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Thema: Der höchst offizielle Lyrik-Thread (kein eigener Kram!)

Baum-Darstellung

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  1. #15
    Meine Lieblinge:


    Georg Trakl
    Sommer

    Am Abend schweigt die Klage
    des Kuckucks im Wald.
    Tiefer neigt sich das Korn,
    der rote Mohn.

    Schwarzes Gewitter droht
    über dem Hügel.
    Das alte Lied der Grille
    erstirbt im Feld.

    Nimmer regt sich das Laub
    der Kastanie.
    Auf der Wendeltreppe
    rauscht dein Kleid.

    Stille leuchtet die Kerze
    im dunklen Zimmer;
    eine silberne Hand
    löschte sie aus;

    windstille, sternlose Nacht.



    Bertolt Brecht
    An die Nachgeborenen

    Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
    Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
    Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
    Hat die furchtbare Nachricht
    Nur noch nicht empfangen.

    Was sind das für Zeiten, wo
    Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
    Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
    Der dort ruhig über die Straße geht
    Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
    Die in Not sind?

    Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
    Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
    Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.
    Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)

    Man sagt mir: Iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
    Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
    Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
    Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
    Und doch esse und trinke ich.

    Ich wäre gerne auch weise.
    In den alten Büchern steht, was weise ist:
    Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
    Ohne Furcht verbringen
    Auch ohne Gewalt auskommen
    Böses mit Gutem vergelten
    Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
    Gilt für weise.
    Alles das kann ich nicht:
    Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
    [...]


    Bertolt Brecht
    Die Liebenden

    Sieh jene Kraniche in großem Bogen!
    Die Wolken, welche ihnen beigegeben
    Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
    Aus einem Leben in ein andres Leben
    In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
    Scheinen sie alle beide nur daneben.
    Daß so der Kranich mit der Wolke teile
    Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
    Daß also keines länger hier verweile
    Und keines andres sehe als das Wiegen
    Des andern in dem Wind, den beide spüren
    Die jetzt im Fluge beieinander liegen
    So mag der Wind sie in das Nichts entführen
    Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
    Solange kann sie beide nichts berühren
    Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben
    Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
    So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben
    Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
    Wohin ihr? Nirgendhin. Von wem davon? Von allen.
    Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Seit kurzem.
    Und wann werden sie sich trennen? Bald.
    So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.


    Rainer Maria Rilke
    Ob auch die Stunden
    uns wieder entfernen ...
    wir sind immer zusammen
    im Traum,
    wie unter einem
    aufblühendem Baum.
    Wir werden die Worte,
    die laut sind, verlernen
    und von uns reden
    wie Sterne von Sternen.
    Alle lauten Worte verlernen,
    wie unter einem
    aufblühenden Baum.


    - Christian Morgenstern -
    Warum erfüllen uns Gräser, eine Wiese, ein Baum mit so reiner Lust ?
    Weil wir da Lebendiges vor uns sehen, das nur von außen her zerstört werden kann, nicht durch sich selbst.
    Der Baum wird nie an gebrochenem Herzen sterben und das Gras nie seinen Verstand verlieren.
    Von außen droht ihnen jede mögliche Gefahr, von innen her aber sind sie gefeit.
    Sie fallen sich nicht selbst in den Rücken wie der Mensch mit seinem Geist und ersparen uns damit
    das wiederholte Schauspiel unseres eigenen zweideutigen Lebens.


    (Gottfried Benn)
    Restaurant

    Der Herr drüben bestellt sich noch ein Bier,
    das ist mir angenehm, dann brauche ich mir keinen Vorwurf zu machen
    daß ich auch gelegentlich einen zische.
    Man denkt immer gleich, man ist süchtig,
    in einer amerikanischen Zeitschrift las ich sogar,
    jede Zigarette verkürze das Leben um sechsunddreißig Minuten,
    das glaube ich nicht, vermutlich steht die Coca-Cola-Industrie
    oder eine Kaugummifabrik hinter dem Artikel.

    Ein normales Leben, ein normaler Tod
    das ist auch nichts. Auch ein normales Leben
    führt zu einem kranken Tod. Überhaupt hat der Tod
    mit Gesundheit und Krankheit nichts zu tun,
    er bedient sich ihrer zu seinem Zwecke.

    Wie meinen sie das: der Tod hat mit Krankheit nichts zu tun?
    Ich meine das so: viele erkranken, ohne zu sterben,
    also liegt hier noch etwas anderes vor,
    ein Fragwürdigkeitsfragment,
    ein Unsicherheitsfaktor,
    er ist nicht so klar umrissen,
    hat auch keine Hippe,
    beobachtet, sieht um die Ecke, hält sich sogar zurück
    und ist musikalisch in einer anderen Melodie.


    Gottfried Benn
    Nur zwei Dinge

    Durch so viel Form geschritten,
    durch Ich und Wir und Du,
    doch alles blieb erlitten
    durch die ewige Frage: wozu?

    Das ist eine Kinderfrage.
    Dir wurde erst spät bewußt,
    es gibt nur eines: ertrage
    - ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
    dein fernbestimmtes: Du mußt.

    Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
    was alles erblühte, verblich,
    es gibt nur zwei Dinge: die Leere
    und das gezeichnete Ich.


    Ingeborg Bachmann
    Was wahr ist

    Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen,
    was wahr ist, bitten Schlaf und Tod dir ab
    als eingefleischt, von jedem Schmerz beraten,
    was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab.

    Was wahr ist, so entsunken, so verwaschen
    in Keim und Blatt, im faulen Zungenbett
    ein Jahr und noch ein Jahr und alle Jahre -
    was wahr ist, schafft nicht Zeit, es macht sie wett.

    Was wahr ist, zieht der Erde einen Scheitel,
    kämmt Traum und Kranz und die Bestellung aus,
    es schwillt sein Kamm und voll gerauften Früchten
    schlägt es in dich und trinkt dich gänzlich aus.

    Was wahr ist, unterbleibt nicht bis zum Raubzug,
    bei dem es dir vielleicht ums Ganze geht.
    Du bist sein Raub beim Aufbruch deiner Wunden;
    nichts überfällt dich, was dich nicht verrät.

    Es kommt der Mond mit den vergällten Krügen.
    So trinkt dein Maß. Es sinkt die bittre Nacht.
    Der Abschaum flockt den Tauben ins Gefieder,
    wird nicht ein Zweig in Sicherheit gebracht.

    Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten,
    doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand.
    Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten,
    dem unbekannten Ausgang zugewandt.


    P. Celan
    Psalm

    Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
    niemand bespricht unseren Staub.
    Niemand.

    Gelobt seist du , Niemand.
    Dir zulieb wollen
    wir blühn.
    Dir
    entgegen.

    Ein Nichts
    waren wir, sind wir, werden
    wir bleiben, blühend:
    die Nichts-, die
    Niemandsrose.

    Mit
    dem Griffel seelenhell
    dem Staubfaden himmelswüst
    der Krone rot
    vom Purpurwort, das wir sangen
    über, o über
    dem Dorn.


    P. Celan
    Corona

    Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
    Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:
    die Zeit kehrt zurück in die Schale.

    Im Spiegel ist Sonntag,
    im Traum wird geschlafen,
    der Mund redet wahr.

    Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
    wir sehen uns an,
    wir sagen uns Dunkles,
    wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
    wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
    wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

    Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
    es ist Zeit, daß man weiß!
    Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
    daß der Unrast ein Herz schlägt.
    Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

    Es ist Zeit.


    P.Celan
    Auszug aus "Engführung"

    Kam, kam.
    Kam ein Wort, kam,
    kam durch die Nacht,
    wollt leuchten, wollt leuchten.

    Asche.
    Asche, Asche.
    Nacht.
    Nacht-und-Nacht. -- Zum
    Aug geh, zum feuchten.


    * Zum Aug geh, zum feuchten --

    Orkane.
    Orkane, von je,
    Partikelgestöber, das andre,
    du
    weißts ja, wir
    lasens im Buche, war
    Meinung.

    War, war
    Meinung. Wie
    faßten wir uns
    an -- an mit
    diesen
    Händen?

    Es stand auch geschrieben, daß.
    Wo? Wir
    taten ein Schweigen darüber,
    giftgestillt, groß,
    ein
    grünes
    Schweigen, ein Kelchblatt, es
    hing ein Gedanke an Pflanzliches dran --

    grün, ja
    hing, ja
    unter hämischem
    Himmel.

    (gelesen vom Autor selber: http://www.youtube.com/watch?v=Zj1XI...eature=related)


    Samhain
    mondenkind

    .

    Hört ihr
    wie die Tore knarren
    zwischenweltlich
    heute Nacht

    Hört
    das Flüstern
    ihrer Seelen
    frei und leicht
    zerspinstert sacht

    Seht nur
    wie sie fließend eilen
    angelockt
    vom Kerzenlicht

    Seht
    das Leuchten
    ihrer Sphären
    wenn Freude sich
    mit Sehnsucht mischt

    Spürt nur
    wie für den Moment
    das Leben
    sie zurückgewinnt

    um einmal noch
    sanft zu berührn
    bevor man lächelnd
    Abschied nimmt

    .

    Die Autorin findet ihr hier: http://keinverlag.de/texte.php?text=284004


    Georges Bernanos
    "Wir alle müssen das Leben meistern. Aber die einzige Art, es zu meistern, besteht darin, es zu lieben.“


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