ich glaube, Ianus findet gefallen daran mit das wort im mund zu verdrehen. ich bin natürlich nicht darauf aus, unsere sprache in irgendeiner form in frage zu stellen. mir geht es hier um etwas grundsätzliches. egoismus ist für mich ein bewusst eigennütziges verhalten, durch das man sich selbst in irgendeiner form bereichert, wobei man notfalls auch über leichen geht.
und da ich tieren kein so bewusstes denken nachsagen will und kann, halte ich es für unangebracht "egoismus" im zusammenhang mit der natur zu verwenden. jeder andere kann das gerne tun, ich finde es nicht so gut.
und da ich eben finde, dass egoismus eine sehr bewusste angelegenheit ist, glaube ich auch nicht, dass egoismus etwas mit hilfsbereitschaft zu tun haben kann -egal wie gut man sich danach selbst fühlt. das gute gefühl ich meiner meinung nach der beste nebeneffekt, aber nicht der grund.
ich finde es schon ziemlich bezeichnend für unsere gesellschaft, dass man diese beiden grundsätzlich verschiedenen bereiche überhaupt miteinander in verbindung bringen will. das heißt nur, dass es uns bereits zu gut geht, schließlich wissen die meisten von uns gar nicht, was angst, verzweiflung, armut und leid wirklich bedeuten....
man kann sich über dieses thema ja noch lange auslassen, aber ich werde mich mit einem kleinen text aus dem staub machen §Chicken
macht es gut, tut gutes, bleibt sauber!
Gesichtslos ziehen Frauen vorbei an Shirin-Gol. Gesichtslos zieht Shirin-Gol vorbei an anderen Frauen. Sie nehmen sich gegenseitig nicht wahr. Nicht als Menschen.
Ein Tuch geht vorbei, zwei. Ein Tuch spricht mit ihr, bettelt um Geld oder Brot. Fragt, ob sie Arbeit für sie hat. Manchmal hört Shirin-Gol eine Stimme und denkt, die kenne ich. Einmal packt ein Tuch sie am Arm, zieht sie zur Seite, begrüßt sie, umarmt sie, küsst sie. Dann merkt das Tuch, dass es sich getäuscht hat. Das Tuch dachte, eine verlorene Schwester wiedergefunden zu haben.
Vor Shirin-Gols Füßen liegt ein kleiner Junge im Staub. Bis auf einen grauen, staubigen Lumpen, den er sich um die Hüften gewickelt hat, ist er nackt. Der ganze Mensch ist so voller Staub und Dreck, dass er sich von dem Sand und Schotter der Straße kaum abhebt. Er hat nur noch ein Bein, es ist Haut und Knochen und so verkrüppelt, dass es eher eine Last ist denn eine Hilfe.
Auf derselben Seite, wo dem Jungen ein Bein fehlt, hat er keinen Arm. Der andere Arm ist nur ein Stumpf. Er setzt den wunden Stumpf auf, konzentriert sich und zieht seinen Rumpf und den Rest von sich, der noch übrig ist, hinterher.
Shirin-Gol muss sich anstrengen, um in dem Durcheinander aus Haut und Knochen und Dreck das Kind zu sehen. Nur noch entfernt erinnert es an einen Menschen, eher sieht es aus wie ein großes Insekt. Ein Insekt, das schon halb zertrampelt ist, aber noch lebt. Halb tot, halb lebendig liegt es da und zappelt. Und keiner hat Gnade und erlöste es von seinem Halbleben.
Shirin-Gol konzentriert sich auf seine Augen, seine wunderschönen, dunklen, freudig strahlenden Augen, die dem Shirin-Gol-Tuch ein aufrichtiges Lächeln schenken. Das schönste Kinderlächeln der Welt.
Shirin-Gol kauft Brot, hockt sich hin, schlägt ihr Tuch zurück, reißt kleine Stücke vom Brot ab, füttert Insektenjunge.
Insektenjunge hat beim Durchsuchen von Müll eine Spielzeugmine gefunden. Eine Mine, die extra für Kinder gebaut ist. Eine Mine, die aussieht, wie Spielzeug. Insektenjunge hat die Dose gesehen, sie war wunderschön, sie hat geglitzert und gefunkelt.
So sehr gefunkelt und geglitzert, dass er nicht widerstehen konnte und er sie unbedingt öffnen musste, um zu sehen, was darin ist. Die Wucht der Explosion war nicht besonders groß, aber sie hat seine Hände, Arme, Lippen in Fetzen gerissen und ihn in die Luft geschleudert. Es war, als würde er fliegen. Und dann, als er auf dem Boden aufgekommen ist, hat es wieder eine Explosion gegeben, dann erinnert er sich an nichts mehr. Die Leute haben später gesagt, dass er auf eine zweite Mine geschleudert worden ist.
Männer gehen vorbei an Shirin-Gol, die auf dem Boden neben dem Insektenjungen hockt, sehen sie mitleidig an. Frauen unter Tüchern bleiben stehen, schütteln den Kopf, gehen weiter. Andere Tücher tuscheln, streifen Shirin-Gols Arme, ihren Kopf, ihre Wange. Ein Tuch spricht sie an, es hat Hunger, will Brot, will Arbeit. Ein anderes Tuch legt seine Hand auf ihren Rücken, zieht sie zu sich hoch, wischt Tränen aus Shirin-Gols Augen und sagt, zeig keine Schwäche, das ist doch alles, was sie wollen. Wir sollen Schwäche zeigen, damit sie sich stark fühlen. Das Tuch umarmt Shirin-Gol, drückt sie. Es ist eine kräftige Umarmung. Das Tuch besänftigt Shirin-Gols Zittern und Beben.
Shirin-Gol beugt sich zu Insektenjunge hinunter, küsste ihn auf seine halbe Wange, streicht über seinen Kopf, gibt ihm Geld.
Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe, sagt Insektenjunge.
Shirin-Gol lachte und sagt, und du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen habe.
Insektenjunge senkt verschämt den Blick und sagt, ich möchte dir auch ein Geschenk machen. Ich werde dir eine kleine Geschichte schenken.
Insektenjunge sieht Shirin-Gol in ihr tuchloses Gesicht und erzählt. Ein Mädchen fällt in einen Brunnen. Ein Junge geht vorbei, sieht sie, springt hinterher und rettet das Mädchen. Das Mädchen bedankt sich und fragt, warum hast du das getan? Der Junge sagt, weil mein Leben nichts wert gewesen wäre, hätte ich zugesehen, wie du stirbst. Weil es keinen Unterschied gibt zwischen dir und mir. Weil wir alle Geschöpfe Gottes sind. Weil jedes Mal, wenn einer von uns stirbt, wir alle ein wenig sterben.
(aus „nach afghanistan kommt gott nur noch zum weinen“ von siba shakib)