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Ritter
Es war ein strahlender Tag im Spätfrühling, wie man ihn sich schöner nicht wünschen konnte; die Sonne schien golden vom klaren blauen Himmel und blinzelte durch das dichte Blattwerk der stattlichen Bäume vor dem Haus; Vögel priesen den Tag aus vollem Halse und die Luft war erfüllt von ihrem Gesang.
Fei blieb einen Moment im Schatten der Bäume stehen und blickte den staubigen Pflastersteinweg entlang. Das typische idyllische Bild Lahans bot sich ihm, mit seinen einfachen aber ordentlichen Häusern, die sich den Weg entlang reihten, jedes eingerahmt von einem kleinen, sauber gepflegten Garten. Die alten Dorfbewohner saßen in Liegestühlen vor den Häusern und genossen die Wärme der Sonne; aus der Ferne schallte das fröhliche Lachen spielender Kinder herüber.
Fei liebte die Ruhe des Dorfes; es stimmte schon, an manchen Tagen schien es fast schon zu ruhig und verschlafen, aber auf seltsame Art und Weise vermochte das gemächliche Leben in Lahan die Leere in seinem Herzen auszufüllen.
Langsam trottete er den Weg entlang, in Richtung von Alice' Haus; irgendwo würde er unterwegs schon auf Dan treffen; wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, so konnte man sicher sein, dass er es so lange verfolgen würde, bis er sein Ziel erreicht hatte. Alice' kleiner Bruder konnte mitunter recht anstrengend sein, doch irgendwie hatte Fei den lebhaften Kerl mit seinem unerschütterlichen Enthusiasmus über die Jahre ins Herz geschlossen.
Dan stand an die Mauer der Windmühle gelehnt und sah ihm ungeduldig entgegen. Die mächtigen Flügel der Mühle knarrten leise in der leichten Brise, als Fei sich näherte.
"Hier bist du ja endlich," ließ sich Dan vermelden. "Können wir reden?"
"Schieß los," entgegnete Fei. Er war wirklich interessiert, was so wichtig für Dan war.
"Also, wie du weißt ist morgen der Tag an dem meine Schwester heiratet," begann der Junge, "Deshalb wollte ich genau darüber mit dir reden." Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
"Fei, um vollkommen ehrlich zu sein... Ich habe mir immer einen großen Bruder wie dich gewünscht. Noch ist es nicht zu spät. Du könntest Alice einfach entführen und mit ihr abhauen. Ich weiß, dass du ein besserer Ehemann für sie wärst als Timothy." Er fuhr sich nervös durch sein wirres rotes Haar. "Wenn ich dir irgendwie dabei helfen kann, werde ich alles mir Mögliche tun. Komm schon, ich weiß, es klingt seltsam, aber wir können das durchziehen!"
Fei sah ihn entgeistert an. Das war tatsächlich die verrückteste Idee, die Dan jemals gehabt hatte. Aber wollte ihn nicht enttäuschen, er sah an seinen hoffnungsvollen leuchtenden Augen, das es ihm ernst war.
"In Ordnung, Dan," entgegnete er, "ich schätze, ich werde einfach loslaufen, sie mir schnappen und dann zusehen, dass wir von hier verschwinden."
Dan warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. "Wirklich? Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Fei. Ich weiß, dass es nicht so einfach ist, immerhin können wir nicht ihre Gefühle füreinander ändern, aber... Ich werde dir nie vergessen, dass du so weit gehen würdest, um mir zu helfen. Danke, Fei!"
Damit machte er schon wieder kehrt und war auf und davon. Fei tat es bereits wieder leid, dass er Dan falsche Hoffnungen gemacht hatte. Selbst wenn er es tatsächlich wollte, er konnte es einfach nicht tun; er wünschte den Alice und Timothy von ganzem Herzen, dass sie glücklich würden, und er wollte ihnen diese Freude nicht zerstören.
Alice' Haus lag nur wenige Meter von der Mühle entfernt, dort wo der Weg zu einer sanften Linksbiegung ansetzte. Es unterschied sich nicht besonders von den anderen Gebäuden in Lahan, doch für ihn war es immer das schönste von allen gewesen. Es lag nicht so sehr an den in den prächtigsten Farben blühenden Blumen im Garten oder irgendwelchen architektonischen Merkmalen, es war vielmehr die Atmosphäre, die er nicht ganz zuordnen konnte, die das Haus ausstrahlte.
Fei ging über den schmalen Weg durch den Garten auf die hölzerne Tür zu und klopfte vorsichtig an. Fast im selben Moment wurde die Tür geöffnet und eine Frau mittleren Alters öffnete und lächelte ihm freundlich entgegen.
"Hallo, Fei", begrüßte sie ihn. "Ich nehme an du bist hier um Alice zu sehen?"
"Ja, ist sie hier?"
"Eigentlich ist es ja Brauch, dass niemand sie vor dem großen Tag sehen darf, aber ich schätze, bei dir kann ich eine Ausnahme machen." Ein wehmütiger Blick trat in ihre Augen.
"Kaum zu glauben, dass es schon zehn Jahre sind, seit mein Bruder und seine Frau von uns gegangen sind. Ich habe seither alles daran gesetzt, Dan und Alice großzuziehen und zumindest im Fall von Alice kann ich glücklich behaupten, dass ich meine Pflicht erfüllt habe. Ich bin sicher, Timothy wird von nun an gut für sie sorgen.
Jetzt bleibt mir nur noch Dan... Es könnte sich als schwierig erweisen, den kleinen Bengel zu einem Erwachsenen zu erziehen." Sie lachte leise. Ihr kastanienbraunes Haar wies bereits einen leichten Anflug von grau auf und der Blick ihrer Augen verriet, dass sie viel Sorge über sich ergehen lassen musste, doch trotz allem schien sie mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Wahrscheinlich dachte sie, dass sie es besser hatte, als die Menschen die in einem der umkämpften Gebiete Avehs im Landesinneren lebten.
"Nun ja, für Alice ist es wahrscheinlich das Beste so. Ich will dich nicht länger aufhalten, Fei. Sie ist oben und trifft noch die letzten Vorbereitungen für morgen."
Alice saß in ihrem Zimmer und war über eine Flut von schneeweißer Seide gebeugt, umgeben von fließenden Schleifen und silbernen Bändern. Helles Sonnenlicht flutete zum Fenster und tauchte den Raum in goldenes Licht. Auf einem kleinen Tischchen in der Ecke war Nähzeug jeder erdenklichen Art aufgehäuft.
Sie blickte von Nadel und Faden auf, als sie Fei hereinkommen hörte.
"Hallo Alice. Ist das hier dein Hochzeitskleid?"
"Oh, Fei, du bist es. Ja, ich bin gerade fertig geworden," erklärte sie mit einem Blick auf die schimmernde Seide. "Es hat mehr Arbeit benötigt, als ich dachte."
"Du hast wirklich großartige Arbeit geleistet. Du wirst wundervoll darin aussehen."
"Danke..." Sie senkte den Blick, so dass ihr schulterlanges schwarzes Haar über ihr schmales Gesicht fiel.
"Fei...?"
"Ja, Alice? Was hast du?"
"Ach, es ist nichts..." Sie riss sich zusammen und blickte ihm fest in die Augen. "Ach ja, hast du Dan gesehen?"
"Ja, er rennt draußen herum, wie immer."
"Oh dieser Junge! Das sieht ihm wieder einmal ähnlich. Ich habe ihn doch gebeten, noch um eine letzte Besorgung zu laufen."
"Worum ging es denn?," erkundigte Fei sich.
"Es ist wegen der Hochzeit... Ich hatte gehofft, er könnte auf den Berg zu Doktor Uzuki gehen und einen Fotoapparat ausborgen."
"Wenn es nur das ist, ich würde gern für dich gehen."
"Wirklich?," Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, "Aber ich könnte nicht vielleicht...?"
"Mach dir keine Sorgen, es ist überhaupt kein Problem," warf er ein, "Ich bin mir ohnehin nicht sicher, ob es mir behagen würde, wenn Dan so ein empfindliches Gerät in die Hände bekommt."
"Danke, Fei," strahlte sie, "Ich wüsste wirklich nicht, wie ich ohne dich zurecht kommen sollte."
"Also, ich gehe dann mal hinauf auf den Berg und sehe zu, was ich bekommen kann," sagte er und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
"Fei, warte," rief sie ihm nach.
"Hm...? Gibt es noch etwas, was ich von Citan besorgen soll?"
Alice sah ihn an. Sie hatte ihn noch nie auf diese Weise betrachtet, wie er sie ein wenig unsicher anlächelte; der Ausdruck der Bewunderung in seinen braunen Augen; die widerspenstige Strähne, die ihm immer aus den armlangen zurückgebundenen Haaren sprang.
"Es ist nicht das," brachte sie schließlich hervor, "Hast du... hast du jemals darüber nachgedacht? Was gewesen wäre, wenn du nur hier geboren wärst... Wenn wir uns nur länger gekannt hätten..."
Fei sah sie schweigend an. Er wusste nicht, was er antworten sollte, wusste nicht, worauf sie hinaus wollte. Er konnte das Gefühl nicht beschreiben, das plötzlich Besitz von ihm ergriff.
"Mach dir keine Gedanken darüber," brach Alice schließlich die Stille, "Es tut mir leid."
"Nun, ich denke, ich mache mich dann besser mal auf den Weg."
"In Ordnung... Gib auf dich acht."
Er winkte zum Abschied und ging die Treppe hinunter.
Alice sah aus dem Fenster in den strahlenden Tag hinaus. "Ist das Schicksal...?," sagte sie leise zu sich selbst. "Ich fühle mich so seltsam... Wem versuche ich etwas vorzumachen?"
Der Berg, wie ihn die Einwohner Lahans liebevoll nannten, war eher ein Hügel, ein niedriger Ausläufer des nördlichen Gebirges, der sich an den Grenzen des Dorfes erhob, wie eine Insel im Meer des westlichen Waldes. Von der Spitze des Berges konnte man das umliegende Tal überblicken; Lahan, das sich an den Osthang des Hügels schmiegte, umgeben von sorgfältig bestellten Feldern und Obstgärten; die dunklen Wipfel der Bäume des Neumondwaldes im Westen; im Norden die in der Ferne bläulich im Dunst verschwimmende Kette des Gebirges. An klaren Tagen konnte man von oben bis zur Wüste Avehs im Landesinneren sehen.
Oben auf dem Berg wohnte Doktor Citan Uzuki allein mit seiner Frau Yui und seiner Tochter Midori. Niemand wusste so recht, warum er ausgerechnet einen so abgelegenen Wohnsitz gewählt hatte, weswegen er von den meisten Dorfbewohnern als Exzentriker angesehen wurde. Dennoch war er gerne im Dorf gesehen und die Leute begegneten ihm mit Respekt.
Die meisten Gerüchte und Neuigkeiten über die Welt außerhalb des Tales, die nicht von passierenden Händlern stammten, kamen von ihm, auch wenn sich niemand erklären konnte, woher er sein Wissen bezog.
Wenn sich tatsächlich einmal ein echter Notfall ereignete, was zwar selten vorkam, so konnte man außerdem sicher sein, dass er nahezu jede Verletzung oder Krankheit kurieren konnte. Er war es vor allem, dem Fei sein Leben verdankte, nachdem der Blaue Wanderer ihn damals vor drei Jahren in Lees Haus gebracht hatte.
Es war ein Weg von etwa einer halben Stunde hinauf auf die Spitze des Berges, ein Pfad, der sich zwischen blühenden Wiesen und vereinzelten Baumgruppen seinen Weg bahnte. Schmetterlinge tanzten vereinzelt zwischen den leuchtenden Blüten umher und die Luft war erfüllt vom Summen der Insekten und dem Gesang umherschwirrender Vögel.
Fei atmete tief durch, als er den Bergpfad beschritt. Er ging oft diesen Weg, wenn er Citan in seinem Haus besuchte. Für Fei war Citan so etwas wie ein Mentor, all sein Wissen hatte er durch ihn erhalten. Oft verbrachte er ganze Nachmittage und Abende auf dem Berg, während er den ausschweifenden Berichten des Doktors über die Ereignisse draußen in Aveh oder einfach das Wesen der Welt lauschte; er sog jede Neuigkeit mit Faszination in sich auf, als könnte es ihm helfen, die Leere in seinem Gedächtnis zu füllen.
Von Citan hatte er auch die grundlegenden Techniken des waffenlosen Kampfes erlernt, obgleich ihm der Doktor nicht viel hatte beibringen müssen; Fei besaß ein erstaunliches Talent und führte jede Bewegung mit überwältigender Behändigkeit und Präzision aus. Es war, als hätte er sein Leben lang die Kunst des Kampfes praktiziert, ein weiterer Grund, weshalb er besser nicht weiter über seine Vergangenheit nachdenken wollte; die Tatsache, dass er es wahrscheinlich mit einer ganzen Gruppe der Bewohner Lahans hätte aufnehmen können war ihm nicht gerade behaglich.
Während der letzten hundert Meter führte der Pfad über einen munter dahinschnellenden Bach, der im Lauf der Jahre seinen Weg durch das Gestein gegraben hatte. Das sanfte Rauschen des Wassers tönte schon von weitem herüber, wie es über die rundgeschliffenen weißen Kiesel sprang und dem Lauf des Flussbetts folgte. Zur Linken, weit oberhalb von Citans Haus, stürzte sich ein Wasserfall donnernd in die Tiefe, ein schäumendes weißes Band in der grauen Felswand des Nordgebirges.
Eine einfache hölzerne Brücke schwang sich über den Einschnitt in der Flanke des Berges; das Holz knarrte unter Feis Füßen, als er hinüberschritt und die letzte Strecke zum Haus des Doktors zurücklegte.
Das aus grauem Stein gemauerte Haus thronte einsam und für sich auf der abgeflachten Spitze des Berges; mit seinen beiden Türmchen und dem überdimensionalen Teleskop auf einem der Türme wirkte es beinahe unwirklich, wie ein Gebäude aus einem Traum. Efeu rankte sich wie grünes Geflecht die Wände hoch, der Garten war sauber gepflegt; Yui hatte die kleine Fläche durch harte Arbeit in ein kleines farbenfrohes Paradies verwandelt.
Fei passierte eine kleine Baumgruppe, aus der fröhliches Vogelgezwitscher erklang, als er sich dem Haus näherte und die drei Stufen, die zur hölzernen Tür führten, hochstieg.
Er klopfte an und einen Moment später öffnete Yui die Tür.
"Fei," begrüßte sie ihn, "Was führt dich hierher?"
Yui war eine hübsche achtundzwanzigjährige Frau mit glattem hellbraunem Haar und immer einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.
"Hallo, Yui," antwortete Fei, "Hast du Doc hier irgendwo gesehen?"
"Ich glaube, er schraubt wieder an seinem Schrott in der Werkstatt herum," seufzte sie, "Ich frage mich manchmal wirklich, wie er es schafft, andauernd dieses Zeug anzuschleppen," fügte sie mit einem resignierten Kopfschütteln hinzu.
Citan sammelte mit Leidenschaft Maschinenteile, die er irgendwo fand, und verbrachte eine Menge Zeit damit, sie zu analysieren und zu reparieren, eine Angewohnheit, die Yui mitunter in die Verzweiflung trieb.
"Lass ihm doch die Freude, Yui," entgegnete Fei aufmunternd.
"Warte nur, bis du gesehen hast, was er diesmal aufgestöbert hat, dann verstehst du, was ich meine."
"Na ja, ich denke ich werde mal sehen, was Doc diesmal wieder angestellt hat," erwiderte Fei lächelnd. "Danke, Yui."
Damit hob er die Hand zum Gruß und schlenderte um die Ecke des Hauses. Als er den Hinterhof erblickte, traute er seinen Augen nicht, angesichts des Bildes, dass sich ihm bot.
Über dem kleinen Schuppen, den Citan als seine Werkstatt bezeichnete, thronte ein gewaltiger stählerner Koloss, der auf dem Gebäude wie eine Spinne in ihrem Netz wirkte, auch wenn das Ganze eher einer Krabbe als einer Spinne ähnelte. Sechs mit messerscharfen Klauen versehene Beine ragten aus dem runden abgeflachte Rumpf der Kreatur und hatten ihre Gelenke über die Werkstatt gefaltet, sodass sich die Klauen in das Gras unter ihren Beinen bohrten.
Fei blickte zu der Maschine auf und blickte sich suchend um.
"Doc, wo steckst du?," rief er hinauf.
Anstatt einer Antwort ertönte ein Scheppern und das Krachen einer plötzlichen Explosion von der stählernen Krabbe und ein Zittern lief durch die grotesken Beine der Kreatur. Helle Funken regneten von dem Körper der Maschine herab.
Ein Fluchen ertönte von oben.
"Oh, es ist zwecklos," rief eine vertraute Stimme aufgebracht, "Warum um alles in der Welt verwenden sie so minderwertige Komponenten? Kein Wunder, dass ihre Interventions-strategie..."
"Doc! Hier bist du also!," rief Fei zu der Maschine hinauf.
Citans Kopf erschien über dem Rumpf der Krabbe. Ein erfreuter Ausdruck trat in sein Gesicht.
"Fei! Schön dich zu sehen. Was gibt's?"
"Doc, alles in Ordnung?," fragte Fei besorgt, "Was tust du da oben?"
Der Doktor blickte auf den Koloss herab und von dort zu Fei.
"Ich dachte, ich versuche, diese Landkrabbe zu reparieren," erklärte er mit einer Geste auf die bizarr verwinkelten Beine der Kreatur. "Man kann nie wissen, ob es sich nicht als nützlich erweisen könnte."
Das klang wieder typisch nach Citan; er konnte für alles einen Verwendungszweck finden, auch wenn Fei sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was Doc mit dieser Landkrabbe vorhaben könnte. Der Gedanke war einfach zu absurd, ihn in diesem Ding ins Dorf reiten zu sehen. Er konnte sich bei der Vorstellung ein Lächeln nicht verkneifen.
Citan ließ sich nicht beirren und fuhr fort mit seiner Ausführung.
"Ach ja, und die Explosion gerade war nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Das geht die ganze Zeit so!," lachte er laut.
"Wo hast du dieses... Ding gefunden?," fragte Fei, "Du hast wirklich ein Talent, über die seltsamsten Geräte zu stolpern."
"Hm, um genau zu sein, eben das ist passiert. Ich bin gestern im Wald darauf gestoßen, wo es offensichtlich zurück gelassen wurde, nachdem es einen Modulschaden in der primären Energieversorgung erlitten hat. Ich habe sie gerade so weit in Stand setzen können, um sie hier hinauf zu schaffen." Er wandte sich von der Krabbe ab.
"Könntest du noch einen Moment warten?," sagte er, "Ich bin fast dabei, für heute Schluss zu machen." Er machte eine kurze Pause. "Ah, da fällt mir ein, in der Werkstatt ist etwas Interessantes. Warum siehst du es dir nicht inzwischen an? Die Tür ist offen."
"Okay, Doc, ich seh' dich dann," rief Fei zu Citan hinauf, der bereits wieder im Cockpit der Landkrabbe verschwunden war.
Er wandte sich zur Werkstatt um und überlegte, während er die Tür öffnete, die mit einem lautstarken Quietschen protestierte, was Doc denn sonst noch gefunden haben könnte.
Es war dunkel in der Werkstatt, bis auf einige Sonnenstrahlen, die durch die getrübten Fensterscheiben einfielen, doch Fei bemerkte sofort die goldverzierte Kiste, die im Zentrum des Raumes auf einer Art Podest stand. Er öffnete ein Fenster, um mehr Licht herein zu lassen. Das Metall blitzte im Licht der Sonne und in einer Ecke der Kiste wurde eine kleine gravierte Inschrift sichtbar.
Zum Segen der Geburt meiner Tochter... Mögen all die Liebe, Mut und Träume dieser Welt dein sein.
Er wusste nicht, was diese Botschaft bedeuten sollte; war es etwa das, was Citan ihm hatte zeigen wollen? Doch dann entdeckte er direkt neben der Inschrift einen kleinen goldenen Hebel. Ohne nachzudenken, betätigte er den Schalter.
Ein Knirschen und Rasseln ertönte aus dem Inneren des Kastens und mit einem Ruck schwangen alle vier Seitenwände auf und offenbarten eine schneeweiße Engelsstatue, die sich langsam drehte und dabei begann, dem Objekt leise sanfte Musik zu entlocken.
Fei war wie hypnotisiert von den bezaubernden Klängen einer Melodie, die uralt zu sein schien und doch gerade erst aus seinem Herzen entsprungen; traurig und hoffnungsvoll zugleich. Tief in den hintersten Regionen seines Bewusstseins schien sich etwas lange verloren Geglaubtes zu regen und leise gegen die dunkle Mauer des Vergessens zu pochen, gerade genug, um sich bemerkbar zu machen, ohne jedoch die ersehnte Erinnerung hervorzurufen.
Er war derart gefesselt, dass er nicht bemerkte, wie Citan den Raum betrat.
"Erstaunlich, nicht wahr?," ließ er vermelden. "Tut mir leid, dass ich dich warten gelassen habe."
Fei blickte zurück und sah Citan in der Tür stehen. Er war neunundzwanzig, das schwarze Haar, das lose zusammengebunden über seine rechte Schulter fiel, bereits grau durchzogen. Seine Haut war heller als der bronzene Ton der meisten Einwohner Avehs, als hätte er seine Wurzeln nicht in Feis Heimat. Sein Gesicht war gezeichnet von den Spuren vergangenen Kummers und Leides, die Erinnerung jemandes, der Schreckliches miterlebt hatte, auch wenn dieser Eindruck unter seinem Lächeln und den lebhaft durch die Brille blitzenden Augen schwand.
Gegen das helle Tageslicht von draußen zeichnete sich seine Silhouette scharf ab und erinnerte an die Statur und Pose eines ehemaligen Fechters. Über der hellen Hose trug er, wie eigentlich immer, einen tiefgrünen Mantel, der ein wenig an eine Uniform erinnerte, auch wenn weder Ähnlichkeit zu den Uniformen der Armee Avehs bestand noch zu der Kislevs. Dieser Eindruck wurde noch von der roten Schärpe verstärkt, die den Mantel eng zusammenhielt.
"Ich... habe diese Melodie schon irgendwo einmal gehört...," sagte Fei mit leiser Stimme.
"Musik ist eine rätselhafte Sache," antwortete Citan, "Manchmal ruft sie unerwartete Gefühle hervor... Gedanken, Emotionen, Erinnerungen, die man beinahe vergessen hat... Ganz gleich, ob man sich an diese Dinge zu erinnern wünscht oder nicht..."
Fei starrte weiterhin auf den Engel, ihm war, als hätte er noch nie etwas derart Schönes gesehen. Die Töne, die sanft durch den Raum schwebten schienen ihn eigenartig zu berühren.
"Was ist das, Doc?," fragte er verwundert.
"Es wurde in einer alten Ausgrabungsstätte gefunden. Ich bin immer noch dabei, es zu reparieren. So wie es aussieht, handelt sich um eine Art Audiogerät.
Vor langer Zeit haben Menschen dieser Melodie gelauscht, so wie wir es jetzt gerade tun... Manchmal hat sie sie vielleicht mit Glück erfüllt... oder ein anderes Mal zum Weinen gebracht..."
Fei schwieg. Er wusste nicht, wie er das Gefühl beschreiben sollte, das ihn durchlief; er vermochte einfach nicht, den Blick von diesem strahlenden Engel zu wenden, wie er sich langsam im einfallenden Licht drehte, als wäre er von einem himmlischen Lichtstrahl beschienen.
"Übrigens, was hat dich heute hier her geführt?"
Fei war dankbar, als Citan das Thema wechselte. "Ach ja, ich hätte fast darauf vergessen," wurde ihm schmerzlich bewusst. Es wäre ihm äußerst unangenehm gewesen, Alice zu enttäuschen, indem er vergessen hätte, weswegen er eigentlich gekommen war. "Alice hat mich gebeten, deine Kameraausrüstung auszuborgen," antwortete er.
"Ah, ihre Hochzeit ist ja bereits morgen, nicht wahr?," bemerkte der Doktor, "Nun, dann sollten wir uns besser beeilen." Er überlegte kurz, während er sich die Brille zurecht rückte. "Hm, ich glaube, das Abendessen müsste bald bereit sein. Würde es dir etwas ausmachen, zu bleiben?"
"Ich hatte gehofft, dass du fragen würdest. Du glaubst doch nicht, dass ich mir die Gelegenheit entgehen lassen würde?" Yui war die beste Köchin, die Fei sich vorstellen konnte und so hatte er absolut nichts gegen Citans Vorschlag einzuwenden.
"Ich muss draußen noch ein wenig aufräumen," sagte Citan mit einem schuldbewussten Lächeln, "Die Reparaturen liefen nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Warum gehst du nicht schon einmal voraus und leistest Yui und Midori etwas Gesellschaft?"
"Okay, Doc, lass dir nur Zeit. Ich geh' dann schon mal und fange an, sobald das Essen bereit ist."
"Geh nur," lachte Citan, "aber mach mich nicht verantwortlich, wenn du Magenschmerzen von Yuis Kochkünsten bekommst."
"Hey, ich doch nicht," meinte Fei und wandte sich zum gehen. Vor der Tür drehte er sich noch einmal um. Die Töne, die der weiße Engel aussandte, hingen noch immer wie unsichtbar im Raum. Es widerstrebte ihm, sich von der Melodie zu entfernen.
"Doc... Es ist seltsam dieser Musik zuzuhören. Es erfüllt mich mit solcher Wärme..."
"Das mag vielleicht daran liegen, dass jemand in deinem Inneren lebt... und vielleicht hat er diese Musik auch geliebt, bevor er ein Teil von dir wurde..."
Fei wusste keine Antwort darauf. Er begriff nicht, was Doc ihm damit sagen wollte, aber er fühlte, dass er nicht mehr Auskunft erhalten würde. Schweigend verließ er die Werkstatt und ging zurück zum Haupthaus.
Citan blickte ihm nachdenklich nach.
"Ist Timothys und Alice' Hochzeit wirklich schon morgen...?," überlegte er, "Vielleicht ist es tatsächlich besser für ihn, ein normales Leben zu führen, in seinem Zustand. Als ein Sohn von Menschen..."
Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als plötzlich die Musik, die die ganze Zeit über leise im Hintergrund erklungen war, schlagartig verstummte und von unheimlicher Stille abgelöst wurde. Citan wandte sich zu dem erstarrten Engel um und wurde Zeuge, wie haarfeine Risse durch die Statue liefen und den weißen Marmor erzittern ließen, ehe sie mit einem Klirren, als wäre die Zeit selbst zerbrochen, in tausend Stücke zersplitterte. Er blickte erstarrt auf die Scherben, die durch die gesamte Werkstatt geschleudert worden waren.
"Unmöglich...," flüsterte er, "Ist... ist das... ein Omen...? Was wird jetzt geschehen...?"
"Nun, was gibt es neues in Lahan?," erkundigte sich Yui, "Ich nehme an, die Vorbereitungen für morgen sind in vollem Gang?"
"Es gibt kaum mehr ein anderes Gesprächsthema," antwortete Fei, während er nach einem weiteren Stück Wildbraten langte. Yui hatte sich tatsächlich wieder einmal selbst übertroffen.
"Allerdings mache ich mir ein wenig Sorgen wegen Dan. Er scheint nicht allzu glücklich zu sein, dass seine Schwester ausgerechnet Timothy heiratet."
"Er wird sich schon daran gewöhnen. Du weißt, er braucht immer etwas mehr Zeit, um Veränderungen zu verkraften," entgegnete Yui.
Fei nickte zustimmend; er wusste nicht, was nach dem Tod ihrer Eltern aus Dan geworden wäre, wenn nicht Alice den Unfall überlebt hätte. Er mochte nicht den Eindruck machen, doch im Grunde genommen war Dan ein äußerst sensibler Junge, besonders wenn es um seine ältere Schwester ging.
"Und, werdet ihr morgen auch kommen?," fragte er.
"Was für eine Frage! Natürlich werden wir dabei sein," antwortete Citan, "Wir sind ja praktisch selbst Einwohner von Lahan; außerdem, wir können doch nicht die Hochzeit unserer Freunde verpassen, nicht wahr, Yui?"
Sie stimmte ihm zu. Midori lächelte nur schüchtern. Sie war etwa zehn Jahre alt und Yui wie aus dem Gesicht geschnitten, doch sie hatte nichts von der Redseligkeit ihrer Mutter. Fei konnte sich nicht entsinnen, jemals bewusst ein Wort von ihr gehört zu haben.
"Danke für eure Gastfreundschaft," sagte Fei, als er sich schließlich verabschiedete. "Yui, du schaffst es immer wieder, mich zu beeindrucken."
"Keine Ursache. Du weißt, dass du jederzeit hier willkommen bist."
"Ich werde die Geräte, die ihr braucht, morgen selbst vorbeibringen," meinte Citan. "Ich fürchte, mir ist nicht allzu wohl dabei, dir so empfindliche Geräte anzuvertrauen."
Fei zog überrascht eine Augenbraue hoch. "Wo habe ich diesen Satz bloß schon gehört?," sinnierte er. "Nun, mir soll es recht sein, Doc.
Ich seh' euch dann also morgen. Gute Nacht, Yui, Midori!"
"Gute Nacht, Fei," verabschiedete sich Yui, "Wir freuen uns auf die Hochzeit morgen." Midori blieb stumm und winkte nur kurz.
Fei und Citan traten ins Freie. Die Dämmerung war bereits aufgezogen und eine kühle Brise wehte von den Bergen her. Es war still, bis auf das einsame Zirpen einer Grille und am Firmament funkelten Milliarden von Sternen hell und klar. Der zunehmende Mond stand dicht über der schattenhaften Gebirgskette und tauchte die Umgebung in ein sanftes milchigweißes Licht.
Sie blickten eine Weile über das Land, bis der letzte blasse Schimmer des Tageslichts im Westen verschwunden war. Die hellen Lichter der Häuser, die sich im Schatten des Tals dicht aneinander drängten, erglühten nach und nach, wie ein Schwarm winziger Glühwürmchen.
"Also, gute Nacht, Doc," verabschiedete sich Fei schließlich.
"Gute Nacht," erwiderte Citan, "und... sei vorsichtig. Ich meine, der Pfad ist tückisch, wenn es so dunkel ist," fügte er hinzu.
"Was ist los, Doc?," fragte Fei verwirrt, "Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
Also, wir sehen uns!"
Damit kehrte er dem Haus den Rücken zu und machte sich auf den Rückweg.
Als er die Brücke erreicht hatte, hielt er inne. Eine bedrückende Stille war völlig unvermittelt eingetreten, das sanfte Wispern des Windes in den Bäumen mit einem Mal verstummt; Nachtigall und Grillen hatten abrupt ihr Konzert beendet, selbst das Rauschen des Flusses wirkte gedämpft, wie in weite Ferne entrückt. Es war, als hielte die Natur selbst ihren Atem an. Ein anschwellendes Rauschen erklang aus der Ferne, das schließlich in grollenden ohrenbetäubenden Maschinenlärm überging. Er fuhr herum und sah eine Gruppe menschenähnlicher Giganten, nachtschwarz vor dem sternübersäten Firmament, über den Himmel über dem Berg rasen, einen weißglühenden transparenten Feuerschweif hinter sich herziehend. Sie schossen direkt über Feis Kopf hinweg, sodass sich die Bäume im Sturmwind bogen und verschwanden in Richtung der Siedlung.
Er wandte sich um, als er Schritte den Berg hinab stürmen hörte und erblickte Citans Silhouette, der auf ihn zulief.
"Doc! Eine Gruppe fliegender Objekte ist in Richtung Lahan unterwegs!," rief er ihm entgegen.
"Du hast sie also auch gesehen," antwortete Citan, "Nach ihren Umrissen zu urteilen, handelt es sich um Gears von unserem Nachbarland Kislev."
"Das waren... Gears?" Fei hatte mehrmals von den riesenhaften Kampfrobotern gehört, ohne jedoch jemals eines mit eigenen Augen gesehen zu haben.
"Was suchen sie hier?," fragte er.
"Oh mein Gott!," rief Citan entsetzt anstatt einer Antwort aus. Fei folgte seinem Blick.
Über dem Dorf regnete Feuer vom Himmel. Flammen stiegen gen Himmel empor und ließen die schemenhaften kämpfende Schatten dazwischen scharf hervortreten.
"Nein...," flüsterte er ungläubig, ehe er mit einem Schrei den Pfad hinabrannte, ungeachtet der Rufe Citans; auf die Siedlung zu. Verzweiflung stieg in ihm auf, eine Hilflosigkeit, die ihm die Tränen in die Augen trieb. Er wusste nicht, was er glaubte, gegen die wütenden Giganten unternehmen zu können, doch er konnte die Bewohner des Dorfes nicht einfach im Stich lassen, er durfte nicht zu spät kommen.
Fei rannte, dass ihm die Muskeln schmerzten, er lief mit einer Geschwindigkeit, die ihm nur die schiere Verzweiflung ermöglichte, sodass er die halbstündige Strecke in knapp zehn Minuten bewältigt hatte. Der Anblick, der sich ihm bot, als er die kleine Ansammlung von Häusern erreichte, ließ ihm das Herz zusammenkrampfen. Die drei Jahre, alles, was ihm wichtig gewesen war, waren mit einem Schlag zunichte, als er endgültig von seiner unbekannten Vergangenheit eingeholt wurde.
Lahan, die einzige Heimat, die Fei je gehabt hatte, stand lichterloh in Flammen.
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