Einer meiner Lieblinge, wenn auch recht "klassisch" :
Ginkgo Biloba - Goethe 1819 (1815)
Dieses Baumes Blatt, das von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie's den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als Eines kennt?

Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich Eins und doppelt bin?


Möwenlied - Morgenstern
Die Möwen sehen alle aus,
als ob sie Emma hießen.
Sie tragen einen weißen Flaus
und sind mit Schrot zu schießen.

Ich schieße keine Möwe tot,
Ich laß sie lieber leben -
und füttre sie mit Roggenbrot
und rötlichen Zibeben.

O Mensch, du wirst nie nebenbei
der Möwe Flug erreichen.
Wofern du Emma heißest, sei
zufrieden, ihr zu gleichen.


Weltende - Else Lasker-Schüler
Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
Lastet grabesschwer.

Komm, wir wollen uns näher verbergen…
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.

Du! wir wollen uns tief küssen -
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.


Tiger - Alfred Wolfenstein

Die große Sonne scheint in seine Zelle
Und zieht auf seinem bunt gestreiften Felle
noch andre Striche: schwarzer Stäbe Schatten.

Er blinzt hinauf mit wütendem Verlangen:
Das Licht durchbricht doch die zerbißnen Stangen!
Es legt sich innen zu ihm auf die Matten!

Kann sich die Sonne nicht mit ihm zusammen
Aufs Gitter werfen? Schmelzen heiße Flammen
Aus ihrer beider Rachen nicht die Platten?

Die Sonne ist nicht heiß, wie er sie kannte,
Als sie im fernen freien Himmel brannte-
Auch sie gefangen, malt hier Kerkerschatten.


Städter - Alfred Wolfenstein
Dicht wie die Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.

Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
Ineinander, ohne Scheu befragt.

Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken ... wird Gegröle ...

- Und wie still in dick verschlossner Höhle
Ganz ungerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine


Der römische Brunnen - Conrad Ferdinand Meyer
Auf steigt der Strahl, und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;

Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht."


Sonst mag ich Poe, speziell "The Raven" und "The Bell", auch gern, aber die wurden ja schon genannt.