Aurel starrte immer noch gebannt auf das in die Steintür eingemeißelte Augensymbol und erst Arwens Ankunft bei der kleinen Gruppe riss ihn aus seinen Gedanken.
Er drehte sich langsam zu seinen Gefährten um und schaute sie an. Und ihm wurde bewusst, dass er, nun wo sie offensichtlich den Eingang zu dem Aufbewahrungsort des Artefakts gefunden hatten, seinen Begleitern nicht länger die Steintafel, die ihr Auftraggeber ihm gegeben hatte, und die Gefahr, die vielleicht hinter der Tür lauerte, verschweigen durfte.
Sein Arm fing wieder an zu schmerzen, und Aurel betrachtete den Verband, den Kiara ihm angelegt hatte. Sein Blick wanderte zu der Waldelfe, und plötzlich durchströmte ihn ein Gefühl der Sorge. Nicht betreffs ihm, er machte sich Sorgen um die Bosmer, so unbegründet dies aufgrund der Kampfkünste der Elfe vielleicht auch war.
„Nun ja, Aurel“, dachte er innerlich selbst über sich lächelnd. „Nun weißt du ja, warum du wie ein Tölpel über Steinhäufchen stolpernd durch die Ruine gewankt bist. Du hast dich unabstreitbar in diese wunderbare Elfe verliebt. Sei froh, dass deine ehemaligen Legionskameraden dich nicht sehen können. Sie würden dich beim Besuch der nächsten Taverne den ganzen Abend damit aufziehen.“
Wieder ernst geworden erzählte er den anderen Abenteurern von der Tafel und der Inschrift darauf... „Erzürne den Wächter nicht, wenn du nicht Teil seiner Legionen werden willst“.
Er konnte an den Reaktionen seiner Begleiter nicht ablesen, was diese über die Nachricht auf der Steintafel dachten, aber Aurel konnte sich nach den überstandenen Gefahren in dieser unheimlichen Ayleidenruine nicht vorstellen, dass sie die Worte auf die leichte Schulter nehmen würden.
Während Aurels Schilderungen fiel sein Blick immer wieder auf das Augensymbol auf der Tür, als ihm plötzlich etwas auffiel, was er vorher nicht bemerkt hatte. Die Pupille des Auges stellte eine Vertiefung dar, und er schaute überrascht auf die Steintafel, die er zur Verdeutlichung seiner Worte an die Gefährten aus seinem Gepäck hervorgeholt hatte. Die Steintafel hatte genau die Form der Vertiefung in der Tür.
Aurel unterbrach seine Ausführungen und schritt wie hypnotisiert zu der Steintür. Langsam hob er die Tafel zu der Vertiefung und setzte sie in diese ein. Es ging mühelos, und Aurel hatte fast das Gefühl, als würde sie regelrecht in das Auge hineingezogen.
Er wartete gespannt... und nichts geschah.
Enttäuscht drehte er sich zu seinen Kameraden um.
„Entschuldigt, ich dachte, dass ich herausgefunden hätte, wie man diese Tür...“
Ein Knirschen ertönte. Metall und Stein rieben aufeinander, die ganze Ruine schien nur noch von diesem Geräusch erfüllt zu sein, und während Aurel sich erschrocken zur Tür, der Quelle dieses immer lauter werdenden Geräusches, umdrehte, nahm er wahr, wie diese sich langsam öffnete. Die Luft aus dem Vorraum, in dem sich die Gruppe befand, wurde durch die sich bildenden Ritzen entlang der Tür in die Kammer hinter dieser gesogen, und das Geräusch, das dabei entstand, hörte sich an, als würde irgendein großes, längst vergessenes Tier aus uralten Zeiten plötzlich wieder zum Leben erwachen und gierig seinen ersten Atemzug seit Äonen tun.
Dann schwang die Türe ganz auf, und das unheimliche Geräusch verebbte.
Instinktiv zog Aurel sein Schwert, und er hob seinen Schutzschild, denn er hatte noch etwas anderes gehört... trippelnde Schritte. Und noch während er seinen Begleitern eine Warnung zurufen wollte, kam eine Gestalt aus der Tür und trat in den Lichtschein der Fackeln.
Es war ein Goblin. Besser gesagt ein sehr alt und gebrechlich wirkender Goblin, der sich kaum auf den Beinen halten zu können schien, während er auf die verdutzten Abenteurer zutrippelte.

„Ah, endlich, Ihr habt lange gebraucht. Waren Vigor und Umriel böse zu Euch?“
Aurel ließ bei den krächzend klingenden Worten des greisen Goblins vor Überraschung sein Schwert sinken.
„Was?...“
„Vigor und Umriel, die beiden neuesten Diener des Herren. Ihr müsst entschuldigen. Sie sind noch nicht so lange in seinen Diensten und darum noch etwas verwirrt.“
Aurels Mund stand offen, und sein Anblick musste im Moment nicht gerade einen überlegenen oder intelligenten Eindruck machen.
Der Goblin versuchte so etwas wie ein Grinsen zustande zu bringen.
„Nun haltet keine Maulaffen feil und kommt schon herein. Ihr wollt doch zum Herren, nicht wahr? Er erwartet Euch.“
Überrascht folgten die Abenteurer dem Goblin, welcher wieder in der freigelegten Kammer verschwand. Und sie blieben bei dem Anblick, der sich ihnen bot, wiederum überrascht stehen.
Die Kammer schien nicht allzu groß zu sein, aber aufgrund der nicht vorhandenen Beleuchtung entlang der Wände, war dies schwer abzuschätzen. Der hintere Teil entzog sich ganz den Blicken der Gruppe und lag in tiefster Schwärze, aber in der Mitte des Raumes zog eine gewaltige, gedeckte Tafel die Blicke der Gefährten auf sich. Eine mit allerlei Leckereien und Getränken gedeckte Tafel, festlich beleuchtet durch einige Kerzenständer, und es befanden sich genau so viele Stühle an dem Tisch, wie die Abenteurergruppe Mitglieder umfasste.
Der Goblin wandte sich wieder an die Gruppe.
„Wohlan, setzt Euch. Wenn ich die Damen bitten dürfte. Arwen, Ihr bitte hier am hinteren Ende der Tafel, Kiara, Ihr neben Arwen. So... gut... und nun die Herren. Arton, wenn ich bitten darf...“. Arton wurde ein Platz gegenüber Kiara zugewiesen, und Aurel saß schließlich am weitesten vom hinteren, dunklen Teil der Halle entfernt auf seinem Platz an der Tafel.
Aufgrund der Überraschung hatten die Abenteurer sich widerspruchslos zu ihren Sitzplätzen führen lassen.
Aurel starrte den Goblin an.
„Du... du kennst unsere Namen?“
„Aber natürlich! Der Meister hat sie mir gesagt. Was ist, wollt Ihr nichts essen? Oooh... Essen... es muss so lecker sein.“
Ein sehnsüchtiger Ausdruck schien über das alte, zerfurchte Gesicht des Goblins zu huschen.
„Nicht? Das wäre schade um die Sachen. Sie sehen wirklich gut aus und...“
Ein Ruck fuhr durch den Körper der Kreatur.
„Oh, der Herr will jetzt mit Euch sprechen. Er sagt, dass er mich nicht mehr braucht. Er...“
Wieder schien ein Ruck den Goblin regelrecht herumzureißen, und Aurel nahm entsetzt wahr, dass die Furchen in der Haut des Wesens plötzlich tiefer zu werden schienen. Die Haut schien regelrecht aufzuplatzen, als würde eine plötzliche Verwesung einsetzen.
Der Goblin starrte Aurel an.
„Frei. Endlich. Er lässt mich gehen. Endlich...“
Seine Worte waren kaum noch zu verstehen.
„Frei. Ich danke Euch! Passt auf. Kämpft! Lasst Euch nicht...“
Ein erneuter Ruck ging durch den kleinen Körper des Goblins, welcher sich nun rasend schnell auflöste. Seine letzten Worte waren nur noch ein Flüstern:
„Sie gibt ihm Kraft... müsst sie... Ihr müsst... Krone...“
Die bemitleidenswerte Kreatur sank in sich zusammen, und der Zerfall endete erst, als nur noch ein matschiger Haufen von dem Goblin übrig war.

„Elendiger Wurm!“
Die Stimme, die nun ertönte war anders als die des Goblins. Kraftvoll, hallend, als würden tausend Stimmen in einer erklingen.
Die Köpfe der Abenteurer fuhren zum bisher dunklen Teil der Kammer herum, welcher plötzlich von einem Leuchten erfüllt war. Ein Leuchten, das gleichzeitig gleißend war und dennoch das Licht der Kerzen auf der Tafel in sich aufzusaugen schien, als sei das Leuchten in Wirklichkeit Schwärze.
Und sie sahen den Ausgangsort des seltsamen Lichtes. Ein Thron, auf welchem sich eine riesige, skelettähnliche Gestalt befand.
„Bei Talos, ein Lich!“ Aurels Gedanken überschlugen sich, während er die Gestalt des Untoten anstarrte, der einen schwarzgoldenen Brustpanzer über einer langen Robe trug.
Und ihm wurde etwas bewusst, was ihm als alten Soldaten viel früher hätte auffallen müssen. Die Abenteurer waren in taktischer Absicht an bestimmten Plätzen an der Tafel platziert worden. Ausgerechnet die Bogenschützin und die Magierin saßen am nächsten am Thron, während Aurel als gepanzerter Nahkämpfer am weitesten von diesem entfernt war.
Der Lich fuhr mit seiner dröhnenden Stimme fort.
„Diese erbärmliche Kreatur! Dieser Wurm! Aber ich werde bald bessere Diener haben. Euch! Schade, dass Euer Freund Euch verlassen hat. Betreffs ihm war ich am neugierigsten. Er hatte eine recht starke magische Aura... für einen Sterblichen. Und da war noch etwas, etwas Vertrautes. Dieser Schatten, der manchmal bei ihm war...
Aber egal, nun... DIENT MIR!“
Der Lich erhob sich, und die Lichtaura um ihn herum schien stärker zu werden, während er einen Zauberstab erhob...
Aurel fuhr von seinem Stuhl hoch und zückte sein Schwert, wobei sein Blick plötzlich auf einen glitzernden Gegenstand auf dem Schädel des schrecklichen Wesens gelenkt wurde, der kurz aufzublitzen schien.
Er versuchte so schnell wie möglich in die Nähe des Lichs zu kommen, während er seinen Gefährten zwei hastig gebrüllte Worte zurief:
„Seine Krone!“
...