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Mirokurator
Der kleine Junge kraulte Krätze am Halswirbel. Während D'Alessandro den blauen Angler misstrauisch beäugte, ohne dass dieser irgendwie reagiert hätte, erreichten die jüngeren Seelen das Kind.
"Der is aber knuffig!", lachte der Angelito und warf Krätze einige Male in die Luft.
"Pass lieber auf, dass er in einem Stück wieder runterkommt.", war das einzige, was Lynn verschmitzt grinsend hervor bringen konnte.
"Sei gegrüßt, mein junger Freund. Wer bist du, und warum ist dein alter Herr ... blau?"
Es war der Adelige, der mit herangekommen war und mit einer blumigen Geste auf den Angler zeigte. Das Kind grinste.
"Er ist nicht mein Vater, er ist nur ein alter Mann, der nach vier Jahren nicht von seinem Hobby ablassen konnte. Also ist er zu einem Dämon geworden."
"Ein Dämon?", fragte Jim mit sichtbarer Angst in den leeren Augen und schob sich vorsichtig hinter Lynn.
"Ja.", war die unbeschwerte Antwort, "Man nennt hier alles, was nicht mehr menschlich ist, entweder Dämon oder Gott. Oder natürlich Hund!"
Mit diesen Worten neigte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Tier zu. D'Alessandro blickte in die Augen des Dämonen und sah darin nichts. Es war kein "nichts" wie in "Augenhöhle mit nichts drin", sondern eher ein ... philosophisches Nichts. Der Mann starrte einfach nur in den Bach und warf immermal mit routinierten Bewegungen die Angel neu aus.
"Das tut er hier den ganzen lieben langen Tag?", fragte der ehemals Blaublütige.
"Sicher doch. Ein menschlicher Dämon kann nur noch das tun, was er in seinem Leben am liebsten getan hat, sonst wäre er kein Dämon geworden, sondern einfach verblasst."
"Der Philosoph Bugart E. Tannenherz verfasste im Jahre 1964 einmal ein höchst erhabenes Traktat über den psychischen Tod des Individuums. Das erinnert mich daran, während der physische Körper des leiblichen Daseins völlig intakt bleibt und weiter seinen Gewohnheiten nachgeht, ist der Geist - die ganze liebe Seele! - abwesend, der Mensch ist nicht im Stande, eigene Entscheidungen zu treffen oder auch nur Gefühle zu empfinden!"
Die jüngeren Verstorbenen bevorzugten scheinbar ein Spiel mit Krätze und dem Angelito, während D'alessandro seinen Gedanken nachging und sie ausschweifend mit Gesten unterstrich.
"Verdammt.", meinte plötzlich das Kind. Lynn folgte seinen Blicken und sah eine dunkle, braune Wolke am Horizont. Sie schien sich nahezu unmerklich über die Ebene zu schieben, aber die Tatsache, dass sie gerade noch nicht zu sehen war, legte die Vermutung nah, dass jenes riesenhafte Gebilde auf sie zukam.
"Was bei Faustens Nachttopf ist das?"
D'Alessandro war in seinem Redeschwall unterbrochen worden und starrte entgeistert zu der Aschenwolke.
"Eben ... war es noch kleiner."
"Das ist ein Kriegsfeld.", erklärte das Kind und hob sein Kissen auf, mit dem es neben dem Angler gesessen hatte, "Kriegsfelder sind schrecklich. Ich habe noch nie eins von innen gesehen, aber man erzählt sich, dass grausame Dinge dort drinnen geschehen."
Der Junge machte sich offenbar auf den Heimweg.
"Aber zum Glück sind sie nicht besonders schnell."
Inzwischen sah man, dass es sich tatsächlich um einen mehrere hundert Meter breiten Ascheschirm handelte, der in langsamer Schrittgeschwindigkeit auf sie zu kroch. Es wäre leicht gewesen, dem Feld auszuweichen.
"Oh nein!", rief D'alessandro plötzlich. Der Alte hatte mit seinen Gartenzwergen bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, meckernd krochen die Keramikgestalten über das Gras direkt auf jenes Kriegsfeld zu.
"Lass ihn doch laufen.", meinte Lynn, "Er war mir sowieso unangenehm."
Das Kind war inzwischen eiligst verschwunden, und selbst der Angler packte nun mit ausdrucksloser Behäbigkeit seine Sachen ein, um sich einen besseren Jagdgrund zu suchen.
"Mädchen! Ich bin entsetzt! Du hast gehört, was ihn dort erwarten könnte. Oder jedenfalls hast du gehört, dass es nichts tolles ist. Es wäre absolut unverantwortlich und barbarisch, einen alten Mann sich selbst zu überlassen. Kennst du denn keine Ehre?"
Die drei schauten zweifelnd dem alten Burgsberg nach, der immer weiter lief.
"Vielleicht holen wir ihn ein, bevor es hier ist....", stellte Jim in den Raum, erntete aber nur zweifelnde Blicke.
Als die Musik verklungen war, lagen dem Skelett Tränen in den Augen.
"Wie wunderschön! Ich wünschte, ich wäre wirklich zu dieser Zeit verstorben."
Cody zog eine nicht vorhandene Augenbraue in die Höhe.
"Sind sie nicht?"
"Naja."
Der Alte ließ seine Blicke unschuldig von einer Seite zu anderen kreisen.
"Ich bin vor Freude ins Koma gefallen, als ich gehört hab, dass die Mauer gefallen ist. Und dann vor drei Jahren kurz nach dem Aufwachen an Altersschwäche gestorben, als ich gerade in den Westen fahren wollte. Nicht die dankbarste Art Gottes, mich in den Himmel zu treten."
Der Padre zog entrüstet Luft in die Nase, verkniff sich aber den Kommentar.
Nach einigen weiteren Minuten Smalltalk klatschte der Alte in die Hände.
"So. Ich denke, im Gegensatz zu mir habt ihr noch nicht den Willen verloren, diese ominöse Reise anzutreten. Ich verrat euch was. Direkt hinter meinem Haus hier liegt der steinerne Wald. Warum er so heißt? Tief drin fangen die Pflanzen plötzlich an, aus Stein zu bestehen, je weiter man hinein geht, desto mehr Stein, desto weniger Holz. Manche sagen, es sei gefährlich, aber eigentlich hat kaum jemand Lust, außen rum zu laufen."
Die Verstorbenen erinnerten sich, dass jenes Waldstück nett ausgedrückt umfangreich ausgesehen hatte, so dass die Entscheidung ihrer Vorgänger nicht unklug erschien.
"Aber haltet euch vom Innersten zurück. Ich habe dort einmal einen Friedhof aus steinernen Skelettknochen gefunden. Sie sahen wirklich täuschend echt aus! Und IMMER diese verdammten Hasen!"
Als ihn die Seelen fragen anstarrten, fügte er noch einen weiteren Satz hinzu.
"Hasen. Mit roten Augen und Ohren. Sie starren alle Wanderer an, dass es einem Angst macht. Keine Ahnung, warum, mich haben sie nie angegriffen."
"Elvis!", rief er plötzlich, "Kannst du noch ein Lied von Elvis spielen?"
Der Araber starrte mit unverhohlener Abscheu auf seine neuen "Reisegefährten". Er verschränkte die Arme und beugte sich zu Belmondo.
"Wenn Mohammed WILL, dass der Berg zu Mohammed kommt, dann WIRD der Berg zu Mohammed kommen, sofern Allah nichts einzuwenden hat!"
Mit diesen Worten drehte er sich um und schlug den vorgeschlagenen Weg ein. Die anderen drei schauten sich ein wenig eingeschüchtert an und folgten ihm dann.
"Mon dieu.", zuckte Belmondo mit den Schultern, "Ein fundamentalistischer Buddhist wäre sischer 'öflicher gewesen."
Gemeinsam folgten sie dem Weg.
Viel später, als es abend wurde, erschien weiter vorne ein kleines Dorf aus fünf Häusern. Licht schien in den Fenstern und Gespräche waren zu vernehmen.
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