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  1. #29
    Nachdem ich Lynne gespielt und gereviewt habe, wurde ich von Caro darauf aufmerksam gemacht, dass es eine Art Sequel dazu gibt. Zwar hätte ich das - in Hinblick auf die Geschichte, die Lynne erzählt - nicht gebraucht. Doch intrigued war ich allemal. Immerhin versprach ich mir nach der Psychological Horror-Wundertüte eine Menge vom Writing. Auch wenn es dieses mal doch in eine ganz andere Richtung gehen sollte.

    Nothing & Nowhere

    Story?

    Cora lebt alleine in ihrer urigen Hütte an der britischen Küste. Bei einem ihrer morgentlichen Spaziergänge wird sie auf eine junge Frau aufmerksam, die vollkommen durchnässt und apathisch am Strand sitzt. Sie lädt die Fremde zu sich ein und entwickelt ein Interesse an ihrer Geschichte. Denn Cora liebt Mystery-Novels und begreift auch das Schicksal der Gestrandeten als Rätsel, welches es zu lösen gilt. Die vom Schicksal Gepeinigte wiederum, die von der Erzählung nur „the girl“ genannt wird, hat scheinbar gelernt, nur das Schlechteste von ihren Mitmenschen zu erwarten. Sie glaubt nicht, dass Cora altruistische Beweggründe haben kann und tut sich schwer damit, sich gegenüber der Frau zu öffnen.

    Das Spiel

    Mir fehlen, zumindest in diesem Moment, die Mittel, um das Spielprinzip von Kinetic Novels mit kreativen Worten zu beschreiben. Viel Text, Charakterporträts, Hintergrundbilder, stimmungsvolle Musik. Das Spiel vertraut auf die klassische Formel, weil es mehr nicht braucht, um seine Geschichte zu erzählen. Die Charaktere, ihre Gefühle und Handlungen stehen im Vordergrund und benötigen kein Gameplay, um sich zu vermitteln. Oder ist das in diesem Fall doch anders?

    Wie war es denn nun?

    Es ist eben so ein Ding mit Sequels zu Spielen, die eigentlich keine Sequels brauchen, weil sie eine nicht notwendigerweise abgeschlossene, aber definitiv runde, gute Geschichte erzählen. Oft fehlt der Punch. Oft liegt ein erzählerischer Missstand vor, der sich im Defizit von „Noch-etwas-sagen-Wollen“ und „Noch-etwas-zu-sagen-Haben“ begründet. Klar – die üblichen Fallstricke greifen hier nicht. Lynne war kein Kassenschlager, sondern ein Indie-Visual Novel mit kurzer, ungewöhnlicher Geschichte in einem Setting, das sich unter üblichen VN-Fans wohl auch nicht so gut verkauft wie die japanische Harem High School. Also sicher existiert Nothing & Nowhere nicht nur, um auf dem finanziellen Erfolg von Lynne aufzubauen (duh, Lynne ist und war kostenlos).

    Und dennoch hatte ich die Befürchtung – ney, die Erwartung -, dass hier irgendetwas im Argen liegen muss. Dass die Writer ein schönes Ende mit einem guten Ende verwechseln und ihrer Protagonistin als überambitionierte Chirurg:innen einen Blinddarm an ihre Leidensgeschichte operieren, der dem ganzen irgendwie mehr Fleisch geben soll, aber eigentlich keine Funktion hat. Außer, dass er sich entzünden kann und dann wieder entfernt werden muss, weil sonst wird es gefährlich für den Rest des Körpe- (okay, vielleicht habe ich den Zeitpunkt überschritten, an dem sich diese Allegorie noch ausgezahlt hat)

    Ich habe mich geirrt und die Writer unterschätzt. Denn schon in Lynne war die Protagonistin ein echtes Schicksal. Eines im Körper einer fiktiven Figur, ja – aber nicht minder authentisch. Und einem echten Schicksal in Form eines Quasi-Sequels Closure verschaffen zu wollen, ist ein Akt der Gnade. Lynne war eine tragische, aber keine zynische Erzählung. Und doch kann sie die Frage aufwerfen, ob das denn nun alles war? Ob ein halboffen verfasster Abstieg in den Selbsthass nicht Teil des Problems sein kann, zwar Empathie für eine Leidtragende schafft, aber keine Lösung anbietet, die vom Pfad der Verdammnis führt.

    Nothing & Nowhere ist kein Descend into Madness mehr, sondern viel eher das, was auch hier die Produktbeschreibung auf itch.io sagt: „A gentle story about healing and facing past ghosts“. Es ist – in your face, Vergangenheits-Ich – vielleicht sogar genau das, was Lynne gebraucht hat. Das ist es natürlich nicht nur, weil es das tut was es tut, sondern weil es das auch wieder verdammt gut macht.

    Wie in der kurzen Story-Zusammenfassung erwähnt, will Cora das Rätsel um das Mädchen lösen. Doch als Spieler erlebe ich die Geschichte eigentlich meistens aus der Perspektive von eben ihr. Sie versucht in ganz ähnlicher Weise, Cora zu entlarven. Denn auch sie stellt ein Mysterium dar, das Fragen aufwirft.

    Warum lebt sie als 30-jährige Frau so abgeschieden von der Zivilisation, wo sie doch keineswegs introvertiert wirkt?
    Warum hat sie scheinbar so viel Geld, aber gönnt sich doch so wenig Luxus?
    Warum sieht sie jeden Tag perfekt aus, wo sie sich doch sonst nie anderen Menschen zeigt?

    Nun, auf diese letzte Frage findet Cora schnell eine famose Antwort:



    Und was die anderen Fragen betrifft: Auch die werden früher oder später geklärt. Doch viel Wichtiger: Darüber, dass die Protagonistin sich mit dem Mysterium um Cora beschäftigt und sich mit den von ihr geschriebenen Geschichten auseinandersetzt, sich teils sogar in ihnen verliert, löst sie sich auch weit genug von sich selbst, um ihren Selbsthass und ihre Schmerzen für eine Zeit lang zu vergessen.

    Schon in Lynne hat mich eine Szene besonders beeindruckt. Dort, weil sie ein Thema, von dem man in solchen Geschichten selten liest, erstaunlich intim und unangenehm, aber auch echt dargestellt hat. In Nothing & Nowhere ist es wieder ein intimer – wenn auch unschuldigerer - Moment, der mich unerwartet gerührt hat. Durch Momente wie diesen erlebt die "Heldin" Gefühle und Gedanken, die ihr fremd geworden sind. Sich selbst zu schätzen, zu lachen, nicht konstant unter Druck zu stehen. Coras Hütte ist ein fast zeitloser Raum, eine große Blase, an die die Außenwelt nicht herandringt und innerhalb der sich Momente der Ruhe, Besinnlichkeit und Freude finden lassen.

    Doch ihre Erinnerungen und Verpflichtungen kehren zu ihr zurück – und wenn auch nur in Gedanken. Interessanterweise nicht nur als etwas, das Lynn fürchtet, sondern auch als etwas, das sie vermisst. Ich wollte davon nichts wissen und habe mich erst vor den Kopf gestoßen gefühlt und selbstmitleidig gemault – wie mein vierjähriges Ich, als mir damals in der Deutsche Bank-Filiale von einem älteren Kind die Box mit den Nuggets aus der Hand geschlagen wurde. Doch nachdem ein paar Minuten vergingen, habe ich zu schätzen gelernt, dass Lynn an und in ihrem Safe Space auch etwas vermisst, was ihr dieser Ort nicht geben kann.

    Gute bis sehr gute Geschichten lassen mich denken: „Ja, genau!“ Wirklich hervorragende Geschichten schaffen es, dass ich das Gefühl habe, irgendwie entlarvt zu werden. Mich zum Beispiel mit etwas zu wohl zu fühlen, das eigentlich gar nicht rundum toll ist. Und das ist hier eben auch geschehen.

    Ich spare mir weitere Worte. Es gäbe viel zu sagen, aber jedes weitere Wort geht eigentlich auch zu detailliert auf die Erzählung ein und ich will das hier nicht wieder zu einem Raging Loop-artigen Spoilertag-Massaker machen. Nur so viel: Cora ist fucking cool! (Und dass das Ende ein bisschen zu bubblegummy war, ignoriere ich einfach)

    9 von 10 Metallbesteckteile, mit denen man echt nicht im Toaster herumpulen sollte.

    ________________________________________________

    ACHIEVEMENT UNLOCKED.



    Das titelgebende Bild für dieses Achievement ist aus der Kinetic Novel "Planetarian", die ich wirklich ganz fantastisch finde. Umso glücklicher bin ich, dass ich dieses Achievement jetzt mit drei Spielen ergattert habe, die ich ebenfalls alle ganz fantastisch finde.
    Geändert von MeTa (01.03.2024 um 23:17 Uhr)

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