Noch ein Schritt. Karrod war dem Zusammenbruch nahe. Und noch einer. Lange würde er das wohl nicht mehr durchhalten…
Die ganze Nacht marschierte er nun schon im Laufschritt, immer der Spur des Wagens nach. Dass er mittlerweile in von Schnee bedecktes Gebiet gekommen war, machte es zwar erheblich leichter, zu erkennen, welchen Weg der Wagen mit der zwielichtigen Ladung eingeschlagen hatte, aber er tat auch andere Dinge: Zum Beispiel kalt sein. Seine Zehen fühlte Karrod schon lange nicht mehr und seinen Fingern erging es nicht besser – hätte er gewusst, was ihn erwartete, hätte er sich ja entsprechend vorbereiten können. Aber in Chorrol war nun weiss Gott nicht so übles Wetter wie hier, im Hochland. Dazu gesellte sich dann noch ein gewaltiges Schlafmanko – ursprünglich, vor einer langen Zeit, irgendwann einmal, wollte er ja schlafen gehen… nicht einem Wagen hinterher jagen, der doppelt so schnell wie er unterwegs war und den jemals wiederzusehen er keinerlei Garantie hatte. Das wirkte sich dann doch ein wenig auf die Motivation aus, dachte Karrod missmutig. Seine ganzen Hoffnungen bauten darauf, dass der Wagen nicht zu gut vorwärts kommen würde, da es Nacht war und der Schnee das Fortkommen erheblich erschwerte und dass die Banditen irgendwann einmal ein Lager aufschlagen würden. Ansonsten würde er den Wagen wohl nicht mehr wiedersehen.
Doch die Stimme, die er auf der Wagenfläche gehört hatte, liess ihm keine Ruhe. Jemand in einer engen Kiste, die mitten in der Nacht von mehr als zwielichtig aussehenden Gesellen transportiert wird… das schrie ja geradezu nach Entführung! Aber was, wenn er sich die Stimme nur eingebildet hatte? Besser nicht daran denken! Ansonsten wäre das Ganze hier umsonst und würde Karrod den Gedanken auch nur im Entferntesten zulassen, würde ihm wohl sämtliche Energie und Motivation, das hier noch weiter durchzuhalten, im Fluge verloren gehen. Und Holz für ein Feuer hatte er nicht und trockenes, brennbares Material hier inmitten des Schnees zu finden, war wohl mehr als utopisch.
Seine Lage war also ziemlich bescheuert.

Nach einer weiteren Stunde des Wanderns, in der Karrods Willenskraft mehr als einmal hart auf die Probe gestellt wurde, erschien in der Ferne plötzlich ein Lichtschimmer. Feuer. Das bedeutete: Ein Lager. Fragte sich nur, ob es die Banditen waren (in dem Falle sollte er sich vielleicht, nur so für den Fall, eher unbemerkt an das Lager heranmachen, sie könnten ihn ja wiedererkennen) oder nur friedliche Reisende.
Karrod näherte sich. Das Schneetreiben war wieder stärker geworden, was ihn beinahe unkenntlich werden liess. Langsam liessen sich Leute erkennen. Und ein Wagen. Schien sich tatsächlich um seine Banditen zu handeln.
Der Wagen stand am Rand des Lagers, vor einigen Büschen und zwei, drei Bäumen. Optimaler Aussichtspunkt! Er schlich sich von der Seite, auf der der Wagen stand, an das Lager heran, was kein grosses Kunststück war – schliesslich war er so praktisch nicht zu sehen und Wachen hatte es nicht. Es schien, als fühlten sich die Entführer ziemlich sicher. Das verstand er irgendwie, wer war schon so blöd und wanderte mitten in der Nacht ganz ohne Ausrüstung im Hochland herum, ausser ihm? Er verzog missmutig das Gesicht und dachte an sein Bett in der Taverne. Und an das Feuer, das im Kamin prasseln würde. Er hätte heulen können.
Am Wagen angelangt, kroch er unter den Wagen. Hinter den kümmerlichen Büschen verborgen, hoffte er, unkenntlich zu sein für die Entführer. Die sich mittlerweile vermehrt zu haben schienen! Das waren nicht mehr nur die drei Knilche von vorhin, da hatten sich wohl noch einige Kumpels von ihnen dazugesellt. Was eine Befreiung von irgendwem natürlich ungemein einfacher gestaltete. Was hatte er sich auch nur von dem Wagen hinunterwerfen lassen!
Schien, als wäre das eine organisierte Sache. Man trifft nicht einfach so eine bewaffnete Gruppe Banditen in den Bergen. Na ja, vielleicht hatten sie sich ja auch in der Kiste versteckt? Ihn würde heute nichts mehr wundern!
Mehrere Feuer brannten. Und in einer Ecke sass jemand, der nicht so recht ins Gesamtbild passen wollte. Eine junge Frau, wahrscheinlich Bretonin oder Kaiserliche, mit braunem, prächtigem Haar. Sie sass alleine in ihrem Ecken und starrte ins Feuer. Sonderlich glücklich sah sie nicht aus… und die Stimme aus der Kiste würde durchaus zu ihr passen. Ja, schien, als wäre hier wirklich etwas faul.
Sie jetzt zu befreien konnte er jedenfalls vergessen. Dafür waren zu viele Leute da. Das waren mindestens sechs, die hier ums Feuer sassen. Aber er könnte wenigstens ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken – damit sie wusste, dass er auf der Spur der Entführer war und ihm, sich dessen bewusst, bei späteren Befreiungsaktionen entgegen kommen könnte. Auf nächtliche Spaziergänge bestehen oder so was. Bloss, wie? Sie war einige Meter entfernt – er konnte sie wohl kaum rufen. Und so fixiert wie sie ins Feuer starrte, konnte er wohl kaum erwarten, dass sie ihn bald einmal zufällig erkennen würde.
Da kam ihm eine Idee. Hm. Ja, wieso nicht? Das war zwar einem Paladin nicht ganz angemessen, aber hey, was soll’s? In einem kleinen Anflug von kindlicher Freude griff er in den Schnee und bastelte eine kleine Kugel. Der Schnee war feucht, also hervorragend, um Schneebälle zu machen. Kurz fühlte er sich an seine Kindheit in Hochfels zurückerinnert… das waren noch Zeiten! Die glorreichen (Schneeball-)Schlachten seiner Kindheit, gegen die Kinder aus dem Nachbardorf… er schmunzelte.
Dann konzentrierte er sich wieder. Er musste einen Moment abwarten, in dem auch ganz sicher kein Entführer auf sein Opfer schaute. Im Schneetreiben würde der Schneeball sowieso nicht auffallen, aber sicher war sicher.
Dann – die Gelegenheit. Ein Entführer begann gerade, ein Geschichtchen zu erzählen und alle hingen gebannt an seinen Lippen. Karrod holte aus und warf – und traf! Und zwar die junge Frau mitten ins Gesicht. Verflucht! Er wollte doch nur ihre Aufmerksamkeit erregen! Das würde wohl Konsequenzen haben, wenn er sie dann mal befreit hatte…
Da schaute ein Entführer. Er hatte wohl aus den Augenwinkeln registriert, dass die Gefangene zusammenzuckte. Karrod zog sich schnell zurück. Er wusste nicht, ob sie ihn bemerkt hatte, hoffte es aber, da sie wohl in die Richtung geschaut hatte, aus der der Schnellball kam.
Aus der Entfernung nahm er nur noch wahr, dass dem Entführer die Sache wohl nicht verdächtig genug war, als dass er sich dafür vom Feuer erheben würde. Womit sein Plan eigentlich aufgegangen war. Morgen würde er die Verfolgung wieder aufnehmen, aber erst wollte er sich nun irgendwo hinlegen, um ein wenig zu schlafen.
Blieb nur zu hoffen, dass die junge Frau kapiert hatte. Eigentlich machte es keinen Unterschied, aber wenn sie wusste, dass Hilfe nahte, würde sie das vielleicht von gewissen Verzweiflungsaktionen abhalten… türmen zum Beispiel… er glaubte nicht, dass sie das schaffen würde, bei so vielen Aufpassern und, nachdem sie es erst einmal versucht hatte, würden sie sie garantiert schärfer bewachen als vorhin. Was ihm seine Aufgabe auch nicht erleichtern würde.
Er legte sich im Windschatten eines Felsens zur Ruhe. Er konnte spüren, wie der Schlaf ihn in Sekundenschnelle umfing.
Er war kurz davor, einzuschlafen, als sich plötzlich ein Grinsen in sein Gesicht stahl: Er traf noch immer verdammt gut.
Dann schlief er ein.