete sie ein unangenehm helles Licht, und ein undeutlicher Schatten beugte sich über sie. "Guten Morgen, kleiner Sonnenschein." Die Pranken, die sie gestern aus ihrer so vertrauten Umgebung heraus gerissen hatten, hoben sie hoch und drückten sie an einen angenehm warmen Körper. Eine schmalere Klaue strich ihr vorsichtig über den Kopf. "Sie muss hungrig sein. Und außerdem wird es Zeit, dass sie einen Namen erhält." Das leichte Wiegen beruhigte sie, nach einer Weile öffnete sie blinzelnd die Augen und sah hoch zu diesem Wesen, das sie da in den Armen hielt. "Eldriana. Das soll ihr Name sein."
Es brauchte seine Zeit, bis Eldriana verstand, dass dieses seltsame Wort ihr galt. Sie saß auf dem Boden und nagte zufrieden glucksend auf einem Stück Fleisch herum. Das schmeckte fast so gut wie dieses Zeug, in das sie so lange eingeschlossen gewesen war. Aber eben nur fast. Diese zwei riesigen Gestalten erschienen ihr noch immer reichlich seltsam. Was waren das für welche? Immer wieder wurde sie von ihnen hoch gehoben, fühlte die riesigen Klauenhände über ihren Kopf streichen. Nicht, dass es unangenehm gewesen wäre... aber es kam ihr einfach komisch vor. Außerdem interessierte sie sich nicht für diese beiden, sie wollte zurück zu diesem ersten Lebewesen, das sie gesehen hatte.
Jetzt folgte etwas, das Eldriana restlos verwirrte: Eines dieser riesigen Wesen hob sie nur halb hoch und setzte sie dann wieder auf den Boden – aber so, dass sie nur auf zwei Klauenfüßen stand. Was sollte das jetzt werden? Eines der großen Wesen hatte sich hingekniet und streckte ihr einen Finger hin. Sollte sie den etwa nehmen? Eldriana machte einen unsicher schwankenden Schritt nach vorne – und wäre wohl der Länge nach hingefallen, wenn nicht ihre Mutter sie aufgefangen hätte. Das war das Problem, wenn man noch nicht wusste, wie man mit dem Schwanz das Gleichgewicht ausbalancierte.
Nach einer ganzen Weile Übung lief es schon bei weitem besser. Eldriana konnte durch den Raum gehen, ohne bei jedem Schritt in Gefahr zu laufen hinzufallen. Ihre Eltern nahmen sie mit nach draußen, wo noch viele andere dieser komischen Gestalten herum liefen. Eldriana staunte, als sie diese ganzen fremden Gesichter sah. Doch lange hielt sie das nicht auf, sie wurde von ihrer Mutter zu Boden gelassen und durfte selbst ein wenig herum laufen. Das war so eine Art Tradition: jedes Neugeborene, das in der Lage war zu laufen, durfte ganz alleine durch die Stadt wandern. Wirklich zu befürchten hatte Eldriana nichts, denn jeder hier nahm Rücksicht auf den so kostbaren Nachwuchs. Erst recht, wenn er sich mit goldenen Schuppen schmückte.
Als ihr das Laufen zu anstrengend wurde, ließ sie sich auf alle Viere fallen. Das ging um einiges schneller, außerdem konnte sie so an Wänden hoch klettern. Vorausgesetzt, sie waren schön rau. So kam es auch, dass sie sich in das Sklavenlager mit all den Menschen verirrte. Sie hielt sich aus einem Instinkt heraus im Schatten und beobachtete die vorbei gehenden Gestalten. Die waren so anders... Verwirrend, diese ganzen neuen Eindrücke. Irgendwie lag etwas in der Luft, dass ihr das Atmen erschwerte. Was war das nur...? Zu dumm, dass goldene Schuppen ziemlich gut Licht reflektierten... Einer der Menschen entdeckte sie. "Hey, seht euch das mal an! Eines dieser Biester ist hier!"
Eldriana wich angstvoll fiepend zurück, doch leider waren die Männer schneller als sie. Schon hatten sie die Kleine gepackt und begutachteten sie wie ein Stück Ware. Obwohl Eldriana nicht wissen konnte, was diese Aufregung um sie herum bedeutete, sagte ihr ihr Gefühl, dass es nicht gut für sie werden würde. Deshalb biss sie dem nächsten in die Hand und machte sich unter heftigem Kralleneinsatz frei. Leider ein Fehler, denn plötzlich traf sie ein Tritt, der ihr die Luft aus dem Leib quetschte und sie halb bewusstlos gegen eine der wackeligen Bretterhütten knallen ließ. Das gab ihr den Rest, und sie war eine ganze Zeit lang bewusstlos...