Aurel kehrte wieder in die Realität zurück. In die Realität, die er kannte, denn das, was er gerade erlebt hatte, war ebenfalls Realität, das wusste er.
Er schaute Kiara an, die ihn gebannt anstarrte, und murmelte mit noch etwas unsicherer Stimme:
„Ich... ich bin wieder da, Kiara. Mit mir ist alles in Ordnung. Ich brauche nur einen Moment...“
Er stützte sich an der Wand des Flures ab und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Diese Vision war anders als die bei der Ruine gewesen. Nicht so schrecklich, nicht so grauenerregend, aber dennoch in vielerlei Hinsicht ebenso beunruhigend.
Er schaute wieder zu Kiara und sprach nun mit gefassterer Stimme.
„Kiara, ich befürchte, mein Problem ist noch größer, als ich dachte. Ich werde nicht nur von wahnsinnserregenden Visionen von dem Lich, von Alexius Varra, wie Malukhat ihn nannte, und den Seelen seiner Opfer geplagt, jetzt ist auch noch Malukhat in meinem Kopf.“
Aurel erzählte der Bosmer von seiner Vision und den Worten des Erzmagiers.
„Wenn wir den Kerl nicht finden und retten können, macht er es sich wohl dank der Krone, so lange ich lebe, in meinem Kopf bequem. Und eines kann ich mit Sicherheit sagen... wenn mich Varra und die Seelen der Toten nicht in den Wahnsinn treiben, dann wird es dieser selbstgefällige Dunmer schaffen. Wir müssen ihn finden.“
Aurel hatte noch mehr Gründe, den Dunmer zu finden, aber er war viel zu stur, diese offen vor Kiara auszusprechen. Zum einen konnte ihn wohl dummerweise nur Malukhat retten, und, Aurel musste sich dies widerwillig eingestehen, selbst Malukhat gönnte er nicht so einen Tod. Verdammt, das war einfach keine Art, von der Bühne abzutreten... lebendig begraben und elendig erstickend. Aurel war sich noch nicht einmal sicher, ob er den Magier überhaupt noch tot sehen wollen würde, selbst wenn er nicht diesen verdammten Fluch auf sich geladen hätte. Eines musste er dem Kerl nämlich lassen, er war beeindruckend und mindestens ebenso stur und stolz wie Aurel selbst.
„Joplaya! Wir müssen seine Tochter finden! Vielleicht hat sie inzwischen etwas herausfinden können.“
Kiara stimmte zu, und das Paar kehrte über die Treppe in die Empfangshalle des Tiber Septim Hotels zurück. Die Dame am Empfang blickte mit herablassendem Blick auf Aurel, als der Bretone und die Bosmer an ihr vorbeigingen, und Aurel konnte es sich nicht verkneifen, ihr grinsend zuzublinzeln. Diese blöde, eingebildete Schachtel. Tat so, als sei sie die Frau des Kanzlers. Und das nur, weil Aurel sie gleich beim Betreten des Hotels nach einer Toilette gefragt hatte. Was konnte er schon dafür, dass die Fischsuppe, die sie am Hafen gegessen hatten, ihm den schlimmsten Durchfall seines Lebens beschert hatte.
Er war immer noch dabei, die Frau frech anzugrinsen, als sie den Ausgang erreichten, und Aurel, der nicht nach vorne sah, in jemanden hineinrannte.
In Joplaya!

Die Tochter des Erzmagiers war ebenso überrascht wie Kiara und Aurel und brauchte einige Zeit, um sich zu fassen und ihnen von ihrer erfolglosen Suche nach ihrem Vater zu erzählen. Sie war stundenlang in der Kaiserstadt umhergeirrt, auf der Suche nach jemandem, der etwas über den Verbleib Malukhats wusste.
„... nichts. Niemand konnte mir helfen. Ich weiß nicht, was ich jetzt noch tun soll. Ich weiß nur, dass er nicht weit von der Kaiserstadt entfernt ist, aber ich kann einfach nicht herausfinden, wo er ist.“
Die junge Frau war verzweifelt, und Aurel erkannte, dass sie ihren Worten bei der Ruine zum trotz ihren Vater liebte. Erstaunlich, dass ein Mann wie Malukhat so ein herzensgutes Wesen seine Tochter nennen konnte, dachte Aurel... und kam ins Grübeln, ob er den Magier wohl wirklich richtig beurteilt hatte.
„Wenn ich ihm nur helfen könnte. Es ist schon wieder so lange her, seit er aus seinem Zimmer verschwunden ist“, beendete Joplaya ihre Schilderungen und war den Tränen nahe.
Und bei diesem Satz wurden Aurel schlagartig zwei Dinge bewusst. Der Erzmagier war aus seinem Zimmer verschleppt worden. Normalerweise ließ man seine Zimmertür in einem Hotel nicht einfach offen stehen, jemand musste also einen Schlüssel gehabt haben. Und der Täter konnte unmöglich alleine gewesen sein. Wie hätte er alleine den großen, kräftigen Mann aus dem Hotel schleppen können?
Er sah Kiara und Joplaya an.
„Wartet bitte einen Moment. Mir ist da eine Idee gekommen.“
Und mit diesen Worten kehrte er zu der Frau an der Rezeption zurück.

„Na, mittlerweile dürftet Ihr ja wissen, wo sich unsere Toiletten befinden, mein Herr“, empfing ihn die Frau mit schnippischer Stimme.
Aurel ging nicht darauf ein.
„Keine Spielchen mehr. Hört mir genau zu.“
Er versuchte, möglichst autoritär zu klingen, was ihm dank seiner Zeit als Legionsoffizier mühelos gelang.
„Ich war bei der Legion. Lange! Und ich war Offizier. Aus Eurem Hotel ist ein angesehenes Regierungsmitglied verschleppt worden, und wenn Ihr nicht absolut kooperativ seid, sorge ich dafür, dass die kaiserlichen Wachen Euer nobles Etablissement auseinandernehmen und jeden Winkel durchkämmen.“
Die Frau wurde kreidebleich. Offenbar fiel sie auf seinen Bluff herein.
Aurel grinste innerlich. Malukhat in der Regierung... Talos bewahre!
„Gut, Ihr scheint mich zu verstehen. Ich werde Euch jetzt eine einfache Frage stellen, und Ihr werdet sie schnell, kurz und präzise beantworten!“
Er genoss seinen Auftritt. Ha! Wie bei der Ausbildung der Rekruten in der Eisfalterfestung damals. Wenn er so weitermachte, konnte er die Zicke sogar dazu bringen, eigenhändig die ach so unvornehmen Toiletten zu putzen.
„Wer hier im Hotel hat die Ersatzschlüssel zu den Zimmern? Antwortet schnell!“
Die Frau antwortete noch bleicher mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles, der von der Sehne schnellte.
„Atrius... Victor Atrius, der Hotelverwalter.“
„Gut, und wo finde ich den Herren?“
„Er ist unten im Keller... macht gerade Inventur bei den Weinvorräten.“
Aurel grinste die Empfangsdame fröhlich an.
„Danke, Schätzchen.“
Er ließ die verwirrte Frau stehen, bedeutete Kiara und Joplaya, welche die Szene staunend betrachtet hatten, noch ein wenig zu warten und verschwand, mit dem Gefühl, endlich auch einmal seine Talente nutzbringend eingebracht zu haben und nicht ständig von irgendwelchen Magiern bevormundet und gedemütigt zu werden, in den Keller.

Nach einer halben Stunde kehrte er zurück und versuchte nicht, das Blut an seinen Panzerhandschuhen zu verbergen. Aurel ging schnurstracks zu der Bosmer und der Dunkelelfe und wandte sich nur kurz im Vorbeigehen an die Empfangsdame.
„Ihr solltet Eurem Vorgesetzten raten, sich einen neuen Verwalter zu suchen. Der bisherige ist ein Lump und Verbrecher durch und durch.“
Bei den beiden Frauen am Ausgang angekommen, kam er sofort zur Sache. Die Zeit drängte, wenn sie Malukhat noch lebend aus seinem Grab holen wollten.
„Humor haben die Kerle, das muss ich ihnen lassen. Ein würdiges Grab für einen machtgewohnten und machtbewussten Erzmagier. Sie haben ihn am Schrein von Clavicus Vile eingegraben, nicht weit westlich der Kaiserstadt.“
Aurel wandte sich an Joplaya.
„Hört zu, ich weiß nicht, was uns dort erwartet, aber Ihr solltet hier bleiben. Es könnte zu einem Kampf kommen, und Ihr seid hier besser aufgehoben. Außerdem braucht Arwen Eure Heilkünste. Es geht ihr sehr schlecht, und sie hat Wundfieber.“
Kiara und Aurel verabschiedeten sich von der Dunmer und zogen los.
Sie holten auf dem Weg noch schnell Aurels neuen Brustpanzer, einen schlichten aber gut gefertigten Eisenharnisch, und Kiaras mittlerweile repariertes Kettenhemd ab, deckten sich mit ein paar billigen Vorräten ein und begaben sich Richtung Stadttor.
Unterwegs warf Kiara dem Bretonen nach einem Blick auf die blutigen Handschuhe einen etwas vorwurfsvollen Seitenblick zu. Aurel grinste sie an.
„Was denn? Zum Erkaufen der Informationen haben wir einfach nicht genug Geld. Wir sind ja jetzt so gut wie pleite. Und der Kerl war schlichtweg ein Lump.“
Sie gingen weiter, und je näher das Paar an das Stadttor kam, desto mehr fiel die Gelassenheit wieder von Aurel ab. Sie mussten den Erzmagier retten, sonst war Aurel verloren. Und die Zeit wurde immer knapper.
Die Sonne stand schon wieder tief am Horizont, als sie das Tor durchschritten, auf dem Weg ins Ungewisse, und Aurel war sehr froh, dass ihn Kiara auf diesem Weg begleitete.
...