Literaturcafé mit Raik Wächter. Gegenstand der heutigen Besprechung: Reinhard Döhls Apfel (v 1965).



Reinhard Döhls Figurengedicht Apfel ist eine konsequente Bloßstellung des Auf-Teufel-komm-raus-Individualismus, den die heutige Jugend zelebriert. Die Äpfel sind die Angepassten, wobei eher: Unauffälligen. Der Wurm sticht heraus. Nun hätte Döhl diese Gegenüberstellung mit zahlreichen Wortkombinationen erreichen können; die Verkörperung des Aus-der-Reihe-Fallenden durch den Wurm aber zeigt Folgendes auf: Der Individualist ist ein niederes Wesen: ein Wurm. Der Wurm existiert im Dreck zu unser aller Füßen, er wird nicht beachtet, beiläufig zertritt man ihn; der Wurm besitz kein Rückgrat. „Du Wurm“; „da steckt der Wurm drin“ – der Wurm wird in vielfältigster Form benützt, Negatives auszudrücken. Der Individualist erniedrigt sich, indem er sich auf sein Äußeres reduziert: er sieht nur die Möglichkeit, sich durch ein abweichendes Erscheinungsbild von der Masse abzuheben; der Individualist erkennt nicht, dass der Individualismus, dem er frönt, zu einem Kult verkommen ist, dessen Anhängerschaft ihre eigene Masser der Angepassten bildet; der Individualist wird folglich nicht als solcher von anderen wahrgenommen, was für ihn, der sich allein über sein Äußeres zu definieren weiß, Zertretenwerden gleichkommt; der Individualist besitzt nicht das Rückgrat, sich anders gegen den Konformismus zu stellen als durch sein Aussehen, nämlich: durch sein Inneres. Die vermeintlichen Angepassten mögen sich noch so sehr in ihrem Inneren: ihrem Denken, ihren Weltbildern voneinander unterscheiden, der Individualist erkennt es nicht (an). Die Äpfel, um wieder den Bezug zu Döhls Figurengedicht herzustellen, können so vielen verschiedenartigen Sätzen entstammen, der Wurm sieht nur ihre einheitliche Schreibung. Vielleicht steht einer der Äpfel in einer hochphilosophischen Phrase wie: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dem oberflächlichen Wurm ist es egal, ihm fehlt die Phantasie. Der Wurm wiederum stünde als Apfel möglicherweise in: Der Apfel ist rot.
Das Fazit also, das Reinhard Döhl in diesem Meisterwerk der visuellen Lyrik zieht, ist: Individualisten sind oberflächliche, rückgrat- und phantasielose, niedere Wesen, die in ihrem Zwangsnonkonformismus nicht realisieren bzw. nicht wahrhaben wollen, wie uninteressant sie sind. Word up, Reinhard Döhl.