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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Der Fremde



Cyberwoolf
29.03.2005, 21:16
Auf einmal stand der Fremde vor mir. Er schaute mich aus seinen großen, traurigen Augen an. Dieser mutlose Blick, diese stumpfen Augen, die tief in den Höhlen lagen, umgeben von Tälern und Bergen aus Falten. Falten überzogen auch den Rest seines Gesichts. Wie das Wurzelgeflecht eines alten Baumes durchkreuzten sie seine Haut und zerstörten mit unaufhaltsamer Kraft seine restliche Jugend. Von den dunklen Schatten unter seinen Augen zuckten sie über das bleiche Gesicht bis hinunter zu den spröden, aufgeplatzten Lippen. Leise, krächzende Laute kamen über diese Lippen, versuchten sich zu Wörtern zu formieren, verloren sich aber wieder. Ich versuchte ihm zuzulächeln. Auch er lächelte. Seine kaputten Lippen verzogen sich zu einer Fratze, seine unzähligen Falten schienen sich zu vervielfältigen.

Ich bekam Mitleid mit diesem Mann. Zugleich war ich wütend, wütend auf mich selbst, weil ich ihm nicht half, weil ich ihn nicht herauszog aus dem Treibsand des Elends. Meine Wut wich Verzweiflung, denn ich wusste, ich würde nichts tun. Es wäre so einfach gewesen und trotzdem wagte ich es nicht. Die Verzweiflung schlug um in Trauer. Trauer über diesen armen Menschen, Trauer über sein Schicksal. Auch er guckte jetzt wieder traurig. Sanft schüttelte er den Kopf und griff nach seiner Bierflasche. Er schlurfte weg ohne sich umzudrehen und auch ich ging. Hinter mir versank der Spiegel in der Dunkelheit…

La Cipolla
30.03.2005, 14:27
Das nenn ich mal gut, auch wenn ich seit der ersten Zeile das Gefühl hatte, das hättes irgendwo schon mindestens einmal gegeben. :rolleyes:
Der Text ist sehr schön, aber man könnte am Ende des ersten Abschnittes noch mehr über das Lächeln sagen, ich bezweifle, das jemand in dieser Situation ehrlich lächelt, denn wenn es noch so eine Fratze ist, es kommt nicht rüber, dass er nicht wirklich glücklich ist (später vielleicht, aber hier erstmal nicht)

Das Ende ist gut, aber sicher noch zu toppen, der Spiegel passt IMHO nicht zur Dunkelheit, vielleicht kann man lieber sagen, dass das Abbild im Spiegel langsam verschwamm, unklar wurde, und schließlich verschwand (oder sowas :rolleyes: ) aber das ist Geschmackssache. ;)

NeoInferno
30.03.2005, 14:41
Hi,
ein sehr interessanter Ansatz. Im ersten Absatz beschreibst umschreibend und detailiert das Gesicht des 'Fremden'.
Der zweite Absatz führt den Leser dann nochmal an der Nase herum, man glaubt wirklich es handelt sich um einen Obdachlosen oder sowas.

Es handelt sich also um einen heruntergekommenen Menschen, der sich selbst nicht zu helfen weiß, oder sich gar nicht helfen will, er erkennt seine missliche Lage und analysiert sie, fügt sich aber letztendlich seinem Schicksal.
Der Mensch also als ein Wesen, das sich und die Welt nicht verändern kann?

Ich hoffe, dass ich's soweit richtig erkannt hab. Wenn ja, ist es ein wenig zu pauschal, du hättest vielleicht am Ende einen kleinen Hoffnungsschimmer einfügen sollen. Das hätte die Glaubwürdigkeit der Geschichte etwas erhöht. Ich finde persönlich das Verhalten des Prots etwas (nur etwas) realitätsfremd.

Eine gut geschriebene, kurzweilige Geschichte, vielleicht ein bisschen zu kurz ;)

Greetz,
Neo

Serpico
30.03.2005, 15:11
Ich bekam mit Mitleid mit diesem Mann.
...bei meinen hip hoppern hier würde das so bestimmt gut ankommen, aber das erste "mit" nimm doch mal bitte raus ;)

...insgesamt klingt der erste teil wie ein absatz aus einer längeren geschichte und der zweite wie ein haufen texte, die ich bei dem literaturwettbewerb an meiner alten schule immer gehört habe - etwas beliebig vielleicht, aber nicht schlecht

...auf jedenfall zu wenig ;)

...thx

Cyberwoolf
30.03.2005, 17:30
Der Text soll eigentlich einen Alkoholabhängigen und seine Hilflosigkeit darstellen. Obwohl er gerne aufhören würde kann er es nicht, da er zu viel Angst hat.


aber man könnte am Ende des ersten Abschnittes noch mehr über das Lächeln sagen, ich bezweifle, das jemand in dieser Situation ehrlich lächelt, denn wenn es noch so eine Fratze ist, es kommt nicht rüber, dass er nicht wirklich glücklich ist

Es soll ein aufmunterndes, vielleicht auch trauriges Lächeln sein, ein Versuch sich selbst Mut zu machen. Die Fratze dachte ich mir eigentlich nur als Ergebnis seines geschundenen Gesichts und ist eigentlich nur rein optisch.


du hättest vielleicht am Ende einen kleinen Hoffnungsschimmer einfügen sollen. Das hätte die Glaubwürdigkeit der Geschichte etwas erhöht. Ich finde persönlich das Verhalten des Prots etwas (nur etwas) realitätsfremd.

Ich finde eher das Gegenteil ist der Fall, denn in der Realität haben nur wenige Geschichten ein Happy End.


Das Ende ist gut, aber sicher noch zu toppen, der Spiegel passt IMHO nicht zur Dunkelheit,

*pfeif* Okay, kleiner Denkfehler. Vielleicht hätte ich noch schreiben sollen, dass das Licht ausgehe, denn so habe ich es mir eigentlich vorgestellt.

schreiberling
31.03.2005, 20:08
hmm...
wirklich interessant, aber auch ich hab das unerklärliche Gefühl das so ähnlich schon gelesen zu haben. Wird aber wohl eher am Thema liegen.

jap, was haben meine Vorredener noch nicht gesagt?
trau dich doch länger zu schreiben, die Ansätze sind auf jeden Fall da, aber länger- viel länger! Wie er vor dem Spiegelbild steht, praktisch die Begegnung, muss ausgeweitet werden. Mit dem Aussehen hast du schon ganz gut angefangen, obwohl auch das noch zu flach ist, geh auf mehrere Einzelheiten ein, gib ihm Identität( vielleicht hat er eine Narbe? etwas besonderes an usw.) ...das macht doch einen Menschen aus, und das fällt mir auch in der Fußgängerzone auf wenn ich eine solche Gestalt sehe.
was gänzlich fehlt,fast gänzlich ;) ,sind Gedanken... wie wärs mit dem Schicksalszeug ala "wie konnte dieser arme Mensch nur auf Abwege kommen?"- du verstehst was ich mein.

man könnte da nu noch einiges zu sagen, aber ich denke du weißt dass dus ausbauen musst. Stell dich doch selber vor den Spiegel und probiers...
...und noch was wichtiges, koste deinen Wortschatz aus, das Gesicht ist bestimmt nicht ganz gewöhnlich(da hat mir das mit den Bergen schon gut gefallen)...mach da weiter!

so,hoffe du kannst damit was anfangen ;)

Cyberwoolf
01.04.2005, 14:30
Ja, ich denke, das hat mir mehr geholfen als die anderen Beiträge.

Bei mir ist es übrigens so, dass ich einfach irgendwann eine Idee hab und die dann aufschreibe. Sicher gib es viele solcher Geschichten, aber diese ist ganz sicher von mir und ich hab mich auch nirgendwo inspirieren lassen.