„Ihr seid … zurückgekehrt.“, sagte sie mit Freude auf dem blassen Gesicht, „Ist der Krieg vorbei … Kommandant Mullen?“
Ich wich erschrocken zurück.
„Ich… Ich bin kein Kommandant, sondern Archäologe. Aber mein Name ist Mullen, Isaac Mullen.“
„Wo ist der Kommandant?“, fragte sie verwirrt, „Wo ist … Siegfried Mullen?“
„Ich kenne keinen Siegfried Mullen.“, war meine ehrliche Antwort. Entweder war es ein sehr entfernter Verwandter oder einfach Zufall. Mein Stammbaum war mir in diesem Moment reichlich egal, es gab wesentlich größere Rätsel zu lösen. Ich verdrängte die Frage nach dem Krieg vorerst, auch wenn diese Überlegung ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hervorrief, das Mädchen schien schon enttäuscht ob der Tatsache, dass ich nicht ihr „Kommandant“ war.
„Wie ist dein Name?“, fragte ich schnell.
„Agatha.“
Wer zur Hölle nannte sein Kind Agatha? Aus irgendwelchen Gründen war das genau die Bezeichnung, die ich mit einer alten Frau assoziierte, die mir in meiner Kindheit immer den Fußball gestohlen hatte. Das war allerdings schon zwanzig Jahre her und ich hatte ehrlich gesagt gehofft, dieser Name sei inzwischen ausgestorben.
„Was ist das hier? Und warum warst du in diesem Container?“, sprudelte es aus mir heraus. Agatha hielt sich den Kopf und schüttelte ihn dann vorsichtig im Schein des schwächer werdenden Feuerzeuges.
„Ich erinnere mich nicht mehr…“
„Ich verstehe… Lass uns erst einmal nach oben gehen. Bald ist es hier wieder stockdunkel.“
Sie nickte verängstigt und folgte mir zu der Treppe. Seltsam. Dieser Siegfried Mullen musste sehr wichtig für sie gewesen sein, wenn sie trotz ihrer Amnesie seinen Namen noch wusste. Oder aber sie hatte mich tatsächlich mit ihm verwechselt. In jenem Fall sollte ich meine Ahnenliste nach diesem kleinen Ausflug vielleicht doch einmal etwas genauer unter die Lupe nehmen. Was zur Hölle geschah hier überhaupt?
Jede Stufe zurück in den Kaminsaal machte mir klar, wie obskur die Situation eigentlich war. Die Petroleumlampe ließ sich erst entzünden, als wir fast wieder oben waren, und so wandte ich mich noch einmal um. Das Wort „Lagerraum“ kam mir in den Sinn, ein wenig makaber in Anbetracht der Dinge, die man dort unten gelagert hatte. Während ich in Gedanken noch über Raumbezeichnungen philosophierte, drang plötzlich ein leises Klacken an mein Ohr. Agatha war vorgelaufen und schaute verwundert zu Boden, als die Stufe unter ihren Füßen einen Finger breit herabsank. Bevor wir irgendwie reagieren konnten, erklang ohrenbetäubendes Donnern, dann erfüllten die Flammen einer Explosion den Gang und schleuderten mich hinauf. Ich riss das Mädchen ungewollt mit mir und knallte unter gewaltigem Scheppern quer durch den Kaminraum in die Flügeltüren des Gebäudes. Schmerz schoss durch mein Rückgrat, als ich vor der Treppe wieder auf dem Waldboden aufkam und sich die Holzsplitter auf dem Vorplatz verteilten.
„Alles in… Ordnung?“, quälte ich mir hervor, und das Mädchen, dass nur verwirrt in die zugewachsene Schneelandschaft starrte, nickte traumatisiert. Natürlich war alles in Ordnung. Immerhin war sie auf mir gelandet, nachdem ich den „Weg“ durch die Eingangstür bereits mit meiner Wirbelsäule freigemacht hatte. Ihr Körper zitterte, als sie langsam zwischen den Statuen hindurch schritt, die den Hof des Puppenhauses säumten.
„Was ist hier geschehen?“, fragte sie nur.
„Nichts. Jedenfalls nicht in den letzten Jahrzehnten, Kleine. Wärst du so nett, mir aufzuhelfen? Ich würde gern wissen, wieso ich gerade durch die Eingangshalle geschleudert wurde.“
Das Mädchen realisierte jetzt erst, dass die Penetration einer Holzpforte nicht zu den angenehmsten Dingen im Leben eines Mannes gehörte, und stützte mich bei dem Versuch, aufzustehen. Offenbar war wenigstens nichts gebrochen, die Schmerzen hielten sich in Grenzen.
„Lass uns hinein gehen.“
Ich tat einige Schritte, bemerkte dann aber, dass sie mir nicht folgte. Die Augen der Kleinen waren auf das Anwesen gerichtet, ihr Mund stand offen, als sähe sie einen manifestierten Alptraum.
„Agatha! Komm schon, hier ist es kalt, aber verschwinden können wir später immer noch. Komm mit rein.“
Mein Ruf holte sie aus der Starre. Bald nickte das Mädchen widerstrebend.
„Die Fenster sind… kaputt.“, bemerkte sie, „Und der Putz ist abgebröckelt.“
„Und?“, fragte ich nur und klopfte mir dabei den Schnee vom Mantel.
„Haben sie Bomben auf uns geworfen?“
Unwillkürlich zuckte mein Körper zusammen. Ich erinnere mich heute noch gut, dass mir in diesem Moment völlig klar war, dass ich kein gewöhnliches Kind vor mir hatte, auch wenn mein Verstand natürlich noch ein wenig länger nach logischen Erklärungen suchte.
„Vielleicht…“, antwortete ich vorsichtig, „Ich bin gerade erst hier angekommen.“
Wir betraten abermals den Kaminsaal. Agathas Blicke wanderten durch den Raum, ihre Füße hinterließen Abdrücke im Staub. Der geheime Eingang im Kamin war völlig verschüttet, drumherum lagen Trümmer und nur die steinerne Bestienfratze glotzte noch immer von ihrem kaputten Sockel, als hätte ihr ein sadistisches Herrchen Drogen in den Napf getan. Ich erinnerte mich an den Mechanismus, den das Mädchen beim Verlassen ihres Gefängnisses in Kraft gesetzt hatte. Offensichtlich war irgendjemand bestrebt gewesen, diesen Raum zu vernichten, sobald Agatha nicht mehr darin weilte, mein Gewicht auf dem Hinweg hatte schließlich nicht genügend Stoff für eine Explosion geliefert, und das lag gewiss nicht an guter Ernährung oder dem leidlich trainierten Körper eines Archäologen.
„Wir haben oft am Kamin gesessen.“, sprach das Mädchen plötzlich. Ihre Augen weilten in der Ferne.
„Hm?“
„Er hat uns Geschichten erzählt. Der Kommandant hat uns wunderschöne Geschichten erzählt.“
„Wen… meinst du mit ‚wir’, Kleine?“, traute ich mich zögerlich nachzufragen.
„Ich… weiß es nicht mehr.“
Eine einzelne Träne verließ ihr Auge.
„Ich bin nicht dumm, Herr Mullen. Ich sehe, dass wir hier alleine sind. Ich sehe auch, dass hier… lange niemand mehr war. Ich weiß nicht, wer sie sind… Sie tragen einen jüdischen Namen, sehen aber aus wie der Herr Kommandant. Und es ist Winter.“
„Winter…?“, fragte ich nach, den Rest ihres Wortschwalls erst langsam verarbeitend.
„Als ich die Augen geschlossen habe…“, flüsterte Agatha, „Hat die Sonne geschienen.“
Sie wandte sich ab und eine Traurigkeit erfüllte mein Gemüt.
„Wir haben den Krieg verloren, nicht wahr?“
Bevor ich etwas erwidern konnte, fuhr sie fort.
„Der Führer ist tot. Die Russen haben uns überrannt. Der Kommandant meinte, so würde es kommen. Ich habe ihm nicht geglaubt, aber er hat nur gelächelt. Genau so, wie sie vorhin gelächelt haben.“
Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, als das Mädchen mit Schluchzen begann.
„Wie lange ist es her?“, schrie sie, dass es von den Wänden widerhallte, „Fünf Jahre? Zehn? Der Kommandant meinte, ich würde erst wieder aufwachen, wenn die Gefahr vorüber ist!“
„Agatha!“, stoppte ich den Monolog und legte ihr die Hände auf die Schultern, „Reiß dich zusammen. Der zweite Weltkrieg ist seit über sechzig Jahren Geschichte! Die Nazis sind zerschlagen, es gibt keinen Grund mehr, Angst zu haben.“
Die Worte, die meinen Mund verließen, erschienen mir selbst ein wenig lächerlich, aber ein einziger Blick in die entsetzten Augen des Mädchens ließen mich alle Zweifel in Richtung Vernunft vergessen. Was auch immer mit ihr passiert war, ihre Geschichte war zu mindestens nicht ausgedacht. Nicht, dass jener Umstand das Ganze vernünftiger machen würde, aber er half mir, sie nicht auf der Stelle auszulachen.
„Sechzig Jahre…“, wiederholte Agatha ungläubig.
„Der Rest der Welt hat das Regime einfach unter sich begraben, wie zu erwarten war, wenn man einen Krieg an mehreren Fronten führen möchte. Hitler hat sich erschossen. Auch wenn einige Spinner meinen, er würde irgendwo mit Elvis und Einstein an einem Tisch sitzen und seinen Schnurrbart verspielen.“
„Elvis…?“, fragte sie misstrauisch, „Ist das ein Amerikaner?“
Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Dieser Versuch, die Situation ein wenig aufzuheitern war daran gescheitert, dass Agatha die letzten 60 Jahre in einem überdimensionalen Milchtank verbracht hatte, jedenfalls schien es so.
„Ja. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie sich die Mädchen auf ihn geschmissen haben, als er endlich hier war.“, grinste ich ihr ins Gesicht.
„Hat er… den Krieg gewonnen?“, hakte sie verblüfft nach und ich musste lachen.
„Nein, Agatha, nicht wirklich. Er war Musiker. Ich habe ihn nur in einem Atemzug mit Hitler genannt, weil beide wohl häufiger gesehen werden als das Monster unter dem Kinderbett, und das obwohl sie seit Jahrzehnten tot sind.“
Einen kurzen Augenblick glaubte ich, ein Lächeln in ihrem Mundwinkel zu erkennen, dann wurde das Mädchengesicht wieder ernst.
„Für diese Worte hätte man sie erschießen können.“
„Richtig, hätte man. Aber heute sperren sie lieber Leute ein, die Hitlers Überreste immer noch zu lieb haben.“
„Wer sperrt solche Leute ein? Die Kommunisten?“
„Nein.“, grinste ich, „Die sind inzwischen auch schon wieder verschwunden, haben sich aber ein wenig länger gehalten.“
Sie schwieg und zog ein altes Paar Hauslatschen aus einem Schutthaufen.
„Ich kenne diese Schuhe.“
Die Sohle fiel ab und ließ eine weitere Staubwolke aufwirbeln, das Mädchen schlüpfte trotzdem hinein.
„Warum lebe ich noch?“
Ich wusste keine Antwort und sondierte stattdessen den Raum. Ich würde dieses Haus nicht verlassen, bis ich ihr die Ungewissheit genommen hatte, und sei es nur aus rein egoistischem Wissensdurst. Andernseits tat sie mir wirklich leid. Was auch immer geschehen war, Agatha hatte in einer einzigen „Nacht“ ein halbes Jahrhundert Menschheitsgeschichte verpasst. Hoffentlich hat sie wenigstens schön geträumt, schoss es mir makabererweise durch den Kopf.
„Die Küche.“, sagte das Mädchen plötzlich, „Ich erinnere mich an Geschirr.“
„Muss im dritten Reich ja ein unglaublich belustigender Küchendienst gewesen sein, wenn es das erste ist, das dir nach sechzig Jahren wieder einfällt.“, spöttelte ich, aber sie starrte mich nur ausdruckslos an, als wäre ihr Humor völlig fremd.
„Ich habe einfach nur die Tür gesehen.“, war die ernüchternde Antwort mit einem Fingerzeig auf eine Pforte links vom Kaminsaal. Mir fiel auf, dass Agathas Haare nicht, wie ich zuerst gedacht hatte, blond waren, sondern heller, beinahe weiß wie bei einer alten Frau. Vielleicht eine Nebenwirkung ihrer „Lagerhaltung“. Gemeinsam betraten wir die Kochstube, die Tür machte nicht nur keinen Widerstand, sie fiel beinahe aus der Halterung, als ich sie mit sanftem Druck einschüchtern wollte. Beinahe alles, was vom flackernden Licht der Lampe erhellt wurde, war zerstört. Die Tische in Trümmern, zerstörtes Porzellan und Glas im ganzen Raum, ein Keramikhaufen, der vor langer Zeit vielleicht einmal irgendein Becken gewesen war. Agatha ging auf ihn zu und strich vorsichtig darüber.
„Ich erinnere mich.“

Wir standen beide hier.
Mein… Bruder!
Mein Bruder Willhelm, er war auch hier!
Ich nahm einen Teller und schrubbte ihn mit dem Tuch richtig ab, bis er fast schon glänzte, dann gab ich ihn Willhelm, der ihn trocken machte. Wir haben viel gelacht und eine Menge Schabernack mit dem Geschirr getrieben. Trotzdem ging alles gut.
Einmal habe ich aber einen Teller fallen gelassen. Er ist gleich in tausend Teile zersprungen, und wenn Willhelm nicht gleich am Lachen gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich weinen müssen.
Aber dann kam er.
Der Kommandant.
Mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht zeigte er mir, wo das Kehrblech und der Feger lagen, damit ich die Scherben schnell wegmachen konnte, noch bevor es irgendjemand bemerken würde.
Wir hatten viel Geschirr. Es ist niemandem aufgefallen, und Herr Mullen hat es auch nicht verraten.
Danach haben mein Bruder und ich aber nur noch selten Geschirr abgewaschen und die meiste Arbeit den Dienstmädchen überlassen. Die konnten das ja auch besser.

„War dieser Kommandant ein Teil eurer Familie?“, fragte ich nach, als Agatha mich wieder anschaute.
„Familie…? Ich weiß nicht. Aber ich glaube nicht.“
„Kannst du dich nicht erinnern, wieso er bei euch war?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf und ich beließ es dabei. Bevor sie sich jedoch in Erinnerungen verlieren konnte, die längst zerstört waren, versuchte mein Kopf beinahe instinktiv, einen neuen Anhaltspunkt zu finden.
„Du hast von deinem Bruder erzählt. Erinnerst du dich sonst an niemanden? Eine Mutter vielleicht?“
„Nein…“, antwortete sie bedrückt, „Aber wir haben immer nur abgewaschen, wenn es davor ein großes Essen gab.“
Da war der Punkt. Er sprang mir förmlich ins Gesicht.
„Denk an das Essen, Kleine. Dann fällt es dir bestimmt wieder ein!“
Ihre Gesicht hellte sich auf.
„Die Essstube.“, rief sie und ich lächelte.
„Das ist gut, Agatha. Führ mich in die Essstube.“
Zum wiederholten Male bewegten wir uns durch die Eingangshalle, diesmal zur Tür auf der rechten Seite. Wenn Agathas Erinnerungen weiter so systematisch zurückkamen, konnte ich mir eine genauere Untersuchung des Anwesens sparen. Inzwischen war auch die Fratze am Kamin nur noch lächerlich.
Eine große Tafel aus von Würmern zerfressenem Mahagoni charakterisierte die Esstube. An den Wänden hingen ein paar alte Gemälde, in einigen Regalen prangten Zinnfiguren oder andere Sammlerstücke. Wirklich verwunderlich, dass hier bisher noch niemand geplündert hatte, wahrscheinlich gab es nicht mal eine Hand voll solcher unversehrter Gebäude in Brandenburg. Ich stoppte meinen Schritt und Agatha drehte sich fragend um.
„Niemand wusste mehr von diesem Haus, Mädchen, nicht mal die Menschen, die sich gern Geschichten erzählen. Das heißt, die Aufzeichnungen sind vor Kriegsende vernichtet worden, und zwar äußerst gründlich. Kannst du dir vorstellen, warum?“
„Nein.“, antwortete sie ehrlich und zuckte mit den Schultern, wären ihre Schritte sie um den Tisch trugen. Ich erkannte ein Tablett, das wohl in aller Eile zurückgelassen war, die teure Keramik stand noch immer darauf und nur die dunklen Rückstände innen verrieten, dass die Stücke sogar gefüllt gewesen waren, als man das Puppenhaus im Stich gelassen hatte. Unter einer Tasse lag ein kleiner, vergilbter Zettel. Ich rollte ihn vorsichtig auf und war froh, die Schrift noch lesen zu können.
Bei Sonnenuntergang, wo die Klingen den Hirsch durchstoßen.
Als sei es das normalste der Welt. Vielleicht eine Art und Weise, in den zwanziger Jahren die Telefonnummer zu hinterlassen, lächelte ich, manche Dinge änderten sich wohl niemals. Ich ließ den Zettel verschwinden, als Agatha mich fragend anschaute.
„Erinnerst du dich an etwas?“, lenkte ich sie ab, eine Technik, die man schon in der Schule perfektionieren musste, wenn man während des Unterrichtes ungestört lesen wollte.
„Ja.“, nickte das Mädchen und spielte an ihrem Hemdzipfel herum, „Es war schön damals.“
Sie lächelte nicht, als sie jene Worte aussprach, und ich konnte verstehen, dass sie dabei war, zu realisieren, dass jegliche Erinnerung durchaus viel älter als ihr erwachsener Begleiter war. Nicht der erste seltsame Gedanke an diesem Tag, aber wohl einer der verstörensten. Gnädigerweise ging sie dazu über, mir ihre Erlebnisse mitzuteilen.

Wir lebten mit unserem Vater hier. Er war Wissenschaftler und wir sahen ihn meistens nur zum Abendbrot.
Dann versammelte sich die ganze Familie am Tisch, er saß genau hier, an der Spitze, während wir an der langen Seite speisten.
An unsere Mutter erinnere ich mich nicht. Ich glaube, sie war damals bereits lange tot.
Wenn Herr Mullen hier war, saß er am anderen Ende der Tafel und unterhielt sich meistens mit unserem Vater über Politik und Wissenschaft. Dinge, die wir nicht verstanden, aber es war trotzdem schön, denn wir hatten sonst sehr selten Besuch.
Eigentlich nie.
Die Hausmädchen und die anderen Bediensteten waren immer die selben, wir kannten jeden Burschen und jedes Mädel beim Namen, nie kam jemand hinzu, nie wurde jemand entlassen. Erst als wir älter waren, sind sie fast alle gegangen.


Agatha hatte sich auf ihrem alten Stuhl niedergelassen, und ich war sehr froh, dass die Sitzgelegenheit nicht sofort nachgab, um das Mädchen desillusionierender Weise auf den Hosenboden zu setzen. Man sah ihren Augen an, dass sich all die vergangenen Dinge in jenem Moment hinter ihrer Stirn abspielten.
„Die Endlösung.“, sagte sie dann plötzlich ohne jeden Zusammengang, was abermals meinen Herzschlag beschleunigte, „Der Kommandant hat davon erzählt, dass die Partei endlich eine Möglichkeit gefunden hätte, all ihre Probleme auf einmal loszuwerden. Offenbar hat es nicht geklappt…“
Ich überlegte lange, wie ich ihr darauf antworten sollte. Und ich war irgendwo froh, dass hier ein kleines Mädchen vor mir saß und keine ideell verblendete Erwachsene, obgleich ich ihr Alter in Gedanken inzwischen auf etwa dreizehn Jahre korrigiert hatte. Ich entschied mich für die nüchterne Methode, ohne jede populistische Ausschmückung und senkte den Kopf.
„Die Endlösung hat einigen Millionen Menschen das Leben gekostet.“
Sie starrte mich mit offenem Mund an, was mich aus irgendeinem Grund zu einem schiefen Grinsen verleitete.
„Geklappt hat es trotzdem nicht. Und die Menschheit ist sich inzwischen einig, dass es so nicht unbedingt der schlechteste Ausgang war. Immerhin reden wir hier von Dingen, gegen die sich selbst die bestialischsten Kriege wie romantische Erzählungen aus 1001 Nacht anhören.“
„Das glaube ich nicht.“, antwortete sie starr.
„Selbst die Menschen in Deutschland, und ich meine all jene, die NICHT die Hälfte des letzten Jahrhunderts verschlafen haben, benötigten einige Jahre, um all das zu glauben. Also lass dir Zeit.“
Agatha senkte den Kopf.
„Der Kommandant hätte so etwas niemals getan. Er war immer nur um unser Wohlergehen besorgt.“
„Das dachten die meisten Leute auch von Hitler, bevor er tagtäglich ein paar tausend Menschen mit Giftgas umgebracht hat.“
Ich vermied es bewusst, darauf hinzuweisen, dass man den Genozid mit faschistischen Vorstellungen gerechtfertigt hatte. Es war eine Sache, einem Mädchen, dass direkt aus dem zweiten Weltkrieg in die Neuzeit gekommen war, die Tatsachen zu erklären, aber es war eine ganz andere Geschichte, ihr auch beizubringen, dass die Ideologie, unter der sie aufgewachsen war, nicht gerade das humanistische Optimum darstellte. Und dass Humanismus keine psychische Krankheit war. Ich grinste in mich hinein. Das war doch mal ein Präzedenzfall, der die Lehrbücher über Erziehung verändern würde.
„Die Menschen heute halten nicht mehr besonders viel von unserem Führer, nicht wahr, Herr Mullen?“, fragte sie mit dem Blick eines naiven Kindes. Es war seltsam, die gleiche Anrede spendiert zu bekommen, die sie vorher einem offenbar hochrangigen Nazi-Kommandanten vorbehalten hatte.
„Nein.“, antwortete ich trotz allem ein wenig belustigt, „Jedenfalls nicht jene, die über ein Mindestmaß an gesundem Menschenverstand und Allgemeinbildung verfügen.“
Ich fragte mich, ob sich die Alliierten bei der Aufklärung damals ebenso verlustiert hatten, aber wahrscheinlich nicht. Die Schrecken des Krieges waren wohl noch zu greifbar gewesen, als dass man hätte darüber lachen können. Für Agatha galt vielleicht das Gleiche, wenn auch in einem anderen Licht, und ich beschloss, den Zynismus ihr gegenüber hinten an zu stellen.
„Um genau zu sein“, ergänzte ich, „nennt man euren ‚Führer’ jetzt vorzugsweise einen Psychopathen.“
Da war es wieder, das winzige Schmunzeln, nur einen Augenblick. Ich verkniff mir jegliches Grinsen und griff stattdessen einen Gedanken auf, der mir eher gekommen war.
„War Gregor Hausmann dein Vater?“
Sie starrte mich an und nickte dann euphorisch.
„Ja, sie haben Recht! Ich erinnere mich, Hausmann ist mein Nachname. Vater hieß Gregor, auch wenn ihn die Bediensteten immer nur Doktor nannten.“
Ich nickte gedankenverloren.
„Gut… Er nannte einen Begriff, Puppenhaus. Kannst du mir dazu irgendetwas sagen?“
Agatha sprang auf und schleuderte den Stuhl um. Bevor ich verstand, dass sie auf das Wort reagiert hatte, verließ ein lautloser Schrei ihre Kehle und sie stürzte wie von unsichtbaren Fäusten getroffen in ein Regal, die Keramik mit sich reißend. Es dauerte noch einige Augenblicke, ehe mein Verstand die Starre überwunden hatte, dann ergriff ich ihren Arm und verhinderte mit allen Kräften, dass jenes nun wild um sich schlagende Mädchen die gesamte Einrichtung demolierte.
„Agatha!“
Mein Ruf erschall durch den gesamten Ostflügel des Gebäudes, aber das Mädchen wurde nicht ruhiger. Als mich ein kleiner Fuß unkoordiniert zwischen den Beinen traf, war es um die Selbstbeherrschung geschehen und ich versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, gerade rechtzeitig bevor mich die Schmerzen im Lendenbereich zu Boden zwangen. Ihre Augen starrten nun ins Leere, eine einzelne Träne lief die Wange entlang. Als sich das Zittern nach unendlich erscheinenden Momenten wieder zu einem schnellen Atmen wurde, schien sie die Kontrolle über den Körper zurück zu gewinnen.
„Ich habe mich nur.. gewehrt.“, lächelte ich, sofern es mir möglich war. Agatha hielt sich die Wange und stand dann auf.
„Danke.“, war die knappe Antwort, „Und Entschuldigung vielmals. Ich wollte das nicht, Herr Mullen.“
„Ist in Ordnung. Aber es tut trotzdem höllisch weh.“
Das erste Mal seit sechzig Jahren umspielte ein unverhaltenes Lächeln ihre Züge.

Puppenhaus.
Ich erinnere mich nicht. Aber ich glaube, ich habe es schon damals vergessen. Mit Absicht.
Ein Projekt meines Vaters, ein großes Projekt.
Für die Partei.
Um was ging es? Willhelm und ich haben immer unsere Späße gemacht, dass Vater oben in seinem Labor mit Puppen spielte, aber wir hatten auch nicht die geringste Ahnung, um was es wirklich ging.
Was auch immer es war, ich möchte mich nicht erinnern.
Das einzige, an das ich mich nicht erinnern möchte.
Ich habe Angst.
Nur das Wort hat mir Dinge vor Augen geführt, die ich niemals sehen wollte.


Den Rest des Abends stellte ich meine Untersuchungen ein, das Puppenhaus erwähnte ich mit keinem Wort. Eher würde mir die Brechstange auf mysteriöse Art und Weise in die Hände fallen und ich könnte die Einrichtung selbst zu Kleinholz verarbeiten, das brächte wenigstens eine perverse Art von Befriedigung. Mit einem kleinen Mädchen in Berserkerwut dagegen war nicht viel anzufangen. Wir hatten Decken aus meinem VW geholt, der Agatha übrigens sehr beeindruckt hatte wie wahrscheinlich niemanden seit seiner Herstellung, und die dicken Wolltücher im Kaminsaal zu einem kleinen Schlafplatz improvisiert. Ein umfangreicher Vorrat an Petroleum aus der Küche erlaubte mir sogar, die Lampe die ganze Nacht über brennen zu lassen, und so erzählten wir uns vor dem Schlafen noch ein wenig. Agatha hatte niemals viel von der Welt außerhalb gesehen, ihre Familie musste jenes Haus wohl schon lange vor der Geburt des Kindes bewohnt haben. Doktor Hausmann war Mediziner gewesen, ein ziemlich guter noch dazu, und so hatte er alles, was er brauchte, hierher geliefert bekommen, vor allem nach Hitlers Machtergreifung. Agathas Erinnerungen waren höchstens bruchstückhaft, ich hatte mit subtilen Fragen gerade einmal herausgefunden, dass ihr Vater für die Nazis gearbeitet hatte und aus diesem Grund auch nur selten aus dem zweiten Stock des Hauses herabgestiegen war, wo ich wohl sein Labor finden würde. Irgendwann am nächsten Tag. Jetzt galt es erst einmal zu verarbeiten, was geschehen war. In Anbetracht der Tatsache, dass ich jenes Anwesen mit einem jugendlichen Zeitzeugen durchstreifen konnte, war ich eigentlich bemerkenswert ruhig geblieben. Agatha schlief bald tief und fest, nur ein gelegentliches Runzeln ihrer Stirn berichtete von den Alpträumen, die das Mädchen offenbar plagten. Mitleid fand den Weg in meine Gedanken. Draußen sammelte sich der Schnee vor den verkrusteten Scheiben, gelegentlich blies ein kalter Windhauch durch die zerstörten Fenster. Ich bedeckte das Mädchen noch mit meinem Mantel, nahm dann selbst eine Decke, verdunkelte das Licht und schlief ein.
Mein krankes Hirn träumte in dieser Nacht von Nazi-Robotern und faschistischen Ritualen schwarzer Magie.
Irgendjemand hatte einmal behauptet, ich könnte nichts ernst nehmen. Beruhigend zu wissen, dass er Recht behielt.




Fortsetzung folgt...