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Kämpfer
Schlangengrube. Eine Collage, größtenteils geklaut.
Teil 1.
Wenn man zu lange in einem Hotelzimmer rumhängt, egal wie fürstlich und dekadent, erdrücken einen irgendwann die Wände auf seinem Bett, auf dem man gerade eine halbe Gallone Rum schlürft. Wenn man jeden Tag einen Sandkasten voller Koks hat, fängt man auch irgendwann an, nur noch Burgen zu bauen.
Ich musste raus aus diesem verfluchten goldenen Käfig!
Ich schnappte mir panisch ein Glas Bananenbabybrei, das wie ein Landstreicher auf dem überquellenden Aschenbecher lungerte und sah dabei einen offenen Umschlag auf dem Tisch liegen. Der Präsident der Vereinigten Staaten lud mich zum Dinner im Weißen Haus ein, wegen meiner außerordentlichen Verdienste um irgendwas und meines unermüdlichen Einsatzes für Blablabla. "Wer ist eigentlich gerade Präsident?" rief ich in den Raum hinein, aber niemand antwortete.
"Scheißegal", blaffte ich, "geh eh nicht hin!" Das war das.
Bevor ich aus dem Zimmer auf den Flur stürzte, auf dem mich Gottweißwas erwartete, setzte ich den eben gefundenen braunen Fedora auf den Kopf und zog ihn tief ins Gesicht, wickelte mich in meinen Mantel und beschloss, den heutigen Tag als Abrissbirne meiner makellosen Reputation zu verbringen.
Im Flur war alles ruhig. Trügerisch ruhig.
"Wie spät ist es eigentlich?" fragte ich, aber wieder vergeblich. Die Menschheit schien sich vor mir zu verbergen, ob aus Furcht oder aus einem anderen, böseren Grund. Sollten sie nur ihr Spielchen spielen. Meine Sinne waren auf das Äußerste geschärft, ich war ein verdammter Guerillero im Dschungel. Ich war ein Laser.
Von der Idee, mir Zugang zu irgendeinem Zimmer zu verschaffen und mich dort zu verschanzen, bis der Colonel mit Verstärkung anrückte, nahm ich Abstand. Wie leicht konnte man in diesem verfluchten Land durch irgendeine Tür stolpern, mit nichts als einem verzweifelten Bedürfnis nach Schutz, Verständnis und vielleicht etwas Liebe, und ehe man sich versah, stand man mittendrin in der teuflischsten Sache, die die kranken Hirne der Verbrecher, die dieses Land beherrschen, ausbrüten konnten.
Ich hatte eine Vision, wie hinter der Tür des Zimmers Nr. 635 des Belvedere die Wildbretmafia Geweihe auf Rattenköpfe schraubte, während die Ratten kreischten wie ausgehungerte Furien und eine von ihnen in dem Moment, in dem die Tür aufging und ich hineinfiel, vom Couchtisch sprang und durch die Tür verschwand. Ich hörte Rattenfüße auf zerbrochenem Glas in einem trockenen Keller.
Von einer Welle des Ekels erfasst wie von einem Vierzigtonner fiel ich über einen Blumenkübel her und würgte wie ein Kater, der Gewölle ausspuckt. Aber es kam nichts. Mit dem Argwohn eines Berufskriminellen hielt ich Ausschau nach Zeugen, doch es war niemand da. Dessen ungeachtet warf ich dem Gang hinter mir noch einen vernichtenden Blick aus mongolisch geschlitzten Augen zu und stabilisierte das Blumengefäß.
Es gab Wände auf dieser Welt, die Augen hatten. Augen, Ohren und Münder, mit glitschigen kalten Zungen, die sie dir ins Ohr stecken, um damit dein Hirn aufzuspießen.
Im Fahrstuhl wusste ich nicht, wohin. Von einer Zelle in die andere. Ich war ein Wrack.
Die Tasten tanzten vor meinen Augen wie Staub in einem Lichtstrahl. Ich stützte mich an der Wand ab, als hätte ich gerade den Boston Marathon gewonnen und bewegte meinen Kopf bis auf einen Zentimeter an die schwirrenden Tasten ran. Blitzschnell schlug ich zu. Ich erwischte die Erdgeschoss-Taste wie eine träge Schmeißfliege, die es sich feist und nichts ahnend auf einem Haufen Exkremente gemütlich gemacht hatte.
Die Euphorie des Triumphators hielt nicht lange an. Schon ein Stockwerk weiter unten hatte mich die Gewissheit, dass ich selbst wie eine Fliege zerquetscht werden würde, wenn jetzt das Aufzugskabel reißen würde, fest in ihren grausamen Klauen. Es würde nicht einmal was nutzen, wenn ich direkt vor dem Aufprall hochspringen würde. Ich fühlte mich wie ein Fingerabdruck auf dem Fenster eines Wolkenkratzers, der nur aus Gleichgültigkeit weiterexistieren darf. Ich war die Schnecke, die auf der Schneide eines Rasiermessers entlang kroch. Und überlebte.
Als der Fahrstuhl anhielt, hatte ich mich mittlerweile soweit im Griff, dass ich "Bad, Bad Leroy Brown" vor mich hin murmelte. In der Version von Sinatra, natürlich.
"He got a .32 gun in his pocket for fun, he got a razor in his shoe. – Dudu dudududu."
Teil 2.
Die Lobby war hübsch, wenn auch verbesserungswürdig. Eine Tapete mit Blumenmuster, ein Kanister Benzin, ein paar Streichhölzer, und ich könnte hier viel bewegen. Das war mir sofort klar, als ich wie eine Kanonenkugel aus dem Fahrstuhl schoss.
Ich rannte in ein Paar und ihren Kofferträger. Das Pärchen sah widerlich perfekt aus, als würden die beiden permanent für ihr Porträt posieren. Ich fragte mich, warum zum Teufel sie außerhalb eines Hochglanzpornos Sex haben sollten. Der Kofferträger war ein Schwarzer, der so wählte, wie wir es wollen. Sich mit diesem einfältigen Trio zu beschäftigen, würde bedeuten, die Ewigkeit selbst zu verletzen, und das brachte ich einfach nicht über mich. Nicht jetzt. Ich entschuldigte mich mit einem Grinsen, das eindeutig besagte, wie verschwindend wenig es mir leid tat und blieb mitten in der Lobby stehen um mir eine Strategie zurechtzulegen, wie Napoleon Bonaparte auf dem Feldherrenhügel.
Die üblichen alten Anzugträger, blätterten so gelangweilt in den Börsennachrichten oder den Todesanzeigen, dass sie auch gleich tot umfallen oder ihr Geld Leuten geben könnten, die was damit anzufangen wussten. Eine Frau im untrüglichen Gewand einer teuren •••• saß in der Lobby wie bestellt und nicht abgeholt, was sie vermutlich auch war. Rot Uniformierte, die beim Militär und auf Cocktailparties im 19. Jahrhundert gleichermaßen verpönt wären, hier aber nicht, hetzten kreuz und quer durch den Raum.
Ich stellte mich also an die aus zwei Personen bestehende Schlange vor der Rezeption, um anzuregen, Zimmer 635 einen diskreten Kontrollbesuch abzustatten. Ich wollte sagen, ich hätte "da so ein Gefühl". Der Typ vor mir sah aus wie Tom Cruise in Top Gun auf einsfünfundachtzig gestreckt, war homophob, sonnen- und sportsüchtig. Überdies mochte er die Rekrutierung von Kindersoldaten nicht, wenn er sie im Fernsehen sah. Oder im Kino.
Davor verhandelte ein vielleicht Zwanzigjähriger in Khakishorts und schwarz-blauem waagerecht gestreiften Pullover mit dem Hotelangestellten und fuhr sich dabei fortwährend durch sein kalkuliert unordentliches, konsequent nach rechts gekämmtes Haar. Der Hotelangestellte, sein Namensschild nannte ihn Mayweather, versuchte ihn in dem üblichen, eher um Ruhe als um Klärung besorgten Ton zur Contenance zu animieren. Die Besten, das wusste ich, konnten die subtilste aller Drohungen in Timbre und Worte von ausgesuchter Höflichkeit betten. Dieser hier war drittklassig.
Das Problem schien darin zu bestehen, dass der Junge nicht hier nächtigen durfte, es aber anstrebte. Ferner begehrte er gegen die Tatsache auf, dass die Bademäntel dieses Hotels in Nicaragua von Kinderhänden gefertigt würden. Jedenfalls brüllte er das gerade über die Theke der Rezeption.
Ich beschloss, eine meiner Socken mit Münzen zu füllen und oben zuzudrehen.
Ich wollte vorbereitet sein, wenn hier in wenigen Sekunden das fragile soziale Gefüge dieses Raumes, das übrigens ein fotografisch genaues Abbild dieses Staates war, in sich zusammenbrechen würde. Die De-Evolution von Dekadenz zurück zu Barbarei stand uns unmittelbar bevor, und wie schon auf dem Hinweg würde sie die Zivilisation auslassen. Dann würden wieder sorgsam unterdrückte animalische Instinkte regieren, bestialisch würden sie übereinander herfallen und dabei nach Blut geifernde, unmenschliche Schreie ausstoßen. Ich aber würde vorbereitet sein. Während ich auf einem Bein stehend die Socke auszog und dabei wie ein Primat auf der Stelle hüpfte, kramte ich mit der anderen Hand in meinen Taschen, fand aber weder Münzen, noch Billardkugeln oder Seifenstücke.
Ohne Waffe war ich leichte Beute für die Primitivhirne und ihre überlegene Körperkraft. Sie würden mich in Stücke reißen wie eine alte Zeitung, das musste ich zugeben. Ich setzte also alles auf eine Karte. Was blieb mir anderes übrig?
Ich huschte zu den beiden Streithähnen, die noch auf der schmalen Linie der Dekadenz balancierten, vielleicht ohne es zu ahnen.
Der Schlüssel zum Sieg war, so zu wirken, als hätte man nicht nur jedes erdenkliche Recht, da zu sein, wo man war und zu tun, was man tat, sondern sogar die Gottverdammte Pflicht. Gottverdammte Pflicht schüchterte jeden ein. Zudem war es von Vorteil, in dieser Personifikation der Pflicht mitschwingen zu lassen, dass niemand sonst irgendetwas ohne deine Erlaubnis tun durfte.
Neunzig Prozent aller Zauberei besteht darin, eine Information mehr zu besitzen. Ich sparte mir die Begrüßungsfloskeln und grätschte gleich rein.
"Was ist hier los?"
Der imperialistische Lakai in Rot kroch auf Knien zu mir und klammerte sich an meine Fußknöchel. Bildlich gesprochen.
"Oh, ähm, Guten Tag, Sir. Das Problem mit diesem jungen Mann ist folgendes, Herr…"
Ich wedelte mit der Hand, als wollte ich Fliegen verscheuchen. "Keine Details. Details sind immer vulgär."
"Natürli…"
"Wollen Sie wissen, was ich denke?" Ich lehnte mich verschwörerisch über den Tresen, wie sich seit 1945 niemand mehr in guter Absicht über irgendwas gelehnt hatte.
"Hem-hem, ja… Sir."
"Ich denke, dass Nahrungsmittel und Betten – wie Spielautomaten - unerwünschte Elemente anziehen. Aber sind wir nicht alle unerwünscht?"
"Ich… weiß nicht, ob das…"
"Sind wir. Aber der hier hat zu allem Überfluss auch noch kein Geld mehr."
Dabei tippte ich dem jungen Kapitalistenfeind mit dem Schuh in meiner Hand heftiger gegen die Schulter, als unbedingt nötig gewesen wäre. Da keiner der beiden was sagte, fuhr ich fort.
"Aber, mein junger Freund, was ich noch denke, ist, dass eine geschlossene Tür einer Einladung zu Unbesonnenheit gleichkommt."
"Sie meinen also…"
"Richtig. Ich meine damit, dass diese," an dieser Stelle zog ich mit der unbeschuhten Hand meine Kreditkarte aus dem Mantel, "Karte sagt, dass der junge Mann heute Nacht hier schlafen wird, um morgen früh hier verschwunden zu sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Wie ein Baby in einem Tornado."
"Natürlich, Sir." Er begann geschäftig wie eine Ameise, das Geld abzubuchen.
"Oh, eins noch, Mayweather."
"Ja, bitte?"
"Er möchte ein Zimmer möglichst nah an 635." Ich hielt das für klug.
"Das Zimmer Nummer 634 ist auch gleich frei. Wie wäre das?"
"Das wäre formidabel, Mayweather."
"Exzellent, Sir."
"Ich bin froh, dass wir die Situation so harmonisch lösen konnten. Das bin ich wirklich. Einen schönen Tag noch, Mr Mayweather. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden, mein Freund hier und ich, wir haben einen wichtigen Termin, der keinen Aufschub duldet."
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Ritter
Mal abgesehen von der Tatsache, dass ich der Einzige zu sein scheine, der deine Geschichten kommentiert (und sie sind gut!), gefällt mir dein Text hier wieder ausgezeichnet.
Die Beschreibungen sind echt lustig und das Ganze hat mich irgendwie an "Fear and Loathing in Las Vegas" erinnert. Einige Sätze waren zwar zu hoch für meinen vernebelten Verstand, um sie zu begreiffen, aber nichts desto trotz war es ein köstliches Lesevergnügen.
Nun muss ich aber wieder fragen, ob die Geschichte so fertig ist, denn wieder erscheint mir das Ende (wie bei deiner vorhergehenden Geschichte "In den Staub") einfach nicht so geil wie der Rest des Textes... Da brauchst du imo irgendwas bündigeres, um abzuschliessen...
Aber der Rest der Geschichte entschädigt in diesem Falle das Ende, die Geschichte war wirklich wiedermal spitze.
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Kämpfer
Teil 3.
Ich war weg, bevor Mayweather eine Chance hatte, mir mit einer heuchlerischen Floskel den Tag zu versauen. Der Junge folgte mir auf dem Fuße, wie ein Kätzchen einer laufenden Milchschüssel. Schon bald brachen sich seine Begeisterung und Dankbarkeit in einem Schwall von einfältiger Ergriffenheit Bahn.
Er erzählte mir, dass das Hotel ihn nicht hier übernachten lassen wollte, was mich kurz zu der Frage sinnieren ließ, wie spät es wohl war. Seine Mutter würde ihm heute noch Geld schicken, morgen wäre es da, aber sie wollten ihn nicht übernachten lassen. Ein Junge, der erst seit kurzem in der entschlackenden Askese des Existenzminimums lebte. Er rührte mein Herz, und ich beschloss, ihn unter meine Fittiche zu nehmen.
"Hab ich Sie nicht schonmal irgendwo gesehen?" fragte er.
"Kann sein. Ich war schonmal irgendwo."
Er fing wieder an, mir zu sagen, dass ich sicher verstehen würde, was er meinte. Ich verstand. Er sagte mir nochmal weitschweifig, was ich verstand.
Plötzlich hörte ich niemanden mehr, ich hörte nichts mehr. Ich sah ihn nur noch den Mund bewegen.
Das, was er sagte, stand auf Texttafeln, die ein hässlicher alter Gnom neben ihm mit seinen Stummelarmen in die Höhe hielt. Der Gnom hatte ein Gesicht wie ein Lederlappen, der mit Wasser getränkt und dann ein Jahr in die Wüste gelegt worden war, und einen Mantel wie Rotkäppchen. Der Gnom grinste mich an. Sein Lächeln war eine klaffende Wunde, aber er schien nur helfen zu wollen. Ich zwang mich zu einem Lächeln und kämpfte die Panik nieder. Es sah gekonnt aus, wie er immer neue Texttafeln hochhielt, als hätte er das bei irgendeiner Late Night Show gelernt, und wenn jemand gut in seinem Job ist, bleiben wir dran.
Wir bogen im halsbrecherischen Tempo von Männern mit einer Mission in die Bar ein. Zwei anzugtragende Typen mit Gesichtern wie Plakatwände unterhielten sich, aber ich konnte immer noch nichts hören. Der hilfsbereite Gnom stand wie aus dem Nichts neben ihnen. Auf seiner Tafel stand: "Nass ist sie ein Star." Ich schloss, dass es um den Marktwert von Esther Williams ging, eine Schwimmerin. Ich kannte mich aus in dem Geschäft.
Wir setzten uns an die Bar. Ich griff reflexartig nach ein paar Salzstangen, die in einem phallischen schwarzen Porzellanding auf der Theke standen. Ohne meine eigene Stimme zu hören, fing ich an, eine möglichst britannische Flasche Whiskey zu bestellen. Während ich das tat, kam mein Gehör zurück und der Gnom, der gerade eben noch auf dem Hocker neben meinem jungen Freund kauerte und dabei war, ihm eine Salzstange ins Ohr zu schieben, verschwand. Die Salzstange fiel zu Boden. Ich erschrak, als ich meine Stimme hörte, die gerade so was sagte wie "…Schewisky!" Sie klang, als wäre ich eine Nebendarstellerin in Red River und hätte gerade "Indianer!" gekreischt. Aber ich ließ mir nichts anmerken.
Der Junge, sein Name war Stanley, wenn der Gnom und seine Schilder mich nicht heimtückisch betrogen hatten, bestellte ein Wasser und redete weiter. Junge Leute ohne Geld beklagen sich, dass alte Leute mit Geld mehr zu sagen haben. Ich versuchte es mit einem realpolitischen Einwand.
"Da ist gerade eine Salzstange auf den Boden gefallen."
"Was?"
In dem Moment kamen der Whiskey und das Wasser. Ich vernuschelte die Antwort, orderte noch eine Gabel und verwünschte mich daraufhin gedanklich, weil ich eigentlich einen Löffel haben wollte. Dafür war es nun zu spät.
Ich kramte in den Taschen meines Mantels, erwischte Zigaretten und Feuerzeug, bot Stanley und mir eine an – er lehnte ab, ich nicht – und fand dann, was ich suchte: Das Gläschen mit der Bananenbabynahrung. Um genau zu sein, ich fand sogar zwei Gläschen. Das überraschte mich selbst und würde später noch von Bedeutung sein. Unter beständigem Wortschwall Stanleys öffnete ich ein Glas, erlaubte dem "Plop", auszuklingen, und dippte meinen Zeigefinger in den Brei.
Sobald das Glas halbleer war, füllte ich es mit Whiskey auf und begann, es mit der Gabel, die inzwischen eilfertig zugestellt worden war, zu löffeln. Stanley verstummte und blickte mich an.
"Capote," murmelte ich und hielt das Zeug kurz hoch wie eine Opfergabe. "Auch einen?" Er schüttelte den Kopf, aber nichtsdestoweniger hatte ihn das aus dem Rhythmus gebracht. Ich entschied, dass der Zeitpunkt gekommen war, zu tun, was ich tun musste.
"Stanley," sagte ich, um einen Ton bedauernder, aber nachsichtiger Sympathie bemüht, "Ich sitze hier mit meinen Gedanken. Und höre, wie du deine vorbringst. Die Stille von beiden - wörtlich, dann metaphorisch - ist ohrenbetäubend. Hast du deinen Schädel gegen wirklich jeden Stein geschlagen, der vom Berg der Ignoranz gefallen ist?"
Ich gab ihm etwas Zeit, um in sich zu gehen und darauf zumindest für sich eine ehrliche Antwort zu finden. Er glotzte mich mit Augen wie Autoreifen an. Er hatte begriffen.
"Mein Junge, wir sind Pilger in einem gottlosen Land. Die Tore der Wahrnehmung, mein Freund, die Tore der Wahrnehmung! Wenn du das endlich mal begreifen würdest. Dass nämlich nichts besser wird, wenn man das begriffen hat. Vertrau mir, was das angeht, denn ich hab's begriffen. Und eins sage ich dir, ehrlich, wenn du sonst nichts aus dieser Begegnung hier lernst, dann wenigstens das, tu mir den Gefallen… Tore, Türen, Durchgänge, Himmelspforten, Portale, Öffnungen, die sind alle… es ist so… wenn du durch so viele Türen durchgegangen bist wie ich, und das bist du vielleicht – du musst wissen, ich meide Türen seit einiger Zeit, du hast ja keine Ahnung, was hinter Türen alles auf dich warten kann – dann weißt du das… der Weg, du musst ihn einfach – du musst die Musik hören, verstehst du, dann ist der Weg nur noch ein Stück Boden, auf dem du rumtrampelst, wie es dir beliebt, und dann erst, dann kannst du deinen Frieden finden, klar? Darum geht's doch.
Natürlich nicht. Reingefallen. Deinen Frieden kannst du nur suchen, der ist schon über alle Berge, egal wie schnell du rennst, der ist nämlich echt sauschnell. Es geht darum, Wahrheit in Fiktion zu verwandeln, oder Fiktion in Wahrheit – ich weiß nicht, was es ist, aber es dreht sich im Grunde um Wahrheit. Das Gemüse soll alles tanzen. Deswegen: Die Tore der Wahrnehmung. Übereinstimmung eines Dinges mit sich selbst. Wusstest du, dass das die Definition von Identität ist? Übereinstimmung eines Dinges mit sich selbst. Keiner weiß das. Denk mal drüber nach. Und ich meine richtig, nicht nur "Aha, so ist das also." Nein, du sollst alle deine Synapsen verbrennen, notfalls, und dann sag mir, oder sag dir, ich werde nämlich nicht so lange hier rumsitzen und warten, ich hab zu tun, dann sag dir, ob das was mit Frieden zu tun hat. Oder mit Gleichheit, oder wie du das nennst.
Schiffe, die des Nachts vorüberfahren, Stanley. Lies zwischen den Zeilen. Die Revolution ist gescheitert. Charlie Manson und Altamont haben das verdammtnochmal bewiesen, wenn da noch was zu beweisen war. Weißt du, was Jagger gerufen hat, als in es Altamont zur Sache ging? "Love each others as brothers and sisters!" Ich war da. Du predigst dem Chor, Junge. Du musst lernen, zu hören, nicht nur anzuhören.
Du willst Anstand, du willst Verletzlichkeit, aber wenn es um deinen Arsch geht, willst du Maschinen, dann willst du Killer. Du willst die Wahrheit, und wenn du sie kriegst, schreist du nach Blut. Das ist die Unmöglichkeit der Macht, mein Freund. Es gibt keine Lösung für Absurdität, es gibt nur die Bestätigung, und das war's dann. Hinter jeder Ecke kann sie dir direkt ins Gesicht springen wie ein verdammter Cracksüchtiger. Wham, Bam, thank you, Ma'am.
Nirvana Now. Das Nicht-Erlangen dessen, was man begehrt, ist Leiden. Irgendeinen dämlichen Spruch auf eine Wand schmieren, nachts eine Mülltonne umschmeißen und wegrennen, als wäre die Gestapo mit Hunden und Mausern hinter dir her… du bist kein Rebell. Die Leute, für die du das tust, verpassen dir einen Schlag in den Nacken und schicken dich ohne Essen ins Bett. "Das Volk" ist… ich bin viel rumgekommen, aber ich hab nie "das Volk" getroffen. Du kennst die Songs, du weißt, was du anziehen sollst, was du wann sagen musst, welche Meinung du wozu haben musst. Ritualisierung von Verhalten führt zu Verlust von Menschlichkeit. Die ganze Geschichte der Menschheit ist nur eine Reihe gedankenloser Demonstrationen von Gewohnheiten. Das, was du als Individualität zu kennen glaubst, ist eine theoretisches Konzept, eine Illusion, eine Fata Morgana, zusammengeflickt aus totgeborenen Konventionen und zu viel Sonne.
Der Regen ist gefallen, die Welle ist gebrochen, das Schiff ist gesunken, die Ratten sind ertrunken, wir sind alle nass bis auf die Knochen, die Karten liegen auf dem Tisch, der letzte Zug ist abgefahren, keine Kugel mehr im Magazin. Plan B hat auch nicht funktioniert. Es bedeutet nichts, vorbereitet zu sein. Es gibt nicht für alles einer Kategorie, ein Schritt-für-Schritt-Programm, eine Karriereleiter, ein beschissenes Gewinner-Verlierer-Mantra.
Bis auf die Knochen. Bis auf die verdammte Seele, Mann. Glaubst du an die Seele? Glaubst du an Gott? Betest du? Hm? Und langweile mich nicht mit einer Blabla-Antwort. Ich persönlich, wenn ich hier mal meine bescheidene Meinung einfließen lassen darf, ich bete nicht. Ich will Gott nicht langweilen. Ich versuche, wie Tarrou - kennst du Tarrou? Tarrou ist tot, glaub ich, irgendwelche Faschisten haben ihn wohl abgeknallt – ein Heiliger ohne Gott zu sein.
Aber versteh mich nicht falsch! Was ich hier zu leisten versuche, das, was ich hier ins Spiel bringen will, ist… ich will die kleine Lampe in deinem Kopf anzünden. Ich will dir den kleinen Schubser in die richtige Richtung geben.
Ich will das für dich tun, was mein Patenonkel Truman damals für mich getan hat. Ich nannte ihn immer Onkel Fester. Als er gestorben ist, hat er mir eine Billardkugel hinterlassen, die er aus seinem Lieblingsspielsalon stibitzt hat, bevor sie ihn da nicht mehr haben wollten, eine Schachtel Leberpillen, 84 Dollar und eine Hemdbrust, du weißt schon, so ein Ding, das man unter dem Jackett trägt, so dass es aussieht, als würde man ein Hemd tragen. In seinen schlechten Zeiten dachte er, die Palästinenser hätten Killer auf ihn angesetzt, weil er auch dachte, er wäre Jude, und wollte sich in der Antarktis verstecken, in dem ehemaligen Basislager von Robert Falcon Scott, dem Typen, der König-Edward-VII.-Land entdeckt und als zweiter den Südpol erreicht hat. Er ist erfroren, mein Onkel, oben in Maine, als er durch ein Gartenlabyrinth geirrt ist, in diesem schlimmen Winter von '80. Bittersüße Ironie. Er war mein Mentor.
Aber wie sagt man, Nicht mit einem Knall, mit einem Wimmern. Und mit einem Wimmern werde ich mich jetzt verziehen. Vielleicht läuft man sich nochmal über den Weg, bei 'nem Pferderennen oder am Strand."
Ich hatte genug von ihm und stand auf. Den angefangenen Capote nahm ich mit, die Gabel ragte aus dem Glas wie ein Fahnenmast. Das andere, noch volle Glas Babybrei nahm ich auch mit. Erst später an diesem fremdartigen Tag sollte mir auffallen, dass ich instinktiv auch den Whiskey in der Manteltasche verschwinden ließ. Am Rande des Barbereichs drehte ich mich noch einmal um. Die gehetzte Ahnung von Unvermeidlichkeit lag auf seinem jungen Gesicht wie eine Decke.
"Hey, Kleiner!" rief ich. "Fang." Ich gab ihm die Zeit, die er brauchte und warf ihm das ungeöffnete Babyfutter zu. "Hier. Ich rege an, du findest ein Mädchen, bis das Verfallsdatum abgelaufen ist. Aber mach dir nichts vor, Stan, das einzige, wofür man Männer wie uns heutzutage noch braucht, ist die Anrede "Sir". Wir heiraten nicht am Ende des Films. Entweder wir können fliehen oder wir gehen drauf. Ciao."
Teil 4.
Ich verschwand aus der Bar, aber wohl nicht für immer. Zurück in der Lobby schlich ich ein wenig umher und fand mich schließlich nahe des Ausgangs, Capote gabelnd, Angesicht zu Angesicht mit einem Fremden wieder.
Ich musste mich selbst nachdenklich gestimmt haben. In einem Augenblick dachte ich noch daran, wie ich heute Nacht aufgewacht war, weil sich vor meinem Fenster zwei Katzen das Fell über die Ohren zogen, und im nächsten schüttelte mir ein Fremder die Hand, als wollte er sie mit nach Hause nehmen. Ich hing den Gedanken an heute Nacht noch etwas nach. Der Fremde war schließlich beschäftigt. Wenn man von Städten sprach, die nie schlafen, dachte ich, dann hieß das, dass diese Städte es sich nicht leisten konnten, zu schlafen; dass sie sich nicht trauten. Die Angst hielt sie wach. Diese Stadt hier konnte schlafen. Viel zu gut. Nicht, weil es nichts gäbe, das sie um den Schlaf bringen könnte. Sondern weil sie, jeder Bewohner für sich, beschlossen hatte, den ganzen Mist im Interesse seiner heilen Welt zu ignorieren und den Wecker auf sechs Uhr morgens zu stellen. Die perfekte Nachbarschaft, um schlechte Gewohnheiten zu haben.
Verdammtes Rattennest. Ich erwog, die ganze Stadt rot zu streichen und sie in "Hell" umzubenennen.
Doch soweit kam es nicht. Der Fremde gab meine Hand auf, für den Moment, und fing an zu reden. Er trug ein geschmackloses Hemd von der Farbe eines Bombenanschlags auf eine Gemüseabteilung und – natürlich, verdammte Scheiße – Khakishorts. Er hatte einen Stummelzopf und einen Bart, um sein Milchgesicht zu verstecken. Ehrlich, selbst unter dem Bart sahen seine Wangen immer noch aus wie Kissenbezüge voller Milch. Seine Bewegungen waren wie die einer Motte und so wirkte er auch. Weich und auf der Tapete verreibbar.
"Mein Name ist Truman. Ich habe natürlich auch einen Nachnamen, aber der steht auf meiner Karte, und Sie können mich auch gleich Truman nennen. Wie geht's?"
Wenn ein offensichtlich Untergebener fragt, wie es einem geht, nicht antworten.
Er wartete so lange auf eine Antwort, dass er dämlich wirkte. Dann gab er mir seine Karte. Ich steckte sie ein, ohne hinzusehen und starrte ihn weiter an, als würde er in Flammen stehen und es wäre mir egal. Ich ließ die Zigarette vom rechten zum linken Mundwinkel hüpfen. Nach einer weiteren Pause, die seine Dämlichkeit verdoppelte, sprach ich.
"Schulde ich Ihnen vielleicht Geld? Kenne ich Ihre Mama?"
"Oh, nein, natürlich nicht… oder, "nein" zu ersterem, "vielleicht" zu zweiterem, haha."
Witzig wie ein brennendes Waisenhaus. "Sie müssen wissen, auf meiner Karte steht das auch, ich bin Astrologe. Ich will jetzt kein name-dropping betreiben, das halte ich für stillos, aber um Ihnen eine Vorstellung zu geben, ich zähle Johnny Depp und Robert Downey jr. zu meinen regelmäßigen Kunden, man kann sagen, wir sind Freunde. Und Omar Sharif, Sie wissen schon, "Er war nichts. Der Brunnen ist alles.", eh."
Johnny Depps Astrologe.
Die israelische Armee hat einmal bei einer Flugzeugentführung, das Flugzeug stand auf der Rollbahn, das Ultimatum verstreichen lassen und dann das Feuer eröffnet. Den ganzen Vogel durchsiebt. Die Terroristen, die Passagier, die Besatzung, alle tot. Seitdem wurde kein israelisches Flugzeug mehr entführt.
Ich sagte: "Ich bin Johnny Depp." und zwirbelte Truman meine Rückhand ins Gemächt. Er glotzte mich an, als hätte ich ihm auf die Schuhe gepinkelt, oder eben ins Gemächt geknüppelt, und sackte wie eine leere Khakihose in sich zusammen.
Eine beinahe unheimliche Stille legte sich über Truman und mich. Die Ruhe, die auf ein Massaker folgte. Ich ließ meinen Blick schweifen und triumphierte, während Truman sich embryonal auf dem Boden der Halle krümmte und sich wünschte, zu sterben.
Es gibt Töne, die Stille zerreißen. Aber es gibt auch Töne, die sich zu der Stille gesellen, an ihrem Rand entlang schweben, sich an sie schmiegen, mit ihr tanzen und eins werden.
Der Ton, der dieser Stille folgte, zerfetzte sie, wie Krallen auf einer gelben Schiefertafel.
Ein Hilfeschrei. Er kam von draußen.
Teil 5.
Ich zog die Gabel aus dem Glas wie Excalibur aus dem Stein und schoss zur Tür. Auf dem Weg dahin wurde mir erst klar, womit ich es zu tun haben würde: Zwei gewaltige Hunde attackierten eine Passantin. Die Hunde wogen zusammen ungefähr vier Zentner und hatten Gesichter wie Malcolm McDowells Mutter. In meiner Erinnerung trugen sie Stachelhalsbänder.
Ich fragte mich, wie es mir gelingen sollte, gegen sechs Köpfe und sechs Kiefer mit der Druckentwicklung jeweils eines Pianos, das aus dem 12. Stock fiel, fertig zu werden.
Der Anblick der Frau in Not ließ mich zwar meinen Namen vergessen, erinnerte mich aber immerhin daran, dass ich nicht gegen Zerberi antrat. Nur gegen zwei Kampfhunde, wahrscheinlich auf Crack. Die Kleine versuchte eben, ihren Kopf aus dem Maul des einen Hundes zu ziehen.
Dies war ein Zeitpunkt für altmodische Simplizität.
Ich verpasste dem anderen einen Tritt aus dem Lauf und traf ihn am Hals. Er flog mit einem Winseln wie ein alter Wetterhahn aus meinem Blickfeld. Ich wirbelte herum und jagte dem zweiten Köter die Gabel in die Rippen.
Ich pfählte ihn. Abgang zweiter cracksüchtiger Kampfhund.
Ich blickte ihm verwirrt nach, während das Adrenalinrauschen und das aus meiner Militärzeit bekannte "Töte! Töte!" in meinen Ohren verebbte. Wie surreal ein vierbeiniges Geschoss aus Muskeln und Fell doch aussieht, wenn es einen sonnigen Bürgersteig hinuntergaloppiert, so dass ihm unbescholtene Fußgänger ausweichen müssen wie einem schlingernden Auto. Mit einer Gabel in der Seite wie die Lanze eines Picadore.
Dann wandte ich mich dem Mädchen zu. Sie war gerade dabei, aufzustehen. Ich ließ sie machen und sah ihr dabei zu. Das war das mindeste. Sie war eine von denen, die einen Bischof dazu bringen konnten, eine Brandbombe durch ein Kirchenfenster zu schmeißen, soviel war klar. Ihr Gesicht war messerscharf geschnitten und vage osteuropäisch. Hieß bestimmt Nastassja. Sie sah aus, als würde sie lieber heute als morgen nach Tinseltown trampen und dort vermutlich als "Begleitservice" irgendeines fetten Produzentenschweins enden, das sie mit Versprechen hinhielt, sie würde demnächst mit Colin Farrell drehen. Sie war zwar exklusiv wie ein Briefkasten, aber ihre Handgelenke waren das, was Sinatra in Ol' Man River zwischen "bend your knees and bow your head" mitschwingen lässt. Sie stand endlich und sagte mit einer Stimme wie eine Katze, die nach einer durchzechten Nacht vom Telefon geweckt wurde: "Sie haben da ein Glas Babynahrung."
"Und Sie lenken durch ihren prätentiösen Ausschnitt meine Aufmerksamkeit auf ihre Brüste."
"…"
"Tut mir leid. Ich dachte, dies wäre ein Festival der Offensichtlichkeiten."
"Danke. Für das mit den Hunden."
"Da nich' für." Ich beäugte meinen Capote, dachte an die Gabel in der Flanke dieses Biestes und wurde von einer heftigen Welle des Bedauerns erfasst. Sie war schnell vorbei und ich haute den Drink mit stoischer Entschlossenheit weg.
"Ist das Alkohol?"
Ich wunderte mich sehr, warum sie das fragte. Ich war ihr mittlerweile so nah, dass sie meine Fahne riechen musste. Das war keine Fahne, sondern eher ein Banner. Oder, wie man in Schweden sagte, eine Standarte. Doch ich spielte das Spiel vorerst mit.
"Whiskey."
"Sie trinken dieses Zeug so früh?"
"Weißt du, Schätzchen, wenn man so viel trinkt wie ich, muss man früh anfangen."
"Verstehe…"
"Das bezweifle ich. Ich bin nur der Meinung, ein Mann sollte mindestens zweimal im Jahr betrunken sein, aus Prinzip. Sonst fängt man an, abfällig darüber zu denken."
"Interessant."
"L'art pour l'art", sagte ich mit einem Schulterzucken.
"Wie heißen Sie?" fragte sie und hielt mir ihre Hand hin. Wir standen so nah beieinander, dass sie dafür einen kleinen Schritt zurückgehen musste und trotzdem mit ihren Fingerspitzen meinen Mantel berührte.
Ich sagte es ihr. Ihre Augen wurden groß wie Einfamilienhäuser, aber das war ich gewohnt.
"Nastassja." Auch das überraschte mich nicht. Ein Name, bei dem sich die Leute bekreuzigen sollten.
"Ich sag's dir am besten gleich, bevor wir uns in irgendwas verrennen: Ich hab mich sterilisieren lassen."
"Oh?" Cary Grant hat immer gesagt, man solle den Damen erzählen, man sei impotent, und sie würden nichts unversucht lassen, dich vom Gegenteil zu überzeugen. Monroe ist auch immer drauf reingefallen. Die guten alten 50er.
Ich blickte schnell über die Schulter in die Hotelhalle. Die Rotröcke hatten sich um Truman, gescharrt wie brasilianische Straßenkinder um weiße Touristen. Ich packte Nastassja am Arm und zog sie mit der sanften Gewalt eines Berggorillamännchens mit. Sie gaffte mich an, als würde sie überlegen, das zweite Mitglied der Society for Cutting up Men zu werden, nach diesem Miststück, das Warhol abgeknallt hat.
"Wir sind noch nicht in Sicherheit, Schätzchen."
"Haben Sie Ärger?"
"Ich brauche eine Assistentin, die mit mir fährt, keine Ahnung wohin. Interesse?"
"Keine Ahnung wohin? Soll das ein Witz sein?"
"Nein. Jack Kennedy hat sich 1200 Havanna-Zigarren von seinem Pressesprecher besorgen lassen, bevor er das Kuba-Embargo unterschrieb; auf Capones Visitenkarte stand "Gebrauchtmöbelhändler". Verstehst du so langsam, worauf ich eigentlich hinaus will?"
"Ich denke schon. Wie ist die Bezahlung?"
"Extrem gut."
"Also gut, ich bin dabei. Aber nur, solange ich will. Wohin geht’s?"
"Ich hatte die vage Idee, zum Pazifik zu fahren und darin zu ertrinken. Oder im peruanischen Regenwald ein Opernhaus zu bauen und Tony Clifton altes Zeug von Caruso singen zu lassen. Clifton hat schon zugesagt. Vielleicht geh ich auch zu 'nem Dinner mit dem Präsidenten."
Inzwischen waren wir an meinem Buick Century angekommen. Sie ließ sich in den Sitz fallen wie ein britischer Lord eine Pfeife anzündet und fragte: "Wer ist eigentlich gerade Präsident?"
"Keine Ahnung."
Ich setzte mit dem Verve einer Garagenband Ende der Siebziger, deren Namen man noch nie gehört hatte, aus der Parklücke. Als ich die Auffahrt der Sonne entgegen hochbretterte, fiel mir die Geschichte aus dem Falklandkrieg ein, bei der eine Granate in einem Trupp Briten landete. Einer schrie: "Ich hab mein Bein verloren!" und ein anderer rief zurück: "Nein, hast du nicht. Es ist hier drüben!"
Alle lachten miteinander, der Krieg wurde beendet und seitdem herrschte Frieden auf der Welt.
Vor dem Hotel irrten zwei Angestellte umher, wahrscheinlich von einem keuchenden Truman bis zum Hals mit Lügen vollgestopft. Ich dachte über eine Konfrontation nach, aber da fiel mein Blick auf das Mädchen neben mir.
Ich hatte jetzt Verantwortung zu tragen.
Wir fuhren über eine Brücke, die über einen Fluss führte. Ich bot Nastassja eine Zigarette an, die sie auch annahm, und drehte das Radio auf.
Ich weiß noch, dass ich daran denken musste, was ich tun würde, wenn der Fluss voll Whiskey wär.
Gewidmet Dr Hunter Stockton Thompson, Roger Ebert und dem idealen Leser.
Geändert von Dryden (08.10.2007 um 14:48 Uhr)
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Ritter
So, hab's eigentlich schon vor längerem gelesen, aber nun finde ich endlich Zeit, hier zu antworten (auch wenn's keine ellenlange Mega-Kritik geben wird)
Also Teil 3-5 sind genau so geil wie die ersten beiden Teile, die Geschichte ist einfach der Hammer, ich frage mich wirklich, wie man auf solche Ideen kommen kann...
Der Text ist mir wie schon gesagt, manchmal ein bisschen zu hoch, aber das macht nun wirklich nichts, eigentlich hab ich die Geschichte auch nicht in cleanem Zustand gelesen, aber dieser Gemütszustand passte hervorragend zu deiner Geschichte.
Auch das Ende (das "richtige" Ende jetzt
), finde ich nun gut. Nicht aussergewöhnlich super abgeschlossen, aber zumindest besser als bei "In den Staub" und nicht so abgehackt, wie dort.
Alles in Allem eine herrliche Geschichte im Stile von "Fear and Loathing" oder anderen Drogengeschichten. Jedenfalls für mich.
Ach ja, was mir aufgefallen ist, du setzt ab und zu die Kommas an komischen Orten, wo sie eigentlich nicht hingehören. Das störte ab und an den Lesefluss. Mehr zu meckern gibt's aber nun wirklich nicht
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Kämpfer
Besten Dank. Schön, dass es unterhielt.
Die "Ideen" sind nicht, wie du vielleicht denkst, Einflüsterungen diverser Kräuter.
Sind, wie der Name schon sagt, größtenteils nicht mal meine.
Das ist nur aus dem Zeug zusammengesetzt, das mir dummerweise anders nicht aus dem Kopf ging.
Lies mal Hunter Thompsons Kingdom of Fear.
Geändert von Dryden (22.10.2007 um 11:45 Uhr)
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