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Thema: Der höchst offizielle Lyrik-Thread (kein eigener Kram!)

  1. #21
    Zitat Zitat von La Cipolla Beitrag anzeigen
    (Oder wieso findest du den hier legitimer?)
    Er ist - bzw. war - neuer und sein Titel ist einleuchtender. ^^"
    Joa, meine Legimitätsvorstellungen sind etwas oberflächlich.

    Wie dem auch sei.

  2. #22
    Meine Lieblinge:


    Georg Trakl
    Sommer

    Am Abend schweigt die Klage
    des Kuckucks im Wald.
    Tiefer neigt sich das Korn,
    der rote Mohn.

    Schwarzes Gewitter droht
    über dem Hügel.
    Das alte Lied der Grille
    erstirbt im Feld.

    Nimmer regt sich das Laub
    der Kastanie.
    Auf der Wendeltreppe
    rauscht dein Kleid.

    Stille leuchtet die Kerze
    im dunklen Zimmer;
    eine silberne Hand
    löschte sie aus;

    windstille, sternlose Nacht.



    Bertolt Brecht
    An die Nachgeborenen

    Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
    Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
    Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
    Hat die furchtbare Nachricht
    Nur noch nicht empfangen.

    Was sind das für Zeiten, wo
    Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
    Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
    Der dort ruhig über die Straße geht
    Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
    Die in Not sind?

    Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
    Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
    Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.
    Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)

    Man sagt mir: Iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
    Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
    Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
    Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
    Und doch esse und trinke ich.

    Ich wäre gerne auch weise.
    In den alten Büchern steht, was weise ist:
    Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
    Ohne Furcht verbringen
    Auch ohne Gewalt auskommen
    Böses mit Gutem vergelten
    Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
    Gilt für weise.
    Alles das kann ich nicht:
    Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
    [...]


    Bertolt Brecht
    Die Liebenden

    Sieh jene Kraniche in großem Bogen!
    Die Wolken, welche ihnen beigegeben
    Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
    Aus einem Leben in ein andres Leben
    In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
    Scheinen sie alle beide nur daneben.
    Daß so der Kranich mit der Wolke teile
    Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
    Daß also keines länger hier verweile
    Und keines andres sehe als das Wiegen
    Des andern in dem Wind, den beide spüren
    Die jetzt im Fluge beieinander liegen
    So mag der Wind sie in das Nichts entführen
    Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
    Solange kann sie beide nichts berühren
    Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben
    Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
    So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben
    Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
    Wohin ihr? Nirgendhin. Von wem davon? Von allen.
    Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Seit kurzem.
    Und wann werden sie sich trennen? Bald.
    So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.


    Rainer Maria Rilke
    Ob auch die Stunden
    uns wieder entfernen ...
    wir sind immer zusammen
    im Traum,
    wie unter einem
    aufblühendem Baum.
    Wir werden die Worte,
    die laut sind, verlernen
    und von uns reden
    wie Sterne von Sternen.
    Alle lauten Worte verlernen,
    wie unter einem
    aufblühenden Baum.


    - Christian Morgenstern -
    Warum erfüllen uns Gräser, eine Wiese, ein Baum mit so reiner Lust ?
    Weil wir da Lebendiges vor uns sehen, das nur von außen her zerstört werden kann, nicht durch sich selbst.
    Der Baum wird nie an gebrochenem Herzen sterben und das Gras nie seinen Verstand verlieren.
    Von außen droht ihnen jede mögliche Gefahr, von innen her aber sind sie gefeit.
    Sie fallen sich nicht selbst in den Rücken wie der Mensch mit seinem Geist und ersparen uns damit
    das wiederholte Schauspiel unseres eigenen zweideutigen Lebens.


    (Gottfried Benn)
    Restaurant

    Der Herr drüben bestellt sich noch ein Bier,
    das ist mir angenehm, dann brauche ich mir keinen Vorwurf zu machen
    daß ich auch gelegentlich einen zische.
    Man denkt immer gleich, man ist süchtig,
    in einer amerikanischen Zeitschrift las ich sogar,
    jede Zigarette verkürze das Leben um sechsunddreißig Minuten,
    das glaube ich nicht, vermutlich steht die Coca-Cola-Industrie
    oder eine Kaugummifabrik hinter dem Artikel.

    Ein normales Leben, ein normaler Tod
    das ist auch nichts. Auch ein normales Leben
    führt zu einem kranken Tod. Überhaupt hat der Tod
    mit Gesundheit und Krankheit nichts zu tun,
    er bedient sich ihrer zu seinem Zwecke.

    Wie meinen sie das: der Tod hat mit Krankheit nichts zu tun?
    Ich meine das so: viele erkranken, ohne zu sterben,
    also liegt hier noch etwas anderes vor,
    ein Fragwürdigkeitsfragment,
    ein Unsicherheitsfaktor,
    er ist nicht so klar umrissen,
    hat auch keine Hippe,
    beobachtet, sieht um die Ecke, hält sich sogar zurück
    und ist musikalisch in einer anderen Melodie.


    Gottfried Benn
    Nur zwei Dinge

    Durch so viel Form geschritten,
    durch Ich und Wir und Du,
    doch alles blieb erlitten
    durch die ewige Frage: wozu?

    Das ist eine Kinderfrage.
    Dir wurde erst spät bewußt,
    es gibt nur eines: ertrage
    - ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
    dein fernbestimmtes: Du mußt.

    Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
    was alles erblühte, verblich,
    es gibt nur zwei Dinge: die Leere
    und das gezeichnete Ich.


    Ingeborg Bachmann
    Was wahr ist

    Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen,
    was wahr ist, bitten Schlaf und Tod dir ab
    als eingefleischt, von jedem Schmerz beraten,
    was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab.

    Was wahr ist, so entsunken, so verwaschen
    in Keim und Blatt, im faulen Zungenbett
    ein Jahr und noch ein Jahr und alle Jahre -
    was wahr ist, schafft nicht Zeit, es macht sie wett.

    Was wahr ist, zieht der Erde einen Scheitel,
    kämmt Traum und Kranz und die Bestellung aus,
    es schwillt sein Kamm und voll gerauften Früchten
    schlägt es in dich und trinkt dich gänzlich aus.

    Was wahr ist, unterbleibt nicht bis zum Raubzug,
    bei dem es dir vielleicht ums Ganze geht.
    Du bist sein Raub beim Aufbruch deiner Wunden;
    nichts überfällt dich, was dich nicht verrät.

    Es kommt der Mond mit den vergällten Krügen.
    So trinkt dein Maß. Es sinkt die bittre Nacht.
    Der Abschaum flockt den Tauben ins Gefieder,
    wird nicht ein Zweig in Sicherheit gebracht.

    Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten,
    doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand.
    Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten,
    dem unbekannten Ausgang zugewandt.


    P. Celan
    Psalm

    Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
    niemand bespricht unseren Staub.
    Niemand.

    Gelobt seist du , Niemand.
    Dir zulieb wollen
    wir blühn.
    Dir
    entgegen.

    Ein Nichts
    waren wir, sind wir, werden
    wir bleiben, blühend:
    die Nichts-, die
    Niemandsrose.

    Mit
    dem Griffel seelenhell
    dem Staubfaden himmelswüst
    der Krone rot
    vom Purpurwort, das wir sangen
    über, o über
    dem Dorn.


    P. Celan
    Corona

    Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
    Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:
    die Zeit kehrt zurück in die Schale.

    Im Spiegel ist Sonntag,
    im Traum wird geschlafen,
    der Mund redet wahr.

    Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
    wir sehen uns an,
    wir sagen uns Dunkles,
    wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
    wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
    wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

    Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
    es ist Zeit, daß man weiß!
    Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
    daß der Unrast ein Herz schlägt.
    Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

    Es ist Zeit.


    P.Celan
    Auszug aus "Engführung"

    Kam, kam.
    Kam ein Wort, kam,
    kam durch die Nacht,
    wollt leuchten, wollt leuchten.

    Asche.
    Asche, Asche.
    Nacht.
    Nacht-und-Nacht. -- Zum
    Aug geh, zum feuchten.


    * Zum Aug geh, zum feuchten --

    Orkane.
    Orkane, von je,
    Partikelgestöber, das andre,
    du
    weißts ja, wir
    lasens im Buche, war
    Meinung.

    War, war
    Meinung. Wie
    faßten wir uns
    an -- an mit
    diesen
    Händen?

    Es stand auch geschrieben, daß.
    Wo? Wir
    taten ein Schweigen darüber,
    giftgestillt, groß,
    ein
    grünes
    Schweigen, ein Kelchblatt, es
    hing ein Gedanke an Pflanzliches dran --

    grün, ja
    hing, ja
    unter hämischem
    Himmel.

    (gelesen vom Autor selber: http://www.youtube.com/watch?v=Zj1XI...eature=related)


    Samhain
    mondenkind

    .

    Hört ihr
    wie die Tore knarren
    zwischenweltlich
    heute Nacht

    Hört
    das Flüstern
    ihrer Seelen
    frei und leicht
    zerspinstert sacht

    Seht nur
    wie sie fließend eilen
    angelockt
    vom Kerzenlicht

    Seht
    das Leuchten
    ihrer Sphären
    wenn Freude sich
    mit Sehnsucht mischt

    Spürt nur
    wie für den Moment
    das Leben
    sie zurückgewinnt

    um einmal noch
    sanft zu berührn
    bevor man lächelnd
    Abschied nimmt

    .

    Die Autorin findet ihr hier: http://keinverlag.de/texte.php?text=284004


    Georges Bernanos
    "Wir alle müssen das Leben meistern. Aber die einzige Art, es zu meistern, besteht darin, es zu lieben.“


  3. #23
    In sô hôher swebender wunne

    In sô hôher swebender wunne
    Sô gestuont mîn herze ane vröiden nie.
    Ich var, als ich vliegen kunne,
    Mit gedanken iemer umbe sie,
    Sît daz mich ir trôst enpfie,
    Der mir durch die sêle mîn
    Mitten in daz herze gie.

    Swaz ich wunneclîches schouwe,
    Daz spile gegen der wunne, die ich hân.
    Luft und erde, walt und ouwe
    Suln die zît der vröide mîn enpfân.
    Mir ist komen ein hügender wân
    Und ein wunneclîcher trôst,
    Des mîn muot sol hôhe stân.

    Wol dem wunneclîchen maere,
    Daz sô suoze durch mîn ôre erklanc,
    Und der sanfte tuonder swaere,
    Diu mit vröiden in mîn herze sanc,
    Dâ von mir ein wunne entspranc,
    Diu vor liebe alsam ein tou
    Mir ûz von den ougen dranc.

    Saelic sî diu süeze stunde,
    Saelic sî diu zît, der werde tac,
    Dô daz wort gie von ir munde,
    Daz dem herzen mîn sô nâhen lac,
    Daz mîn lîp von vröide erschrac,
    Und enweiz von liebe joch,
    Waz ich von ir sprechen mac.


    (Heinrich von Morungen, um 1225)

  4. #24
    ... از جمادی مُردم و نامی شدم

    از جمادی مُردم و نامی شدم — وز نما مُردم به‌حیوان سرزدم

    مُردم از حیوانی و آدم شدم — پس چه ترسم؟ کی ز مردن کم شدم؟

    حمله دیگر بمیرم از بشر — تا برآرم از ملائک بال و پر

    وز ملک هم بایدم جستن ز جو — کل شیء هالک الا وجهه

    بار دیگر از ملک پران شوم — آنچه اندر وهم ناید آن شوم

    پس عدم گردم عدم چو ارغنون — گویدم کانا الیه راجعون
    ~Rumi
    Als Teil der Erde starb ich...
    Als Teil der Erde starb ich und wurde Pflanze,
    Als Pflanze starb ich und wuchs zum Tiere,
    Ich starb als Tier und ich ward Mensch.
    Warum sei da Furcht? Wann machte mich das Sterben je geringer?
    Noch einmal soll als Mensch ich sterben, um aufzusteigen,
    Himmelwesen gezeiht; doch selbst vom Engelsein
    muss ich hinwegscheiden: Alles außer H' muss sterben.
    Und wenn meine Engelsseele dahingegeben ist,
    Werde ich, was kein Geist je zu erdenken war.
    Oh, heb mein Dasein auf! Denn Nichtsein
    kündet im Orgeltone:
    In H' kehren wir zurück.

    (Übersetzung judaisiert)

    Geändert von Mordechaj (04.02.2011 um 19:00 Uhr)

  5. #25
    Der Duft --- Die Rose

    Im Himmelsrosenhag sprach eine Huri:
    »Ich habe nie, was jenseits ist, erkannt.

    Was ist das: Tag und Nacht, und Morgen, Abend?
    Geburt und Tod, sie kennt nicht mein Verstand.«

    Zum Dufthauch ward sie, sprosst' am Rosenzweige -
    So setzte sie den Fuss in dieses Land.

    Das Auge tat sie auf, ward Knospe, lächelnd,
    Ward Rose - Blatt um Blatt fiel in den Sand,

    Und von der Zarten, die die Fesseln löste
    Blieb nur ein Ach - man hat es Duft genannt.

    ~Iqbal

  6. #26
    Cause And Effect

    the best often die by their own hand
    just to get away,
    and those left behind
    can never quite understand
    why anybody
    would ever want to
    get away
    from
    them

    ~Charles Bukowski

  7. #27
    Leerzeichen

    In der gänzlichen Leere
    sammeln sich die Schwaden der Worte,
    zum Beispiel Feder und Taube.

    Aber das Erlöschen des Atems,
    die starre Falte des Munds,
    die angehaltene Bewegung
    sind schon durchwirkt
    von dem Hanf des Hasses,
    dem Seidenschiffchen der Güte.

    So sind sie Fremde
    un aller Sicherheit bar,
    enthoben den Träumen der Leere
    und unseres Zutuns gewiß.

    Aber auf sie kommt es an,
    auf sie allein noch
    beim Federspiel der Meduse,
    die mit den Gelenken knackt,
    ihr magisches Lächeln ins Licht gedreht
    wie ungestalte Kerzen im Wind.

    Wenn sie entweicht, endlos,
    in Katakomben, unter dem Wasser hin,
    ist hier vollständige Leere.

    Dies aber gilt als Norm des Lebens,
    ist das vollkommen irrige
    Zeichen für Dasein.

    ~Peter Jokostra

  8. #28
    Zitat Zitat von Schalom Ben-Chorin, 1942
    Das Zeichen

    Freunde, dass der Mandelzweig
    wieder blüht und treibt,
    ist das nicht ein Fingerzeig,
    dass die Liebe bleibt.
    Dass das Leben nicht verging,
    so viel Blut auch schreit,
    achtet dieses nicht gering,
    in der trübsten Zeit.

    Tausende zerstampft der Krieg,
    eine Welt vergeht.
    Doch des Lebens Blütensieg
    leicht im Winde weht.
    Freunde, dass der Mandelzweig
    sich in Blüten wiegt,
    bleibe uns ein Fingerzeig,
    wie das Leben siegt.
    Kenne es leider erst, seit es eine Kommilitonin vor kurzem auf FB postete.
    Finde es grade in Hinblick auf das Abfassungsjahr bewundernswert, dass er solch ein hoffnungsvolles Gedicht schrieb.

  9. #29
    Wie soll ich meine Seele halten, dass
    sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
    hinheben über dich zu andern Dingen?
    Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
    Verlorenem im Dunkel unterbringen
    an einer fremden stillen Stelle, die
    nicht weiterschwingt,wenn deine Tiefen schwingen.
    Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
    nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
    der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
    Auf welches Instrument sind wir gespannt?
    Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
    O süßes Lied.
    Rainer Maria Rilke - Liebeslied

  10. #30
    Ein sehr schönes Gedicht von Ute Marie Fomm, aus "Der Morgen hat ein blauches Tuch"

    Säntis

    Mit den Vögeln,
    den schwarzen
    wollte ich fliehen
    schneller höher
    fort von dem gipfel
    der uns das ende war
    hilflos - besiegt
    von der ohnmacht der weite
    sog ich kristallene luft
    auf meine lippen
    und der abstieg
    war wie zerbrechen

  11. #31
    Im Nebel

    Seltsam, im Nebel zu wandern!
    Einsam ist jeder Busch und Stein,
    Kein Baum sieht den andern,
    Jeder ist allein.

    Voll von Freunden war mir die Welt,
    Als noch mein Leben licht war;
    Nun, da der Nebel fällt,
    Ist keiner mehr sichtbar.

    Wahrlich, keiner ist weise,
    Der nicht das Dunkel kennt,
    Das unentrinnbar und leise
    Von allen ihn trennt.

    Seltsam, Im Nebel zu wandern!
    Leben ist Einsamsein.
    Kein Mensch kennt den andern,
    Jeder ist allein.

    November 1905

    **

    Haben wir heute in der Deutschdidaktik als "Herbstgedicht" behandelt, was ich da irgendwo nur ganz am Rand sehe. Und es hat mich ziemlich beeindruckt. Weiß noch nicht genau, inwiefern ich da hinter Hesse stehen würde - oder hinter dem, was er sich so in seinen frühen Jahren gedacht hat (ich lese wohl eh was anderes) - aber atmosphärisch und toll ist's alle mal. ^^

  12. #32
    Definitiv ja zu Benn, Trakl und Celan und vor allem Heine. Einige meiner Lieblinge:

    Mein Herz, mein Herz ist traurig

    Mein Herz, mein Herz ist traurig,
    Doch lustig leuchtet der Mai;
    Ich stehe, gelehnt an der Linde,
    Hoch auf der alten Bastei.

    Da drunten fließt der blaue
    Stadtgraben in stiller Ruh;
    Ein Knabe fährt im Kahne,
    Und angelt und pfeift dazu.

    Jenseits erheben sich freundlich,
    In winziger, bunter Gestalt,
    Lusthäuser, und Gärten, und Menschen,
    Und Ochsen, und Wiesen, und Wald.

    Die Mägde bleichen Wäsche,
    Und springen im Gras herum;
    Das Mühlrad stäubt Diamanten,
    Ich höre sein fernes Gesumm.

    Am alten grauen Turme
    Ein Schilderhäuschen steht;
    Ein rotgeröckter Bursche
    Dort auf und nieder geht.

    Er spielt mit seiner Flinte,
    Die funkelt im Sonnenrot,
    Er präsentiert und schultert -
    Ich wollt, er schösse mich tot.

    - Heinrich Heine

    Seine Gedichte sind so wunderbar leicht lesbar obwohl er um 1800 gelebt hat. Und immer wortgewandt und noch immer aktuell.

    Zu kurz

    Kaum, daß auf diese Welt du kamst,
    zur Schule gingst, die Gattin nahmst,
    dir Kinder, Geld und Gut erwarbst
    schon liegst du unten, weil du starbst.

    - Heinz Erhardt

    ---

    Ich finde solche, die von ihrem Geld erzählen
    und solche, die mit ihrem Geiste protzen
    und solche, die erst beten und dann stehlen,
    ich finde solche, Sie verzeihn, zum Kotzen.

    - Heinz Erhardt

    Der Meister des Unsinns, dessen ernsthafte Lyrik aber auch gefällt.

    Die Dämmerung

    Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
    Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
    Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
    Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

    Auf lange Krücken schief herabgebückt
    Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
    Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
    Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

    An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
    Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
    Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
    Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

    - Alfred Liechtenstein

    Fabel

    Da sang die Nachtigall
    die Welt ist all
    die Welt ist all
    es werden die Raben
    sie gefressen haben.

    Da krächzten die Raben
    wir haben
    wir haben
    noch nicht all
    und fraßen die Nachtigall.

    - Bernd Wagner

    Das Gedicht verfolgt mich seit Jahren wie kein anderes.

  13. #33
    Ich hab mich gerade in ein Gedicht verliebt:


    Schnee

    Schnee: wer
    Dieses Wort zu Ende
    Denken könnte
    Bis dahin
    Wo es sich auflöst
    Und wieder zu Wasser wird

    Das die Wege aufweicht
    Und den Himmel in
    Einer schwarzen

    Blanken Pfütze
    Spiegelt, als wäre er
    Aus nichtrostendem Stahl

    Und bliebe
    Unverändert blau.



    ~Rolf Dieter Brinkmann

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