Jacks Herz schlug so heftig, das er dachte, es würde gleich platzen. Die Schritte hinter ihm kamen immer näher. Jack langte am Ende der ersten Treppe an und befand sich laut einem Schild im 5ten Stock. Ich schaffe es niemals bis unten, dachte Jack voller Panik. Er ist zu schnell für mich.
Runter, runter. Die nächste Treppe nahm er in noch grösseren Schritten und stolperte beinahe. Hinter ihm das Poltern. Jack war im 2ten Stock angekommen und schon völlig ausser Atem, als bei einer der Wohnungen die Tür geöffnet wurde. "Hilfe!", schrie Jack aus vollen Lungen. "Helfen Sie mir!"
Eine alte, ziemlich verdutzte Frau kam zum Vorschein. "Was ist los mein Junge?", fragte sie liebevoll. "Jemand verfolgt mich, Miss. Ein Mann...", stammelte Jack und schnappte nach Luft. Seine Lungen brannten.
"Beruhige dich.", sagte die Alte. "Nur ruhig. Wer verfolgt dich denn?"
"Ein Mann, ein Mann in schwarzem Mantel und...", Jack brach ab und lauschte. Nichts war zu hören ausser dem Gewitter draussen. Kein Poltern, keine Schritte.
"Er ist weg.", flüsterte Jack und die Angst frass ihn fast innerlich auf. "Er ist weg.", bestätigte die Alte und legte Jack eine Hand auf seine Schulter. "Möchtest du reinkommen und etwas Tee trinken?", fragte sie mit ihrer lieben Stimme.
"Nein.", sagte Jack und keuchte. "Nein danke." - "Na dann...", meinte die Alte und drückte auf den Knopf, der den Lift rief.
"Schönen Abend noch.", sagte sie und betrat den Lift. Die Türen schlossen sich. "Danke gleichfalls", murmelte Jack und setzte seinen Weg nach unten auf der Treppe fort.
Er zitterte immer noch. Was war das für ein Mann gewesen, der ihn verfolgt hatte? Oder hatte er sich das nur eingebildet?
Jack kam in der Eingangshalle an. Die Tür stand offen, der Regen peitschte herein. Hinter ihm das Piepen des Liftes. Jack drehte sich blitzschnell um. Die Lifttüren gingen mit einem Surren auf. Gleich würde die alte Lady wieder herauskommen und...
Ein schwarzer Stiefel kam aus dem Lift und Jacks Herz rutschte in seine Hose. Er war es. Der Mann mit dem schwarzen Overall.
Jack keuchte. Wie konnte das sein? Dann stand er vor ihm, der nasse Anzug glänzte im schwachen Licht. "Hallo Jack", sagte der Mann mit tiefer, verzerrter Stimme.
Jack drehte sich um wollte rennen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Mit einem lauten Klatsch! landete er am Boden, er war über seine eigenen Füsse gestolpert. "Nicht so hastig, kleiner Mann", sagte die verzerrte Stimme, die unter der Kapuze des Mannes hervorkam.
Jacks Rücken schmerzte, er musste sich etwas Verstaucht haben. Doch er bemerkte es fast nicht. Seine schreckgeweiteten Augen waren auf die grosse Gestalt vor ihm gerichtet.
Die Gestalt kniete vor ihm nieder. "Hör mir zu Jackyboy", sagte sie und streifte die Kapuze zurück. Als Jack das Gesicht darunter sah, musste er einen lauten Schrei unterdrücken. Oh Gott, dachte Jack. Oh Gott, er ist es. Das Gesicht unter der Kapuze gehörte John Crawford.

Cindy hatte sich fünf Jahre lang vor ihm und seinen Leuten versteckt. Fünf Jahre lang hatte sie einen Ort gesucht, an dem er sie nicht finden würde. Das schwarze Amulett, das ihr John damals geschenkt hatte, trug sie noch lange um den Hals, doch es hatte nicht mehr den gleichen Wert für sie. Dieses Amulett, irgendetwas hatte es damit auf sich. Cindy wusste nicht genau was, aber sie wusste zumindest, dass es nichts gutes war.
Als John an diesem Morgen vor ihrer Tür stand, und sie freundlich anlächelte, als wären sie die dicksten Freunde, wäre Cindy fast durchgedreht. Doch sie wusste, das John nie aufgeben würde. Wenn sie schon mit ihm reden musste, dann jetzt und danach nie mehr.
John war ihr in das Haus gefolgt und Jack war sofort auf seinem Zimmer verschwunden. Sie hatten sich an den Esstisch in der Küche gesetzt und dann fing er an zu reden. Zuerst erzählte er, was er die letzten fünf Jahre getan hatte (was nicht gerade interessant gewesen sein musste) und dann, nach endlos langer Zeit, kam er endlich auf den Punkt.
"Ich brauche dieses Amulett", hatte er gesagt und auf ihren Hals gestarrt. "Ich brauche es jetzt, Cindy."
Doch Cindy wollte es ihm nicht geben, schon aus Prinzip nicht. In ihrem Hinterkopf wusste sie, das er damit irgendetwas BÖSES vorhatte. Und das die bösen Dinge durchaus sein Gebiet waren, hatte sie schon am eigenen Leib erfahren müssen. Damals, als sie sich von ihm getrennt hatte, war es genau aus diesem Grund. John hatte versucht, sie im Schlaf zu erdrosseln. Doch Cindy war im letzten Augenblick aufgewacht und hatte sich mit ihren langen Fingernägeln zur Wehr gesetzt. Noch heute zierte eine kleine Narbe Johns linke Wange. Cindy hatte nie erfahren, warum John sie sterben lassen wollte, denn sie ging auch nie zur Polizei. Das hatte einen guten Grund, nämlich den, das Cindy einen Jungen überfahren hatte und nur John hatte es gesehen (Cindy war betrunken gewesen, oh ja, und der unschuldige kleine Junge, dieser arme kleine Junge). So hatten sie sich kennengelernt.
Doch nun war Cindy einiges klarer geworden, als es damals war. Als John sie umbringen wollte, das hatte etwas mit dem Amulett zu tun. Alles hatte etwas mit diesem verdammten Amulett zu tun. Sie wusste nur nicht was.
Als John bei ihr nach fünf endlosen Jahren geklingelt hatte, hatte sie schon gewusst, dass er sein Amulett abholen wollte. Doch sie hatte vorgesorgt. Sie hatte die Kette vom Amulett gerissen und das Amulett (das nicht sonderlich gross war aber auch nicht sehr klein) einfach in den Mund gesteckt und hinuntergeschluckt. Dort würde es sicher sein, bis sie zum nächsten Mal auf die Toilette musste. Johns Augen hatten während dem Gespräch immerzu ihren Hals abgesucht, doch sie hatten nichts gefunden.
Cindy hatte ihm gesagt, sie hätte es irgendwo verloren. Johns Augen waren fast aus ihren Höhlen getreten und sein Kopf wurde röter als eine reife Tomate. "Wo?", hatte er sie angeschrien. "Wo zum Teufel hast du es verloren, du blöde Fotze?"
Cindy hatte nur die Achseln gezuckt und sich eine klatschende Ohrfeige von John eingefangen. Cindy hatte angefangen zu weinen und hatte ihm gesagt er solle auf der Stelle das Haus verlassen, oder sie würde die Polizei rufen.
Das hatte John auch getan, er war gegangen.
Cindy war weinend zurückgeblieben, doch tief in ihrem Inneren verspürte sie Genugtuung gegenüber ihrem Ex-Mann. Er würde sein Scheiss-Amulett nie bekommen, dafür würde sie sorgen. Doch sie wusste auch, das John zurückkommen würde. Er kam immer zurück.

Jack starrte seinen Vater voller Schrecken und Ungläubigkeit an.
John entfernte ein Gerät vom Kragen seines Overalls, das Gerät, das seine Stimme so verzerrt hatte.
"So, nun habe ich dich, Jackyboy", sagte sein Vater mit seiner normalen, rauchigen Stimme, doch kein Anzeichen von Liebe oder Wärme gegenüber seinem Sohn war darin zu hören. "Du musst mir etwas erzählen."
Jack konnte nichts sagen, er schüttelte nur den Kopf.
In Johns Augen flammte eine gleissende Wut auf. Seine Hand schnellte vor und packte Jacks Kragen.
"Es gibt etwas das ich wissen muss, Jack", schnauzte John und er schüttelte Jack durch, das dessen Zähne klappernd aufeinanderschlugen, während er es sagte. "Und du wirst es mir sagen."
Tränen begannen Jacks Wangen herunterzulaufen. Was wollte sein Vater von ihm?
"Es geht um ein Amulett, Jackyboy. Das Amulett das deine Mutter immer bei sich trägt", Johns Augen funkelten. "Wo hat sie es versteckt?"
Jack wusste es nicht, und selbst wenn er es gewusst hätte, hätte er es seinem Vater nicht gesagt. "Ich weiss nicht", stammelte Jack.
Johns Hand liess seinen Kragen los, aber nur um nach hinten zu fahren und ihm dann eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Jack heulte auf, brennender Schmerz fuhr durch seinen Kopf.
"Ich weiss es wirklich nicht", sagte Jack unter Tränen und hielt sich den schmerzenden Kopf.
"Dann wirst du mit mir kommen, Jacky", sagte sein Vater und lächelte, doch das Lächeln war kälter als ein Eiszapfen. "Und wir werden es gemeinsam herausfinden."
John packte Jack grob am Arm und zog ihn auf die Beine. Dann stolperte Jack hinter seinem Vater her und in den prasselnden Regen hinaus. Jack konnte einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr werfen. Sie zeigte 16:22 Uhr. Seine Mutter war immer noch nicht aufgetaucht. Wo war sie nur?
John beförderte Jack unsanft in seinen Mercedes und schlug die Tür so schnell zu, das Jacks Fuss beinahe dazwischen gekommen wäre. John setzte sich hinter das Steuer und startete den Motor. Dann fuhr er los. Die ganze Fahrt über, zeigte er einen irren Gesichtsausdruck, mit diesem eiskalten Lächeln im Gesicht.


Der 3. Teil kommt demnächst ...