Blutrausch
Prolog
Wie muss es sein nach einem Trank zu dürsten, den man auf ewig verweigern muss?
Glücklich entkommen von meinem Meister befand ich mich bei meinen Lieben. Noch ahnten sie nicht, wie sehr ich mich verändert hatte und wollten es wohl auch nicht wissen. In wilder Hatz war ich hier gelandet und sie sahen wohl, dass ich viel hinter mir hatte. Nicht freiwillig hatte mich mein finsterer Gebieter ziehen lassen und sein düsteres Lachen hallte noch in meinen Ohren wieder, als mein Blick schon über ihre lieben Gesichter glitt. Doch dieser Blick war unstet und huschte rasch von Einem zum Nächsten. Jeden Moment fürchtete ich, dass mein böser Verfolger mich wieder finden würde, mich zu einem Ort bringen würde, der wieder so entfernt von diesen lieben Antlitzen war. Oder es spukte der wirre Gedanke durch meinen Kopf, dass sie entdeckten, was mit mir geschehen war und sich dann mit Grauen von mir abwenden würden. Doch in meinem Innersten war ich von einem stummen Dämon befallen. Der Durst regte sich langsam aber sicher und ich ahnte, was kommen würde. Das nahende Unglück, das uns wieder trennen sollte für alle Ewigkeit. Denn das Schicksal lässt sich nicht überlisten und meine Stunden mit ihnen waren schon damals gezählt und genau bemessen. Auch wenn ich das nicht wahr haben wollte. Doch ich war noch jung und mein Leben hatte sich erst vor kurzer Zeit so stark verändert. Wie sollte ich damals schon den Weitblick genießen, der mir jetzt zu Eigen ist? Doch meine Gedanken schweifen abermals ab und die Worte wollen gesagt werden, bevor meine Feder sie ziehen kann.
Rebecca, meine Verlobte, hatte sich zu mir begeben und schaute in meine düster vor sich hin blickenden Augen. Sie hatten seit den Schatten, die mich jetzt umgaben, einen so herben Schleier, den meine Liebste aus glücklicheren Tagen nicht kannte. Sie ahnte, dass etwas Schlimmes mit mir geschehen war, was sie nicht für möglich halten würde, denn solche Dinge waren ihr gänzlich fremd. Ich hätte es ihr sagen können. Doch ich wollte nicht. Stattdessen musste ich mich zurückhalten bei dem Anblick ihrer schönen Gestalt. Sie hatte sich trotz der vergangenen Jahre kaum verändert und ich sah sie noch so, wie vor meiner Wandlung. Nur die Richtung meines Blickes hatte sich verändert. Früher hatte ich immer stundenlang in ihre klaren Augen geschaut und war darin wie in einem Bergsee versunken. Doch jetzt hatte ich keinen Sinn mehr für diese funkelnden Seen. Meine Aufmerksamkeit galt mehr ihren Venen und das machte mich umso trauriger, als ich es bemerkte. In meinem Innern wütete ein ruheloser Dämon, der mir keine Minute der Erholung ließ.
Vor Tagesanbruch zog ich mich von ihnen zurück. Ich wollte nicht in ihrer Nähe verweilen. Eine Höhle verborgen im Wald schien mir angemessener, als das Bett in meinem Anwesen. Nur heitere Stunden hatte ich auf meinem Gut verbracht und so sollte es auch bleiben. Zudem musste ich bedenken, dass mich dort jederzeit eine dieser guten Seelen bei meinem starren Schlaf entdecken konnte. Das hätte nur zu Unruhe geführt und ich wollte mich dieser Belastung nicht unnötig aussetzten. Dieser finstere Ort sollte mir zur Ruhe dienen. Doch vorher wollte ich noch den Dämon in meinem Innern befrieden. Ich machte mich also auf die Suche nach einem Opfer. Doch welches perfide Spiel wurde da mit mir gespielt? Ich konnte meinen Durst nicht stillen. An keinem der Menschen hier konnte ich mich laben. Denn jeden, aber auch jeden kannte ich schon von Kindesbeinen an und Fremde waren heute nicht zugegen. Auch fürchtete ich, von einem Menschen erkannt zu werden, wenn ich mich an einem Unglücklichen labte. Hätte meine Geliebte mich bei diesem Anblick gesehen, ich hätte sterben können vor Reue. Mit letzter Kraft hielt ich mich also zurück und ließ den Nachtwächter seine Arbeit tun. Mein Denken kreiste immer mehr um den roten Lebenssaft und ich träumte von einem Regen dieser erquickenden Flüssigkeit. Was für ein schauerlicher, nächtlicher Alb. Doch mir erschien es wie die schönste Geschichte, die sich ereignen konnte. Eine Nebenwirkung, die ich noch oft haben sollte, immer wenn keine Menschen mir für lange Zeit zum Opfer fallen sollten. Viele Jahrzehnte, war dies der einzige Traum, den ich hatte, bis zu jenem Tag, der mein Dasein zum zweiten Male verändern sollte.
Diese Ruhe, war keine echte Ruhe. Zwar lag ich wie jedes Mal, wenn der Sonnenwagen seine Bahn zog, wie tot auf dem harten Stein. Doch dieses Mal war vieles anders. In meinem Innern tobte es und in der nächsten Nacht würde ich mich stark in Zaun halten müssen, um meine Liebsten nicht zu gefährden. Trotzdem begab ich mich nach dieser falschen Ruhe zu den meinen und setzte mich zu meinem Augenstern. Sie merkte wie immer, dass etwas nicht stimmte. Doch sie fragte nicht mehr, was mit mir geschehen sei, denn sie spürte wohl, dass ich ihr keine Antwort geben konnte. So kuschelte sie sich nur ein bisschen an meine kalte Brust und schlief nach einiger Zeit ein. Sie sah so glücklich aus und es war schön sie wieder in den Armen zu halten. Aus eigenem Antrieb wäre ich ihr nicht so nahe gekommen, weil ich nicht wollte, dass sie meine Wandlung bemerkte und natürlich, weil ich Angst davor hatte schwach zu werden. Aus so kurzer Entfernung konnte ich ihre Venen noch besser sehen und ihr Herz schlug leise an meiner Brust, in der es jetzt so still war. Langsam nahm ich ihre Hand, wie um ihr einen Kuss zu geben. Doch stattdessen biss ich ihr in die Ader. Da sah ich zufällig in einen nahen Spiegel und sah mein schändliches Tun. Wie von einem Blitz getroffen ließ ich von ihr ab und muss sie wohl etwas von mir gestoßen haben, denn sie erwachte aus ihrem Schlummer. Und sie sah das Blut an ihrem Handgelenk und meine Zähne, die noch immer blutig von meinen Lippen hervorstachen. Diesmal musste ich ihr Antwort geben. Ein ruchloser Dämon habe mich befallen und ich verspüre nun immer böse Gelüste. Auf ewig müsse ich mich von dem Saft der Lebenden ernähren, um selbst des Tages in einem finsteren Gewölbe Schutz zu suchen, da die Sonne mein sündiges Antlitz nicht mehr ertrage. Versuchte ich ihr zu erklären, was mit mir geschehen war.
Wie nicht anders zu erwarten, war Rebecca mehr als verstört. Ängstlich wich sie vor mir zurück, vor dem Monster in mir. Und wer konnte es ihr verdenken. Ich selbst wäre in wilder Hast geflohen, hätte ich vor dem Wesen in mir wegrennen können. Trotzdem zog es mir das Herz in der Brust zusammen, als ich die Furcht in den Augen meines liebsten Schatzes sah. Ich zog mich wieder in die modrige Höhle zurück, die wir in frohen Kindertagen gemeinsam aufgesucht hatten. Dort wollte ich bleiben, bis ich mich dazu durchringen konnte, meinem Dasein ein frühes Ende zu setzen. Nie wieder durfte ich meine Lieben in Gefahr bringen. Ohne meinen einzigen Stern in dieser finsteren Nacht, wollte ich nicht länger auf dieser Welt verweilen, die mir nur noch düster erschien und nichts konnte mich aus der Finsternis reißen.
In der nächsten Nacht war ich schon recht schwach vor Durst und konnte mich schon nicht mehr mäßigen. Wäre eine Ratte in die Höhle geschlichen, ich hätte sie ausgesaugt bis auf den letzten Tropfen. Auch wenn ich mich schon von klein auf vor diesen Wesen geekelt hatte. Doch zu meinem Unglück mied jedes Tier den Geruch, den die Höhle verströmte. Es war der Gestank des Todes – meine Ausdünstungen. Doch nach einiger Zeit kam doch jemand in die Höhle geschlichen und der Jäger in mir erwachte und machte sich bereit für ein schnelles Zupacken. Doch als ich ein süßes Parfüm vernahm, erkannte ich, wer da kam und zog mich rasch vor ihr zurück. Denn ich wusste nicht, ob ich mich noch lange gegen den Duft ihres Blutes würde wappnen können und ich wollte meinem Sonnenschein – den einzigen, den ich noch ertrug - kein Haar krümmen. Doch sie kam auf mich zu und zum Schluss fühlte ich eine Felswand in meinem Rücken. Panik schlich meine Brust hinauf, fasste mein Herz und langsam aber sicher machte mich der Duft ihres Blutes wahnsinnig. Sie war so lebendig und ich so tot. Welches verfluchte Schicksal hatte mich da ereilt? Sollte mir noch ein letztes Mal vor Augen geführt werden, wie sehr ich von ihr durch einen tiefen Graben getrennt war, den keiner von uns ohne großes Leid überwinden konnte?
Vor lauter Wahnsinn hatte ich mir mit einem dieser verfluchten Fangzähne in die Lippe gebissen und ein vereinzelter Blutstropfen rann allmählich mein bleiches Kinn hinab. Obwohl ich aussehen musste wie ein wildes Tier, richtete sie ihre Stimme voll Liebreiz an mich und das würde ich ihr nie vergessen können. Dieser Engel war zu gut für mich und das wusste ich schon bevor sie diese selbstlose Bitte aussprach. Denn es war eine Bitte an mich, die wilde Bestie und den verzweifelten Menschen. „Liebster, weich doch nicht weiter vor mir zurück! Ich habe eine Entscheidung getroffen. Komm und höre sie dir an, mein Schatz! Ich bin für alles bereit. Einen Teil meines Blutes will ich dir schenken, damit ich dich nicht mehr so leiden sehen muss. Bitte lass dir von mir helfen, damit wir noch viele Jahre miteinander in Freude teilen können.“ Das hätte gereicht, um mich wieder zu stärken, doch ich war nicht beglückt. Ganz im Gegenteil, war ich bestürzt über ihr Ansinnen. Denn ich wusste, dass ich mich nicht würde zügeln können und dann wäre alles zu spät für sie gewesen. Doch sie wusste, dass ich bald vergehen würde, wenn sie nichts dagegen unternahm und drang immer mehr auf mich ein. Denn wahrlich mein Geist würde in diese Zeit des ungestillten Durstes aufs äußerste strapaziert werden und es sollte noch lange dauern, bis ich wieder an etwas anderes als die Farbe rot denken konnte. Schroff musste ich sie abweisen, denn ich liebte sie auch als Ungeheuer noch unsterblich. Ja bis in alle Ewigkeit würde mein nun dunkles Herz ihr gehören, die ich schon so lange verloren habe, weil ich die einzige Lösung für dieses Dilemma nicht akzeptieren konnte. Ich konnte sie nicht töten und dann auf die dunkle Seite der Nacht ziehen. Zwar hätte ich dann die Ewigkeit mit ihr geteilt, doch ich wusste schon damals, dass sie daran zerbrechen würde. Ihr ungetrübtes Gemüt würde es nicht überstehen, wenn sie jemals das Blut ihrer Mitmenschen kosten würde. Darum machte ich ihr klar, dass die Gier schon zu stark war für diesen Plan. Sie musste einsehen, dass ich sie trotz der innigen Gefühle für sie, augenblicklich töten würde, sobald der erste Tropfen ihres süßen unschuldigen Blutes meine kalten Lippen benetzte. Lieber wollte ich lebendig in einem Sarg begraben werden, als das ich Schuld an ihrem Tod trüge und so kam es denn. Des Tages als ich schlief, erfüllte sie meinen Wunsch und aus Liebe ruhte ich eine halbe Ewigkeit im dunklen Schoß der Muttererde.
Jahrhunderte später entdeckte mich einer meiner dunklen Brüder und scharrte die Erde von meinem Sarg. Erstaunt schlug ich nach langer Zeit die Augen auf und schluckte das Blut meines Retters, das er mir großzügig gab. Noch immer muss ich weinen, wenn ich an meine verlorene Liebe denke. Sie war ein Engel des Lichts in dieser düstren Welt. Seht mir also bitte die roten Flecken auf dem Pergament nach. Es sind meine Tränen, die ich um sie vergossen habe.
Diese traurige Geschichte schreib ich kurze Zeit nach meiner Befreiung nieder, um irgendwie das unsägliche Leid zu verarbeiten, das mir widerfahren war. Was ich jetzt erzählen möchte, hat wenig mit dem Leben zu tun, das ich damals führte. Die Jahrhunderte unter der Erde marterten meinen Geist und nahmen mir für die Zukunft einige meiner Hemmungen in Bezug auf den roten Nektar des Lebens vor allem den Genuss desselben. Was lässt sich noch sagen? Vielleicht sollte ich noch eine kleine Warnung an die Menschen, die in Begriff stehen dies zu lesen, an dieser Stelle anbringen. Meine Geschichte könnte sie so verunsichern, dass sie plötzlich vor Angst und Abscheu in Frage stellen, was sie immer für selbstverständlich erachtet hatten. Sie schauen sich öfter als früher um – und gehen sie durch Schatten, starren sie so lange in die Dunkelheit, bis sie sich sicher sind, dass dort nichts auf sie lauert, um ihnen das pulsierende reine Blut aus den Adern zu saugen.
Jetzt auf einmal werden wir ihnen gewahr, wenn wir sie aus den Schatten heraus beobachten, und das Wissen um unsere Gegenwart erregt und verängstigt sie zugleich. Obwohl wir natürlich schon immer da gewesen sind, mit Wachsamkeit und Raublust. Im Grunde haben sie es immer gewusst – in jenem Teil tief in ihrem Innern, der instinktiv die Wahrheit spürte. Doch bislang fiel es ihnen leicht, dieses Wissen zu verdrängen. Bis jetzt wollten sie der Wahrheit nie ins Auge blicken.
Doch wer bin ich eigentlich? Bin ich der hochgewachsene, gutaussehende Typ mit den unverwechselbaren Zügen, der wegen seines letzten Kinoerfolgs einen Oskar entgegen nimmt? Der Mann an der Tankstelle, der fragt, ob er ihren Reifendruck kontrollieren soll? Oder bin ich womöglich der Rockstar, der sich mit dem Rhythmus und der Melodie seiner Stimme in die Herzen seiner Fans schmeichelt? Wir sind überall und nirgends. Manchmal verbirgt sich hinter dem einsiedlerischen Kerl von Nebenan, der kaum aus dem Haus kommt, mehr als man auf den ersten Blick vermuten mag. Diese Geschichte könnte ihren Blick auf die Welt verändern und für Dinge schärfen, die sie im Traum nie für möglich hielten. Darum sollten sie nachts noch ruhig schlafen wollen, sollten sie diese Seiten vielleicht lieber für eine ruhigere Lektüre auf die Seite legen. Aber warum sollten sie sich schon von meiner Warnung beeindrucken lassen? Also lehnen sie sich zurück und lauschen meiner düsteren Biografie. Aber sagen sie nicht, dass ich sie nicht gewarnt hätte.
1. Kapitel - Nächtliche Jagd
Seit meiner Erweckung wurde mein ganzes Dasein von dem roten Nektar bestimmt. Sogar meine ehemals strahlend weißen Perlen der Trauer waren blutrot gefärbt. So konnte ich nicht einmal meine schmerzlichen Gefühle oder Tränen der Freude – nicht das ich in dieser dunklen Zeit oft welche gehabt hätte, offen darlegen, ohne als Geschöpf der Nacht enttarnt zu werden. Und als hätte er meinen Schmerz gespürt, rief auch schon mein stummer Retter nach mir. Es sollte sich noch zeigen, ob dies wirklich eine Rettung gewesen war, oder ob ich nicht besser auf ewig in den Tiefen der Erde geruht hätte. „Du solltest die Vergangenheit begraben. Du bist ohne sie von den Toten auferstanden.“ „Wohl eher zu den Toten auferstanden, Navras.“ „Wie du meinst. Mir scheint wir sind lebendiger als so mancher Mensch. Doch lass uns das eine andere Nacht bereden.“ Jedes dieser Worte wechselten wir für Sterbliche unhörbar, denn Navras war wirklich stumm. Bei einer Reise durch den Libanon geriet er an einige ziemlich zwielichtige Gestalten, die versucht hatten ihn zu Tode zu foltern. Zu ihrem Pech erträgt unsere Rasse viel mehr Schmerzen, als normale Menschen. Bevor sie ihren Fehler bereuen konnten, hatte sich Navras befreien können und bitterlich an ihnen gerächt. Jedoch verlor er vorher seine Zunge. Deshalb kann er sich nur noch mit anderen Kindern der Nacht telepathisch verständigen, denn nur wenige Menschen sind empfindlich für unsere Botschaften.
Doch das machte nicht viel aus. Navras war seit ich ihn kannte immer sehr schweigsam gewesen, wenn es um seine eigene Person ging und gab nur Bruchstückeweise etwas über sich preis. Das was ich wusste, hatte ich erst nach Jahren der Wanderschaft mit ihm erfahren. Für mich war es ein arger Schock gewesen, als er zum ersten Mal seine Worte telepatisch an mich übermittelte. Und selbst dieser Satz in einer neuen Zeit wurde vom roten Lebenssaft bestimmt. „Trink!“, erklang seine Stimme in meinen Gehirnwindungen und er reichte mir sein Blut dar, das schon aus seinem aufgerissenen Handgelenk pulsierend floss. Ich zögerte keine Sekunde sein Geschenk anzunehmen. Hatte ich doch in den letzten Jahrhunderten an nichts anderes gedacht als an diesen süßen Nektar und die Liebe, die ich zurückließ. Er musste mich davon abhalten mir zu viel davon zu nehmen. Nach dieser Mahlzeit war mein Geist wieder einigermaßen klar und seit dieser Nacht folgte ich ihm auf seiner Wanderschaft.
„Warum beschäftigst du dich so intensiv mit dem, was du auf ewig verloren zu haben glaubst, Cornelius? Ich merke doch, wie du dich jede Nacht aufs Neue selbst quälst.“ Ich blieb ihm die Antwort schuldig, da ich sie selbst nicht kannte. Wer konnte schon genau sagen, warum die gemarterte Seele sich immer wieder die Vergangenheit vor Augen führt und sich selbst noch mehr Schmerzen zufügt. Vielleicht warf ich mir unbewusst eine Schuld an dem vor, was mir widerfahren war und wollte so einen Teil dessen, was mich belastete, zurückzahlen. Doch Navras hatte in gewisser Weise Recht. Es war besser, die Zeit vor meinem langen Schlaf ruhen zu lassen. Aber wie konnte ich das Liebste, das ich besessen hatte, jemals vergessen? Abermals rann eine einzelne Träne über meine totenbleiche Wange. Er schaute kurz weg, um mich in meinem Schmerz alleine zu lassen. Doch nach einiger Zeit meinte er: „Wir sollten die angebrochene Nacht zum Jagen nutzen. Das bringt dich auf andere Gedanken.“ Ich nickte nur stumm.
Genauso still wie mein Begleiter machte ich mich auf den Weg. Einige unserer dunklen Brüder grüßten uns. Doch ich hing zu sehr meinen eigenen Gedanken nach und nickte höchstens kurz. Die Bar, die unsere Zuflucht geworden war, war ein beliebter Treffpunkt untern den Wesen der Nacht. Aber auch anderes seltsames Gesindel trieb sich hier herum. Jeder der sich damit auskannte, wusste, dass man hier Kopfgeldjäger, Drogendealer oder Waffenhehler fand. Auch befand sich gleich nebenan eine heruntergekommene Klinik. Wer wollte, konnte sich dort gegen klingende Münze mit Blutbeuteln eindecken. Doch warum sollte man sich teuer mit konserviertem Blut abgeben, wenn man es günstig auf der Straße fand? Das Jagen war nicht Jedermanns Sache, doch Navras schien dabei sogar aufzublühen. Verstehen sie mich bitte nicht falsch. Er verabscheute das Töten fast genauso wie ich und sah es mehr als notwendiges Übel. Aber immer wenn ich ihn begleite bemerkte ich diese Eleganz an ihm und eine innere Ruhe, die mir noch nicht zu Eigen war.
In den letzten Nächten hatte ich gelernt vollkommen lautlos durch die Finsternis zu schleichen. Von meinem Schöpfer hatte ich so gut wie nichts über meine Existenz erfahren, da ich damals schon sehr früh geflohen war. Ich wusste nicht mehr über mich und meine dunklen Brüder als so mancher Mensch. Das Meiste brachte ich mir selbst bei oder erfuhr ich von Navras. Ohne Hilfe wäre ich wohl bald nur noch ein bemitleidenswertes Wesen gewesen, das Nachts durch finstre Gassen schlich und tagsüber in Abrisshäusern hauste. Solche gab es genug. Sie ernährten sich neben Menschen auch von Ratten und anderem Getier und lebten oft nicht lange genug, um ihre Fähigkeiten wirklich zu ergründen. Um so länger ein Vampir durch die finstre Welt wandelte, um so stärker wurde er und die Wesen der Nacht, die er erschuf. Auch konnte man stärker werden, wenn man sich das Blut eines anderen mächtigen Unsterblichen einverleibte. Doch mit diesen legte man sich lieber nicht an. Nichtsdestotrotz machte man sich unbewusst Feinde, umso mächtiger man war. Dies mochte aus Neid, aber auch Angst der Fall sein. Wer wusste schon, warum sich unser Volk stets selbst bekämpfte. Die Jäger des Blutes waren oft einsame Wölfe, die alleine über die Erde streiften.
Unsere Schritte führten uns in einen dunklen Park. Die Stadt hatte nicht das Geld die Straßenlaternen die ganze Nacht hindurch brennen zu lassen und so bestand keine Gefahr entdeckt zu werden. Dank meiner geschärften Sinne, war es mir schnell möglich ein geeignetes Opfer aufzuspüren. Wie viele Andere bevorzugten Navras und ich das Blut der Verdammten, Gesetzlosen und Tod geweihten. Wer eine unschuldige, reine Seele aussaugte, konnte nur allzu leicht Schuld auf sich laden. Da man eine enge Bindung mit seinem Opfer im Augenblick seines Todes aufbaute, wusste man danach oft mehr über ihn oder sie als deren Mitmenschen.
Navras blieb stehen und blickte in eine nahe dunkle Gasse. In einem Hauseingang saß er, ein Halbstarker mit unklarer Zukunft. Sein Geist war von irgendwelchen berauschenden Mitteln umnebelt, weshalb wir uns keine Mühe machten uns unbemerkt an ihn zu schleichen. Ich war schon so vielen dieser armen Kerle begegnet, die bereit waren für ein Gramm Koks oder eine Nadel ihre Seele zu verkaufen. Dieser war noch keine 25 Jahre alt und doch las ich in seinem Geist, was er schon alles bereit gewesen war zu tun für das Gift mit dem er seinen Körper voll pumpte. So jung und doch schon so kaputt. Ich schüttelte mitleidig den Kopf.
Navras beugte sich zu dem Unglücklichen runter und zog ihn zu sich hoch. Für einen Vorübergehenden musste es aussehen, als würden sich zwei gute Freunde umarmen. Doch der schwarze Engel der Nacht hatte bereits seine Fangzähne in das weiche Fleisch seines Opfers gegraben und saugte ihm das Blut aus den Adern. Nach einer Weile sah er mir fragend in die Augen, aber ich schüttelte nur den Kopf. Heute Nacht brauchte ich noch kein Blut und außerdem ekelte ich mich vor dem Geschmack des Heroins in seinen Adern. Zwar konnten uns diese Drogen genauso wenig wie Alkohol, Gifte oder Krankheiten anhaben, doch der Geschmack widerte mich an und diese Nacht war ich auch nicht wirklich für eine Jagd in der Stimmung gewesen. Ich war nur mit Navras umhergestreift, da ich wusste, dass er mir keine Ruhe gelassen hätte, bis ich ihn begleitete. Er saugte also auch den letzten tropfen Blutes aus seinem Opfer und warf sich seinen schlaffen Körper danach über die Schulter. Wir versenkten die Leiche in einen nahen Fluss, nachdem wir ihr die Kehle durchgeschnitten hatten. Normalerweise ließen wir unsere Opfer einfach zurück, doch in dieser Gegend spielten oft Kinder und wir wollten nicht, dass eines von ihnen den leer getrunkenen Leichnam fand.
Nachdem wir den toten Junkie verschwinden lassen hatten, machten wir uns auf den Rückweg zu unserem Unterschlupf. Ich hing mal wieder meinen eigenen Gedanken nach, als Navras mich nach einiger Zeit ansprach.
„Du trinkst mal wieder zu wenig. Die Schwäche, die einen befallen kann, wenn man so sparsam auf die Jagd geht, ist nicht zu unterschätzen.“ „Ich weiß, wie weit ich gehen kann. Bedenke, dass die Alten nicht mehr so viel Blut benötigen.“, erwiderte ich. „Aber du lagst mehr als 300 Jahre unter der Erde in einem muffigen Sarg ohne einen einzigen Tropfen Blutes. Du solltest nach dieser Erfahrung nicht mehr so leichtfertig eine Mahlzeit ausschlagen.“ „In der nächsten Nacht werde ich selbst auch jagen, zufrieden?“ Insgeheim hatte ich mir schon vorgenommen dieses Versprechen wieder nicht einzuhalten, aber er sagte nichts mehr darauf. Wahrscheinlich merkte er selbst, dass bei mir jede Diskussion sinnlos war. Wir schwiegen fast den ganzen restlichen Weg. Ich wusste zwar, dass Navras Recht haben mochte, doch es bereitete mir immer noch Unbehagen meine Opfer zu töten, um mich an ihrem Saft zu laben. Darum schob ich jede Mahlzeit so weit wie möglich vor mir her. Zwar konnte man ein Opfer auch am Leben lassen. Doch dazu musste man es vorher erst in Trance versetzten, oder bewusstlos schlagen. Dann musste man noch eine unauffällige Stelle suchen, an der man die Haut anritzen konnte, um ihm einiges von seinem Blut abzunehmen. Diese Methode war nicht gerade beliebt, da es auch bedeutete, dass man öfter auf die Jagd gehen musste.
„Kennst du schon das Lucky Star Motel? Ich finde, wir sollten mal wieder die Örtlichkeiten wechseln.“, brach Navras die Stille wieder. Wir zogen spätestens nach einem Monat immer um, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Egal wie geschickt man sich anstellte, nach einer Weile kamen sie einem immer auf die Spur. Jäger konnten eine richtige Pest sein. Hatten sie einen erst einmal entdeckt, bleiben sie wie Bluthunde an deinen Fersen. „Und wo befindet sich dieses Motel?“ „L.A. wird dir gefallen.“