Citan sah ihm nachdenklich nach, ehe er sich zu Fei wandte, den Blick immer noch auf die kleine Gestalt gerichtet, die dort mit bebenden Schultern am Kraterrand hockte und in die leere verbrannte Asche starrte.
"Vielleicht ist es besser, ihn eine Weile sich selbst zu überlassen... Er weiß nicht, wohin mit seinem Kummer, seiner Wut...," sagte er schließlich, wie zu sich selbst.
Fei nickte langsam. Es schien ihm unvorstellbar, dass es erst wenige Stunden waren, seit der quirlige kleine Junge an der Mühle auf ihn gewartet hatte, versucht hatte, ihn zu überreden, gemeinsam mit Alice das Dorf zu verlassen. Er erinnerte sich, wie glücklich Dan gewirkt hatte, als er versprochen hatte, ihm zu helfen. Das Dorf, das Vertrauen des Jungen, Alice, Timothy – das alles war nun unwiederbringlich verloren, in der unbarmherzigen Glut vernichtet.
"Und Fei...," fuhr der Doktor fort, "Es wäre eine gute Idee, wenn du diesen Ort verlässt. Es besteht keine Garantie, dass nicht Verstärkungen der Truppen von gestern eintreffen werden.... Und sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit wissen wollen, was mit ihren Kameraden geschehen ist.
Außerdem," fügte er hinzu, "glaube ich nicht, dass die Atmosphäre sehr angenehm sein wird, falls du hier bleibst... wenn du verstehst, was ich meine. Es ist vermutlich das Beste, sowohl für dich als auch für die anderen."
Fei verstand nur zu gut, worauf Citan hinaus wollte. "Ich schätze du hast recht... Diese ganze Katastrophe ist meinetwegen passiert..." Er wusste, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach, doch ohne sein Eingreifen wäre der Ausgang bei weitem nicht derart schrecklich gewesen. "Aber... Was soll ich jetzt tun? Wo soll ich hin?"
"Nun...," überlegte Citan, "Die angreifenden Gears waren mit Sicherheit aus Kislev. Es ist also wohl das Klügste, wenn du fürs erste durch den Wald nach Westen gehst. Wenn es dir gelingt, weiter ins Landesinnere Avehs vorzudringen, wird es ungleich schwieriger für sie sein, dich aufzuspüren."
Fei warf einen Blick den Berg hinab auf die nahen Ausläufer des Neumondwaldes, der sich über die gesamte westliche Ebene erstreckte und am Horizont im Dunst verschwand. Er war früher oft am Waldrand unterwegs gewesen, doch jetzt hatte der Anblick etwas erschreckend Unheilvolles an sich. "...Ich verstehe, Doc," antwortete er langsam. "Es ist wohl das Beste so. Wie auch immer, gib acht auf die anderen," fügte er hinzu, "und hab ein Auge auf Dan. Ich möchte nicht, dass ihm etwas zustößt."
"Selbstverständlich. Obwohl, ich glaube Dan kann sehr gut auf sich allein aufpassen." Er machte eine kurze Pause und sah Fei in die Augen. "Nun dann,... sei vorsichtig," sagte er schließlich. Ein ehrliches Lächeln stahl sich in sein Gesicht und Fei erkannte, dass der Doktor es nicht böse meinte, dass er ihn hier nicht vertreiben wollte und er glaubte fast etwas wie Bedauern in seinen Augen zu erkennen.
Er nickte kurz. Es gab keine Abschiedsworte, die er hätte hinterlassen können. Es war nicht etwa so, als ob er hier als Held auszöge.
Mit einem letzten Blick auf die Dorfbewohner wandte Fei sich ab und begann den sanften Hang des Berges hinabzusteigen. Obwohl sie ihn und Citan die ganze Zeit über beobachtet hatten, hatten sie vermutlich nichts von ihrer leisen Unterhaltung mitbekommen, und er war ganz froh darüber. Es war besser, wenn sie nicht wussten, wohin er ging, wenn er einfach still aus ihren Leben verschwand.
Kurz bevor er seinem Blickfeld entschwand betrachtete er noch einmal den stählernen Giganten, der sich jetzt majestätisch und im strahlenden Sonnenschein matt schillernd über der Bergkuppe erhob und seinen Schatten auf die Überlebenden des Desasters warf.
Du hast sie alle umgebracht mit diesem Monster!, hallten ihm Dans Worte durch den Kopf. Du Mörder! Meine Schwester... Gib mir meine Schwester zurück!
Er ballte die Fäuste, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dann wandte er der grausamen Höllenmaschine entschlossen den Rücken zu und verabschiedete sich endgültig stumm von seiner einstigen Heimat. Als er außer Sichtweite war stieß er einen lautlosen Schrei aus und begann zu rennen, so schnell ihn seine Beine trugen, rannte fort von seiner Vergangenheit, fort von jenem verfluchten Ort, der ihn stets an seine unverzeihliche Tat erinnern würde.
Er fegte die letzten Meter des Berges hinunter und über die ausgedehnten Wiesen im Westen Lahans – oder dessen, was einst Lahan gewesen war. Schmerzhafte Erinnerungen stiegen in ihm hoch, als er diesen vertrauten Teil seines bisherigen Lebens hinter sich ließ und die dunkle Mauer des Waldes näher rückte. Heiße Tränen liefen über sein Gesicht, doch er achtete nicht darauf, er nahm kaum wahr, wie sich vor ihm die Front der mächtigen Bäume teilte und ihn in sich aufnahm wie der Schlund einer gefräßigen Bestie, aus dem es kein Entrinnen gab. Tiefhängende Zweige schlugen ihm entgegen und suchten ihm den Weg zu versperren, krallten sich mit geradezu beseelter Beharrlichkeit in seine Kleidung, doch er fühlte nichts von alledem. Alles, was er spürte, war der weiche federnde Boden unter seinen Füßen; er versuchte, nichts anderes in sein Bewusstsein zu lassen, als den Rhythmus seiner Schritte, aus Angst, sonst vollends seiner Verzweiflung zu erliegen, seiner Hilflosigkeit gegenüber dem unbarmherzigen Schicksal, das seinen Schatten über ihn und diejenigen, die für ihn sein ganzes bekanntes Leben bedeutet hatten, gelegt hatte.
Er konnte nicht sagen, wie lange er so durch das Dämmerlicht lief, ob es Stunden oder gar Tage waren, doch schließlich verlangsamte er sein Tempo, ehe er stehen blieb und sich keuchend vor körperlicher und geistiger Erschöpfung gegen den mächtigen dunklen Stamm einer stolzen Eiche sinken ließ. Seine Gedanken schwammen ziellos in dumpfer Leere umher, als er hinauf in das dichte Blätterdach hoch über seinem Kopf starrte und nur gedämpft drangen die Laute des Waldes an sein Ohr.
Der Neumondwald hatte seinen Namen nicht ohne Grund erhalten. Fei konnte noch nicht sonderlich weit in das schattige Reich der Bäume vorgedrungen sein, doch bereits jetzt drang kein Lichtstrahl durch das dichte Blattwerk des alten Forstes bis zum Boden. Dort, wo der schmale Pfad, dem er bisher gefolgt war, sich in der Düsternis verlor, schienen die massiven hoch aufragenden Stämme noch dichter zusammenzurücken und der Hohlweg dahinter war dunkel wie eine mond- und sternlose Nacht.
Langsam verklang das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und Fei wurde aufmerksam auf die mannigfaltige Geräuschkulisse des lichtlosen Waldes. Obwohl der Forst auf den ersten Blick finster und abweisend, geradezu leblos wirkte, herrschte dennoch nicht völlige Stille. Hoch droben rauschte der Wind im Geäst, von Zeit zu Zeit konnte man, wenn man angestrengt beobachtete, kleine Schatten durch das Unterholz huschen und dabei das trockene Laub des Vorjahres aufwirbeln sehen, hie und da ließ sich selbst entfernter Vogelgesang vernehmen.
Es war jene verborgene Schönheit des Neumondwaldes, die Fei seit seiner ersten Monate in Lahan immer wieder bewogen hatte, gelegentliche Streifzüge ins Reich der Tiere und Pflanzen zu unternehmen, doch nie zuvor war er derart blindlings in dieses lebendige Labyrinth gelaufen.
Jetzt erst wurde ihm der Ernst seiner Lage bewusst. Dies war keine seiner früheren Wanderungen, er konnte nicht hinterher wieder in die Geborgenheit des Dorfes zurückkehren, er konnte noch nicht einmal darauf hoffen, dass Lee, Citan oder einer der anderen aus dem Dorf nach ihm suchen würden, sollte er nicht zurückkehren. Es gab keine Rückkehr mehr, dies war endgültig; er hatte sein eigenes Heimatdorf vernichtet und jetzt hatte er auch noch seine Heimat verloren, einen Ort, an den er gehörte.
Und als wäre dies noch nicht genug, hatte er sich auch noch im Neumondwald verirrt. Alles, was er wusste, war, dass er sich nach Westen halten musste, wollte er das Landesinnere Avehs erreichen, doch er hatte kaum darauf geachtet, wohin er gelaufen war, als er, von Schmerz und Verzweiflung betäubt, in den Wald gelaufen war und hier, wo er den Stand der Sonne nicht einmal erahnen konnte, war es schier unmöglich, die Richtung zu bestimmen.
Er konnte nicht weit vom Weg abgekommen sein, doch er wusste nicht, welche Hindernisse der Wald ihm in den Weg stellen mochte. Hätte er gekonnt, so hätte er ihn umrundet, auch wenn es einen Umweg von mindestens einer Woche bedeutet hätte, der Pass südlich des Forstes war ein häufig benutzter Handelsweg, doch selbst wenn er wieder zurückgefunden hätte, er durfte es nicht wagen, offen auf den bekannten Wegen zu gehen. Doc hatte recht, die Angreifer aus Kislev würden den Vorfall nicht auf sich beruhen lassen, immerhin hatte er eine ganze Einheit von ihnen ausgelöscht und alleine die Tatsache, dass er aus Aveh stammte, konnte ihn in Schwierigkeiten bringen. Auch wenn er in Lahan nicht allzu viel davon mitbekommen hatte, er wusste nur zu gut, dass draußen Krieg herrschte.
Mit einem resignierenden Seufzer erhob er sich und setzte sich wieder in Bewegung, tiefer ins Herz des Waldes hinein.

* * *

Es hatte so kommen müssen, dachte sie bei sich, während sie praktisch ziellos über den unebenen Boden stolperte. Sie hatte es bereits vor knapp einer Stunde aufgegeben, einen Weg aus dem fremden Wald zu suchen und beschlossen, einfach weiter dem schmalen Pfad zu folgen, der sich kaum erkennbar vor ihr zwischen den Bäumen dahinwand. Sie konnte genauso gut diesen Weg nehmen und darauf hoffen, dass er irgendwohin führte.
So schwer es ihr fiel, sie musste sich eingestehen, dass sie in dem riesenhaften Forst die Orientierung verloren hatte; sie befand sich hier auf gänzlich unbekanntem Terrain. Anfangs war es ihr als die einzige Möglichkeit erschienen, sich zu Fuß durch den Wald nach Aveh durchzuschlagen und wohl oder übel vom Scheitern der Operation zu berichten, doch mittlerweile erschien ihr ihre Situation nicht weniger aussichtslos, als hätte sie versucht, sich bis zum bitteren Ende ihren Verfolgern zu stellen. Wenn sie nicht bald auf einen Hinweis stieß, der ihr Klarheit über den Weg verschaffte, so hatte sie wenig Hoffnung, jemals wieder heimatlichen Boden zu betreten und die allgegenwärtige Düsternis unter dem dicht verwobenen Blätterdach erleichterte ihren Marsch nicht gerade. Sie war in einer ihr vollkommen unvertrauten Welt gestrandet.
Es hätte erst gar nicht so weit kommen dürfen, sinnierte sie, sie hatte sich geschworen, nicht aufzugeben, das Gear nicht wieder in die Hände Kislevs fallen zu lassen, doch genaugenommen hatte sie eben das getan. Es spielte keine Rolle, dass sie kaum eine andere Wahl gehabt hatte, sie hatte die Operation kurz vor dem Ziel abgebrochen. Doch andererseits, was hätte sie schon ausrichten können? Die Handhabung des entwendeten Gears war komplexer gewesen, als alles, was sie je gesehen hatte; sie hatte die Steuerung gerade ausreichend in den Griff bekommen, um die grundlegendsten Manöver durchführen zu können, einen Kampf hätte sie auf diese Weise nicht einmal ansatzweise durchgestanden. Und selbst wenn sie die Kontrollen perfekt beherrscht hätte, der Großteil ihrer Mitstreiter war bereits außer Gefecht gesetzt gewesen und alleine gegen eine ganze Einheit, alles Elitesoldaten wie sie selbst...
Nein, sie wusste, wann ein Kampf aussichtslos war, wann es besser war, die Niederlage einzugestehen. Ramsus würde nicht erfreut sein, wenn sie mit leeren Händen zurückkehrte, doch es wäre Selbstmord gewesen, sich in einen Kampf gegen eine derartige Übermacht einzulassen, und der Commander wusste das. Es wäre sinnlos gewesen, sich einem solchen Gefecht zu stellen, er hätte auf diese Weise nicht nur das Gear verloren sondern auch einen seiner fähigsten Offiziere.
Das nahe Knacken eines Zweiges riss sie aus ihren Gedanken. In einer Mischung aus Furcht und leiser Hoffnung fuhr sie herum. Durch die dunklen Silhouetten der Bäume hindurch konnte sie eine vergleichsweise helle Gestalt erkennen, die sich ihren Weg durch das Gehölz bahnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen der ihren handelte, oder auch nur jemanden, der ihr freundlich gesinnt war, war verschwindend gering, doch sie war jetzt auf jede Hilfe angewiesen. Wenn es ihr helfen konnte, den Wald zu verlassen, musste sie es zumindest versuchen.
Mit pochendem Herzen verließ sie den Pfad und schlich lautlos im Schutz der massiven Eichen und Buchen auf den nicht weit entfernten menschlichen Schemen zu, die Hand an den Griff des Revolvers gelegt, der an ihrem Gürtel hing. Sie wusste, wenn dies ein Fehler war, so war sie in dem undurchdringlichen Wald verloren, jetzt wo sie die zumindest illusorische Sicherheit des Pfades verlassen hatte.
Nach wenigen, qualvollen Minuten, die sie durch das eintönige Dämmerlicht tappte, fasste sie sich schließlich ein Herz, hielt den Revolver schussbereit vor sich und trat entschlossen und unvermittelt zwischen den Bäumen hervor auf den etwas breiteren Pfad hinaus, über den die Gestalt müden Schrittes zog.
Sie versuchte ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen, während sie auf den Kopf des Fremden zielte und ihn befehlerisch anrief. Ihr Herz setzte für einen Moment aus, als er sich zögernd umwandte und ihr direkt in die Augen blickte und war sie bereits regungslos dagestanden, so erstarrte sie jetzt vollends. Es bedurfte nicht seines verwirrten Blickes, um zu erkennen, dass er nicht ihre Sprache sprach.
Es war seine gesamte Erscheinung, in der er sich von einem der ihren abhob, seine Haltung, aufrecht und selbstbewusst, doch nicht von der stolzen Erhabenheit ihrer Leute. Seine Kleidung war einfacher als die Uniformen und Anzüge der Menschen in Solaris, seine Haut von einem bronzeneren Ton und die schmalen, in tiefschwarzes zurückgebundenes Haar eingerahmten Gesichtszüge deutlich unterschiedlich vom hellen kantigen Profil eines Vollbluts. Es bestand kein Zweifel, es war ein Surface Dweller.
Doch etwas irritierte sie an der Art, wie der junge Mann sie forschend mit wachem Blick betrachtete. Es war das erste Mal, dass sie einem Surface Dweller Auge in Auge gegenüberstand, doch sie hatte während ihrer Zeit bei "Jugend" genug über die Lambs gehört, um zu wissen, dass sie unerheblich höher entwickelt waren, als gewöhnliche Tiere, es war kaum vorstellbar, dass sie ebenfalls Menschen waren, so sehr sie ihnen äußerlich auch ähnelten. Doch beim Anblick dieses Exemplars war sie sich nicht mehr völlig sicher. Seine Augen sprühten geradezu vor Intelligenz und in seinen Augen flackerte ein Feuer, dass sie nicht einmal bei Ihresgleichen gesehen hatte.
Nach einem kurzen Augenblick fasste sie sich wieder und wechselte in die Sprache von Aveh. "Stehen bleiben!," herrschte sie ihn an, ohne den Lauf des Revolvers auch nur einen Millimeter von seinem Kopf abweichen zu lassen. "Lass die Waffen fallen! Eine falsche Bewegung und ich werde deiner jämmerlichen Existenz ein Ende setzen."



Sie war sich der Absurdität ihrer Aufforderung durchaus bewusst, doch obwohl sie keinerlei Waffen an ihm erkennen konnte, wusste sie doch, dass die Lambs trotz ihrer Primitivität außerordentlich einfallsreich sein konnten, was die Anwendung von Gewalt anging.
"Dreh dich um," fuhr sie fort. Sie war davon überzeugt, dass er sie verstanden hatte, doch er zeigte keinerlei Anstalten, ihrem Befehl zu folgen, verharrte in der selben, ihr zur Hälfte zugewandten, Position und fixierte sie mit seinen braunen Augen. Nach einigen Sekunden angespannten Schweigens festigte sie den Griff um den Revolver.
"Ich sagte, du sollst dich umdrehen!," fuhr sie etwas lauter fort, "So, dass ich dich sehen kann."
Ohne den Blick von ihr zu wenden trat der Surface Dweller endlich einen Schritt auf sie zu. "Du zitterst..." bemerkte er mit sanfter ruhiger Stimme.
"Halt den Mund!" entfuhr es ihr, lauter als sie beabsichtigt hatte. Ihr war nicht wohl dabei, dass selbst ein Surface Dweller sehen konnte, wie unsicher sie sich fühlte. "...Du siehst nicht aus wie einer der Kislev Soldaten, die hinter mir her sind," fuhr sie etwas leiser fort, mehr zu sich selbst gewandt.
Sie glaubte eine Reaktion in seinen Augen zu erkennen, doch sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, als er vorsichtig ansetzte, einen weiteren Schritt vorzutreten.
"Keine Bewegung!" Sie versuchte, das Beben in ihrer Stimme unter Kontrolle zu bringen und erklärte, "Ich habe den Befehl, jeden Land Dweller, Lamb, mit dem ich in Kontakt trete, zu töten. Es ist Teil meines Auftrags, nichts Persönliches, oder so, aber..."
Sie erinnerte sich wieder, weshalb sie sich überhaupt hier befand. Nein, sie hatte im Moment wirklich andere Sorgen, als einen Land Dweller zu erschießen, der ihr zufällig über den Weg gelaufen war, der vielleicht ihre einzige Rettung darstellte. Sie sollte dankbar sein, dass sie überhaupt diese Chance erhalten hatte. Außerdem sah sie nicht den geringsten Anlass, ihrem Auftrag gemäß zu handeln. Wer würde schon je davon erfahren?
"Wie auch immer, ich habe eine Frage an dich..." Mit einem Mal widerstrebte es ihr, ihre Lage zuzugeben, erst recht vor einem Surface Dweller, andererseits sah sie jetzt keinen Grund mehr, ihren Vorsatz nicht zu Ende zu bringen. "Wie komme ich aus diesem Wald heraus?" brachte sie schließlich hervor.
"Hast du den Weg verloren?" entgegnete er anstatt einer Antwort.
"Beantworte einfach meine Frage," seufzte sie. "Wie komme ich hier raus?" Obwohl keine Bosheit in seiner Bemerkung lag, wurde ihr die Situation doch zunehmend unangenehmer.
Der Surface Dweller schüttelte langsam den Kopf. "Tut mir leid, aber ich bin selbst auf der Suche nach dem Weg nach draußen."
"Oh..." war alles was ihr einfiel. Na toll, dachte sie bei sich, jetzt stehe ich hier und frage einen Surface Dweller nach dem Weg, mache mich selbst lächerlich, und alles nur um zu erfahren, dass er selbst nicht besser dran ist, als ich. Oder vielleicht doch, immerhin war es höchst unwahrscheinlich, dass er zudem noch von feindlichen Soldaten verfolgt wurde. Dennoch, dies war heute scheinbar absolut nicht ihr Tag. Wäre ihre Lage nicht so verdammt verzweifelt gewesen, hätte sie vielleicht sogar gelacht.
Sie wurde sich bewusst, dass sie den Revolver immer noch zwischen die Augen des Lambs gerichtet hielt. Ihre Finger entkrampften sich, sie sah keinen Anlass mehr, ihn zu bedrohen, sie würde den Vorfall einfach auf sich beruhen lassen und sich weiterhin auf eigene Faust durch den verwilderten Forst schlagen.
Doch gerade als sie im Begriff war, den Lauf der Kanone zu senken, kam ihr der Surface Dweller zuvor, doch seine Worte fielen anders aus, als alles, womit sie gerechnet hätte.
"Wie lange willst du noch einfach hier rumstehen?" fragte er plötzlich seelenruhig. "Wenn du mich erschießen willst, dann beeil dich und tu es."
Sie blickte ihn fassungslos an. Das seltsame Flackern in seinen Augen war Beweis genug, dass es ihm ernst war, dass er nicht bloß versuchte, Zeit zu gewinnen.
"Das ist eine verdammt seltsame Bemerkung. Begreifst du nicht, in welcher Lage du dich befindest?"
Er blickte niedergeschlagen zu Boden. "Es ist mir egal, in welcher Lage ich mich befinde... Ich bin nichts weiter, als ein Mensch, dessen Leben seinen Wert verloren hat... Es besteht kein Grund, weshalb ich überhaupt am Leben bleiben sollte..."
Jetzt erst wurde sie ganz der Hoffnungslosigkeit gewahr, die wie ein schwerer, er-drückender Schatten über ihm hing. Es war eine reine Reflexbewegung, als er auf sie zutrat, nicht mehr als eine Warnung. Sie hatte gehört, wie gefährlich Lambs werden konnten, wenn sie in die Ecke getrieben waren, wenn sie keinen Ausweg mehr sahen.
Dennoch fuhr sie innerlich zusammen, als hätte der Schuss ihr selbst gegolten. Das Echo hallte ohrenbetäubend durch die samtene Stille des Waldes, wurde von unsichtbaren Wänden aus lebendigem Dickicht wieder und wieder zurückgeworfen. Erschrocken starrte sie auf das helle zersplitterte Holz, dort wo das Projektil in eine majestätisch aufragende Buche geschlagen hatte; noch immer durchlief ein knarrendes Zittern den stolzen Stamm bis in die Fingerspitzen der dünnsten Äste, der Baum ächzte am ganzen Leibe, als wollte er sich über die Wunde beklagen, die man ihm geschlagen hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, für ihr Befinden war der Wald einfach zu lebendig, andererseits war es genauso gut möglich, dass lediglich ihre überreizten Sinne ihr einen Streich spielten.
"Wohin zielst du?" brach der Surface Dweller das Schweigen. Nach den Sekunden der erstarrten Stille wirkte seine sanfte Stimme beinahe unmenschlich laut. "Hier!" Er deutete sich auf die Brust. "Schieß hier her! Komm schon..."
Langsam machte ihr sein Verhalten Angst, doch am betroffensten machte sie der flehentliche Unterton in seinen Worten. Dieser Land Dweller musste jeglichen Lebenswillen verloren haben...
"Du bist verrückt," antwortete sie, "Irgendetwas ist mit dir ganz und gar nicht in Ordnung! Du solltest zumindest in irgend einer Form Widerstand leisten!"
Sie begann endgültig, an seinem Geisteszustand zu zweifeln, als sie sah, wie sich seine Augen vor Schreck weiteten. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, das dieser Blick nicht ihr galt. Alarmiert fuhr sie herum, als sie aus dem Augenwinkel einen verschwommenen saphirblauen Schatten heranschnellen sah. Ehe sie reagieren konnte verspürte sie einen dumpfen betäubenden Schmerz an ihrem Schädel, bevor die lang ersehnte Dunkelheit hereinbrach...

Vielleicht war es das gewesen, was ihn wachgerüttelt hatte, vielleicht hatte es ihm an nichts weiter gemangelt, als daran, einen neuen Sinn zu finden, einen Grund, weiter zu machen. Und dieser Sinn erschien Fei jetzt offensichtlich, als er die junge Frau unter dem Hieb des meerblauen Wesens zusammenbrechen sah, ihr flammend oranges Haar hinter ihr her wehend wie der Schweif eines vom Himmel stürzenden Kometen. Zuerst war es ihm als die einzige Möglichkeit erschienen, sich seinem Schicksal zu fügen und seinem Leben hier und jetzt ein Ende zu setzen, doch nun hatte er wieder ein Ziel. Er konnte nicht zulassen, dass diese unbekannte Frau seinetwegen von wilden Waldtieren zerrissen wurde; im Gegensatz zu ihm hatte sie noch ihr Leben, hatte Freunde und Familie – und in gewisser Weise war sie für ihn selbst etwas wie ein Hoffnungsschimmer, auch wenn er nicht zu sagen vermochte, weshalb.
Mit einem gellenden Schrei stürzte er sich auf den über sein Opfer gebeugten Angreifer, ohne auf die Worte zu achten, die seine Kehle verließen.
"Lass deine verdammten Finger von Elly!!" Er holte zu einem knochenzerschmetternden Schlag gegen die schuppengepanzerte Brust der Bestie aus, legte all seine Kraft in die Attacke und hätte auf dem tückischen Waldboden beinahe das Gleichgewicht verloren, als das Waldgeschöpf behände seinem Abgriff auswich und ein Gebiss voll blitzender Raubtierzähne entblößte.
Fei stöhnte schmerzerfüllt auf, als er spürte, wie sich die nadelspitzen Zähne in seinen Arm gruben. Blut quoll zwischen den Kiefern des Wesens hervor, als er versuchte, die in sein Fleisch verbissene Kreatur abzuschütteln. Und dann war plötzlich ein weiteres Exemplar hinter ihm. Jetzt war es an der Zeit, diesen Kampf zu beenden, wollte er vermeiden, dass sie ihn zu Boden rangen.
Während er noch zu dem zweiten Angreifer herumwirbelte und ihm einen Schlag verpasste, der ihm knirschend das Genick brach, schleuderte er das andere Biest endlich energisch von sich, sodass es mit dem Kopf an einen Baum schlug und regungslos liegen blieb.
Er atmete erleichtert auf und warf einen kurzen Blick auf die beiden saphirblauen Wesen. Obgleich verzerrt, mit langen dünnen Gliedern, waren sie von eindeutig humanoider Gestalt, die Haut bestückt mit Milliarden winziger Reptilschuppen, die das spärliche Licht in sämtlichen Blautönen brachen und selbst hier unten, unter dem Schatten der Baumkronen, glitzerten sie wie geschliffenes Glas.
Doch so sehr ihr Verhalten auch dem eines wilden Tieres entsprochen hatte, in ihren pupillenlosen schwarzen Augen hatte ein Feuer gebrannt, wie er es nie bei einem Tier gesehen hatte. Der Gedanke beunruhigte ihn, doch er hatte jetzt nicht die Zeit, sich näher damit zu befassen.
Er trat auf die junge Frau zu und betrachtete sie besorgt. Sie schien keine schweren Verletzungen davongetragen zu haben, doch sie war nicht bei Bewusstsein und er versuchte dennoch, ihre Wunden zu versorgen, so gut es angesichts ihrer Situation ging.
Sie konnte kaum älter sein, als Fei selbst, doch sie wirkte anders als die Menschen, die er in Aveh gekannt hatte, ihre Haut war von heller, fast durchscheinender Blässe, ihre Gesichtzüge fein geschnitten und ihr langes oranges Haar, das zum Teil über ihr Gesicht gefallen war, schien wie gebanntes Feuer.
Eines war sicher, er konnte sie nicht einfach hier liegen lassen und sie ihrem Schicksal überlassen, und er wollte es auch gar nicht; auf eine schwer zu definierende Art faszinierte sie ihn, erweckte in ihm ein Gefühl das er noch nie zuvor empfunden hatte und nicht ganz zuordnen konnte.
Während ihrer Begegnung und dem anschließenden Kampf war die Dämmerung hereingebrochen und die Schatten hatten sich mittlerweile noch mehr verdichtet, schienen geradezu greifbar zu sein. Er warf einen Blick in die von Finsternis durchwobene Runde. An Feuerholz mangelte es hier mit Sicherheit nicht und trotz der Jahreszeit konnten die Nächte hier im Wald noch recht klamm werden, außerdem wusste er nicht, was für Geschöpfe hier des Nachts auf Jagd gehen mochten. Es war auf jeden Fall besser, für ein Feuer zu sorgen, bis sie aufwachte.
Bereits nach kurzer Zeit hatte er ein helles Feuer in Gang gesetzt und die Flammen prasselten in einem ständigen Tanz empor. Dunkle Erinnerungen an die vergangene Nacht stiegen bei dem Anblick in ihm auf.
Er seufzte und lehnte sich gegen einen Baumstamm, während er versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben und wartete, dass die Zeit verging.


Gedankenverloren warf er einen dürren Ast in die schwach züngelnden Flammen und sah zu, wie helle Funken davon stoben und die Glut ihn knisternd verzehrte, wie das trockene Holz sich vor seinen Augen schwarz färbte und allmählich zu Asche zerfiel. Das Feuer tanzte vor seinen Augen wie ein unwirklicher orangeroter Schleier, der die Umgebung verzerrte und ihr eine eigentümliche Lebendigkeit verlieh; das unstet flackernde Licht, gepaart mit der bleiernen Müdigkeit, die sich über ihn gelegt hatte, ließ die Bäume ringsum zum Leben erwachen und erweckte den Eindruck, als reckten sie ihre teils noch dünn belaubten Äste sehnsüchtig dem Feuer entgegen, um sich an seinem willkommenen Schein zu wärmen.
Aus der Ferne drang der einsame, trostlose Ruf einer Eule herüber, begleitet von einem flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Flügelschlag. Es mochte jetzt knapp vor Mitternacht sein und die junge Frau lag immer noch reglos neben ihm, doch Fei wusste, dass er nicht ewig wach bleiben konnte und warten, dass sie zu sich kam. Er merkte, wie die nächtlichen Geräusche des Waldes und der ständige Reigen der Flammen ihn einschläferten, er konnte nicht verhindern, dass er langsam hinwegdämmerte und so leistete er schließlich keinen Widerstand, als ihm letztlich doch der Kopf auf die Brust sank und ihn der lange verdrängte Schlaf übermannte.
Er schreckte aus einem unruhigen Dämmerzustand hoch, als er ein leises Stöhnen neben sich vernahm. Er setzte sich benommen auf und blickte zu der geheimnisvollen Fremden hinüber. Ihre Lider flatterten kurz, ehe sie die Augen öffnete und einen Moment desorientiert umherblickte. Sie richtete sich langsam auf die Ellbogen auf und blickte ihn verwundert an, bevor sie sich in eine halbwegs bequeme sitzende Position brachte. Es dauerte einen Augenblick, ehe ein Ausdruck der Erinnerung in ihr Gesicht trat.
"Du bist also endlich zu dir gekommen," bemerkte Fei, "Du hast dich so lange nicht gerührt, das ich anfing, mir Sorgen zu machen..."
Sie senkte betreten den Blick, blieb ihm aber eine Antwort schuldig.
"Wie fühlst du dich?" fragte Fei, der ihr Schweigen nur für natürlich hielt, wenn man bedachte, dass sie ihm nicht all zu lange zuvor mit der Waffe in der Hand gegenüber-gestanden hatte. Wieder blickte sie nur still zu Boden.
"Hast du immer noch vor, mich umzubringen?" fuhr er fort, "Dann geh und erschieß mich. Aber vielleicht solltest du es nicht tun, solange wir uns hier im Wald befinden. Die meisten Geschöpfe des Waldes können laute Geräusche nicht ausstehen, wenn du verstehst, worauf ich hinaus will."
Er wartete einen Moment, doch sie blieb weiterhin stumm.
"In Ordnung," seufzte er resigniert, "Du brauchst nicht mit mir zu sprechen, wenn du nicht willst. Aber es wird dich nicht umbringen, mir zu danken, dass ich deine Wunden versorgt habe."
Sie blickte ihn an und strich sich das flammenfarbene Haar aus dem Gesicht. "D... Danke...," brachte sie schließlich hervor, "Aber du hättest mir nicht helfen sollen. Glaub nicht, dass es dir das Leben rettet. Es ändert wirklich überhaupt nichts...."
"Wovor hast du solche Angst?" entgegnete Fei.
"Ich habe keine Angst, ich bin bloß vorsichtig," erwiderte sie. Sie schien langsam ihre Fassung wiederzugewinnen. "Es ist nur natürlich, vorsichtig zu sein, wenn man bedenkt, dass ich auf so einen verdächtigen Surface Dweller Lamb gestoßen bin."
"Hm, mach dir keine Sorgen, ich werde dir nichts tun. Davon abgesehen bist du wesentlich verdächtiger als ich." Er ignorierte den überraschten Blick, den sie ihm bei der Bemerkung zuwarf und fuhr fort, "Nun, wie ist dein Name?"
"Ich werde meinen Namen nicht einfach an einen Surface Dweller Lamb weitergeben."
"Was soll die ganze Sache mit diesem 'Lamb'-Unsinn?" lenkte er ein, "Das ist doch absurd, wir sitzen hier beide in diesem Wald fest, umzingelt von wilden Tieren, ohne zu wissen, wie wir hier wieder rauskommen und du hältst an irgendwelchen merkwürdigen Prinzipien fest, als ob dein Leben davon abhinge... Sollten wir nicht wenigstens so lange zusammenarbeiten, bis wir einen Weg hinaus gefunden haben?"
Darauf widersprach sie nicht. "Gut," fuhr er fort, "Also wie lautet dein Name? Es wird schwierig für uns sein, zu kooperieren, wenn wir noch nicht einmal den Namen des anderen wissen. Wie auch immer, mein Name ist Fei Fong Wong. Du kannst mich Fei nennen."
"Ich bin... Elhaym," sagte sie zögernd, "Aber meine Eltern nennen mich Elly."
"Elly, huh?" wiederholte er mehr zu sich selbst gewandt, "Irgendwie habe ich das Gefühl, als wusste ich das bereits..."
Er bemerkte den verwirrten Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht und sprach weiter, "Nun, wie dem auch sei, es ist zu gefährlich, bei Nacht weiterzugehen, es wäre also besser, bis Tagesanbruch zu warten, ehe wir weiter nach einem Weg hier raus suchen... Wenn es dir nichts ausmacht."
"Ich schätze, uns bleibt keine andere Wahl..." entgegnete sie.
"Okay dann, Elly. Wir sollten besser zusehen, dass wir noch etwas Schlaf bekommen, bis wir aufbrechen." Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie lange der vergangene Tag gewesen war und wie viel Kummer und Leid er mit sich gebracht hatte. Die Erschöpfung lastete schwer auf seinem Herzen und als er sich an der Wurzel des Baumes, an dessen Stamm gelehnt er die ganze Zeit über gesessen hatte, zusammengerollt hatte, so gut es auf dem unebenen Waldboden ging, fiel er fast augenblicklich in tiefen Schlaf...

Die Wüste war endlos. Bis in die Unendlichkeit erstreckte sich ein lebensfeindliches Meer aus glühendheißem Sand. Schon seit Stunden schien er durch die trostlose kahle Landschaft zu stolpern, hatte einen Dünenkamm nach dem anderen erklommen, bloß um festzustellen, dass sich die Sandhügel dahinter weiter in die Ewigkeit erstreckten, ehe sie in der flirrenden Hitze verschwommen und mit dem fahlblauen Himmel verschmolzen.
Die heiße trockene Luft brannte in seinen Lungen und der beschwerliche Marsch, ohne Hoffnung und Ziel vor Augen war mehr gewesen, als man einem siebenjährigen Jungen abverlangen konnte. Langsam begann sich die Welt um ihn herum zu drehen und er wusste, dass er dieser Hölle nicht mehr lange würde standhalten können. Erschöpft und am Ende seiner Kräfte ließ er sich zu Boden fallen und blickte sich nach einem Zeichen um, das ihm neue Hoffnung geben könnte. Es erschien ihm zunächst wie eine Illusion, eine Luftspiegelung, die seine strapazierten Sinne ihm vortäuschten, als sich ihm in geringer Entfernung das lange ersehnte Bild bot.
Es waren zwölf aufrechte gesichtslose, doch zweifellos reale, Gestalten, deren Silhouetten sich scharf und dunkel gegen den erbarmungslosen gleißenden Sand abzeichneten. In nur kurzer Distanz schritten sie schweigend über einen benachbarten Dünenkamm, einer hinter dem anderen. Ohne lange zu überlegen sprang er auf und lief in ihre Richtung, so schnell es ihm die Erschöpfung erlaubte. Doch so sehr er sich auch bemühte, sie zu erreichen, er schien kaum von der Stelle zu kommen, qualvoll langsam nur gehorchten ihm seine Beine, als hielte eine unüberwindbare Kraft sie zurück und während ihn jeder Schritt mehr Anstrengung kostete, verschwanden die zwölf Gestalten langsam in der Ferne, schienen trotz ihres gemächlichen Schrittes wie der trockene Wind zu verwehen und mit der flimmernden Luft zu verschmelzen.
Völlig am Ende brach er am abfallenden Hang der Düne zusammen, überschlug sich und stürzte mehrere Meter, begleitet von aufgewirbeltem Sand, der ihm die Luft nahm, abwärts. Als er hustend und keuchend wieder aufblickte, waren die Gestalten verschwunden. Verzweifelt blieb er hocken, wo er war, in sich zusammengesunken und den Tränen nahe. Jede Hoffnung war verloren, er würde niemals alleine einen Weg aus der Wüste finden, er würde hier gefangen bleiben und innerhalb kürzester Zeit in der gnadenlosen Hitze sterben. Von heftigem Schluchzen geschüttelt, vergoss er das letzte Wasser, das sein ausgedörrter Körper noch besaß, in den heißen Sand, endgültig seinem Schicksal ergeben.
Er bemerkte nicht einmal, als endlich ein Schatten über ihn fiel und die sengenden Strahlen der Sonne von ihm abschirmte. Eine sanfte Stimme klang zu ihm herüber, das Schönste, was er sich in diesem Moment vorstellen konnte. Mit einem zaghaften hoffnungsvollen Lächeln blickte er auf. Gegen das grelle Licht der Sonne war ihr Gesicht kaum zu erkennen, nur von ihrem langen Haar ging ein sanfter flammender Schimmer aus. Etwas blitzte auf ihrer Brust und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein funkelndes silbernes Kreuz, bestückt mit einem einzelnen feurigen Rubin im Zentrum...
"Du musst einsam sein, ganz alleine hier," sagte sie mit einem Lächeln, während sie ihm die Hand entgegenstreckte. "Fei..."
Er fühlte, wie ihn jemand sachte an der Schulter rüttelte. Eine sanfte Stimme rief seinen Namen, mit wachsendem dringlichem Unterton. Er blinzelte und öffnete die Augen. Das Bild aus seinem Traum verschwamm, wurde jedoch nahtlos von Ellys Gesicht abgelöst, die sich über ihn beugte und versuchte, ihn zu wecken. Es war das gleiche Lächeln, das selbe Antlitz wie in seinem Traum. Doch es hatte sich so sehr wie eine längst vergangene Erinnerung angefühlt, genauso wie die Erinnerung an die Nacht, als er nach Lahan gebracht worden war. Wie war es also möglich, dass sie in dieser Erinnerung, oder was immer es auch sein mochte, aufgetaucht war, wo er ihr noch nie zuvor begegnet war? Und doch, ihre Augen, ihre Art zu sprechen, beinahe alles an ihr erschien ihm so seltsam vertraut...
"Fei, bist du wach?" fragte sie leise. Er hob den Kopf und gab ein zustimmendes Seufzen von sich. Er fühlte sich wie gerädert und als er sich mühsam erhob, vermeinte er, jeden einzelnen Knochen im Leib knacken zu hören. Es war ein Wunder, dass er auf dem harten unebenen Waldboden überhaupt Schlaf gefunden hatte. So schwer es ihm fiel, musste er zugeben, dass er doch vom häuslichen Leben in Lahan verwöhnt war.
"Wir sollten uns langsam auf den Weg machen," meinte Elly ohne weitere Umschweife, während Fei sich reckte, um die Müdigkeit aus seinen verspannten Gliedern zu vertreiben. Jetzt im ersten Morgenlicht konnte er erkennen, dass die Bäume hier nicht ganz so dicht standen, wie es am gestrigen Abend den Eindruck erweckt hatte, tatsächlich drang vereinzelt ein goldener Lichtstrahl funkelnd durch das Blattwerk und warf helle grünschillernde Schatten auf den dunklen Waldboden.
Schweigend trabten sie nebeneinander her, die aufgehende Sonne im Rücken, in die Richtung, in der Westen und somit die äußere Grenze des Waldes liegen musste. An etlichen Stellen rückten die Bäume nun vollends auseinander, um breiten sonnendurchfluteten Wegen und Lichtungen Platz zu machen. Überall auf jenen freien Flächen lagen umgeknickte Bäume achtlos umgeworfen, teils von Farn und Moos überwuchert, teils aber noch frei von Unterholz, das gesplitterte Holz noch hell, als hätte erst kürzlich ein riesenhaftes Geschöpf sich seinen Weg durch den Wald gebahnt. Fei konnte nur hoffen, dass sie dem Urheber jener Breschen nicht über den Weg liefen...

Nachdem sie ein gutes Stück Weg zügig zurückgelegt hatten, brach Elly schließlich das Schweigen und sprach jene Frage aus, die sie seit ihrer Begegnung beschäftigte.
"Fei..." begann sie, "Gestern hast du gesagt, dein Leben wäre wertlos... Was ist geschehen, dass du derart die Hoffnung verloren hast?"
Er blieb stehen und sah sie an. "Warum fragst du?" entgegnete er.
"Warum?" Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. War es nicht offensichtlich weshalb sie fragte? "Gestern hast du gewirkt, als wolltest du am Liebsten auf der Stelle sterben. Glaubst du etwa, dass ich mir keine Gedanken darüber machen würde...? Was hat dich überhaupt erst so tief hier in den Wald verschlagen?"
"Das gleiche könnte ich dich fragen," erwiderte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.
"Nun, ich..." versuchte sie eine Antwort zu finden. Was sollte sie ihm sagen? Es fiel ihr immer noch schwer, sich selbst einzugestehen, dass sie tatsächlich zur Flucht gezwungen worden war. Außerdem war sie nicht sicher, ob sie ihm Einzelheiten über ihren Auftrag anvertrauen konnte. Sie war heilfroh, als er von sich aus weitersprach und ihr vorerst die Antwort ersparte.
Er blickte bedrückt zu Boden. "Ich... bin weggerannt..." sagte er abwesend mit plötzlich brüchig gewordener Stimme, als widerstrebte es ihm, sich die Ereignisse wieder in Erinnerung zu rufen, "von meinem Dorf... oder dem, was davon übrig ist..."
"Was davon übrig ist? Du meinst nicht etwa..." Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr hoch. War die Schlacht etwa tatsächlich so eskaliert? War es vergeblich gewesen, dass sie das Gear aufgegeben hatte? Natürlich hatte sie es in erster Linie getan, um sich selbst zu retten, doch sie hatte gehofft, auf diese Weise auch dem Dorf die Konsequenzen eines Kampfes zu ersparen.
"...Lahan... Es war ein kleines Dorf, das zwischen dem Wald und der Gebirgskette gelegen war. Ich bin von dort weggerannt."
"Dieses Dorf...?" Sie wollte es einfach nicht glauben, doch die Beschreibung passte perfekt und dieser Teil Ignas' war zu spärlich bewohnt, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte.
"Es war ein friedliches Dorf. Es war nicht besonders groß, aber vielleicht war es gerade das, was den Frieden ausmachte. Alle behandelte mich, als gehörte ich zu ihrer Familie. Um nichts in der Welt hätte ich Lahan verlassen wollen, natürlich, vielleicht, eines Tages, aber nicht so..." Er hielt kurz inne, ehe er verbittert fortfuhr. "Dann, letzte Nacht, landete eine Gruppe von Gears und begann ein Gefecht, mitten zwischen den Häusern. Das Dorf, meine Heimat, stand in Flammen. Ich konnte nicht einfach nur dastehen und zusehen, wie Lahan zerstört wurde...
Also habe ich in dem Versuch, die Leute aus dem Dorf zu retten, ein verlassenes Gear bestiegen... ohne auch nur zu wissen, wie man es steuert. Ich dachte einfach, ich könnte etwas tun... nein, es war mehr wie ein Ruf, eine Stimme, die mir zuflüsterte, ich sollte es tun... Aber endete in einer Katastrophe... Das Dorf..." Er brach ab.
"Was ist geschehen?" forschte Elly. "Hat Kislevs Armee das Dorf zerstört?"
"Nein..." antwortete Fei leise, "Ich... habe es zerstört..."


"Was...?" Sie starrte ihn fassungslos an. Sie konnte einfach nicht, wollte nicht glauben, was sie soeben gehört hatte.
"Ja," fuhr er mit gesenktem Blick fort, "Ich habe es getan. Ich bin mir völlig sicher, ich habe keinen Grund mehr, daran zu zweifeln. Ich habe Lahan zerstört..."
"Was soll das heißen, du hast es zerstört?" Sie hatte sich wieder halbwegs gefangen, "Ich dachte, du hast versucht, den Leuten zu helfen?"
"Genau, ich habe es versucht. Ich konnte sogar einige Gears außer Gefecht setzen, bis ihr Anführer, oder was immer er auch war, mit Verstärkung auftauchte und sie mich unter Beschuss nahmen... Und dann..." er hielt inne, sein Blick irrte suchend über das niedrige Gestrüpp, das den Weg hier für sich erobert hatte und wieder zurück zu Elly, als suche er etwas, woran er sich festhalten konnte. "...geriet mein bester Freund, Timothy, in einen Kugelhagel..." Er holte tief Luft, ehe er mit heiserer Stimme fortfuhr, "Was danach passierte, weiß ich nicht. Es wurde einfach alles schlagartig dunkel, als hätte jemand versucht, mich in die Tiefe zu zerren... Das Gear geriet außer Kontrolle, zumindest hat Doc das gesagt... Als ich zu mir kam... war das Dorf und alle Leute... Alice... sie war so... Alice und Timothy... O mein Gott! Alle aus dem Dorf! Alle, die ich gekannt habe, alle, die mir je..." Er brach ab.
"...geriet außer Kontrolle?" wiederholte Elly leise, "Das Gear geriet außer Kontrolle? Was ist mit dem Dorf? Fei...!"
"Ja, das Gear," er blickte ihr mit einem Mal fest in die Augen, "Wenn sie nur bloß nicht gekommen wären... Wenn sie nur nicht in Lahan gelandet wären..."
Elly versuchte, die einzelnen Puzzleteile, die Fei ihr hingeworfen hatte, zusammenzufügen und das Ganze ergab mittlerweile ein ziemlich beunruhigendes Bild. Sie dachte zurück an den Augenblick, als sie über den ersten Ausläufern des Waldes abgestürzt waren, sie und der Rest des Kommandos. Sie hatte den Verlauf des Kampfes nicht mitangesehen, hatte sich augenblicklich zurückgezogen und ihren Kameraden signalisiert, es ihr gleich zu tun. Alles, was sie gesehen hatte, war, wie sich, als der Hügel ihr bereits fast die Sicht nahm, das entführte Gear wie ein entfesselter schwarzer Dämon über der Anhöhe erhob. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, außer, dass der Feind sich sein Eigentum offensichtlich zurückgeholt hatte, doch jetzt ergab plötzlich alles einen Sinn, auch der helle Lichtblitz, der selbst das Dunkel des Waldes taghell erleuchtet hatte, das dumpfe Grollen, das der Wind an ihr Ohr getragen hatte... Sie hätte wissen müssen, das etwas passiert war...
"Wenn sie nur niemals in unser Dorf gekommen wären," fluchte Fei indessen mit stetig anwachsender Stimme, "Hätten sie nur nie dort ihren Kampf begonnen... dann hätte ich nicht versucht, das Gear zu steuern... Es ist deren Schuld, nicht meine! Sie sind dafür verantwortlich! Wenn sie nur niemals gekommen wären... Nichts von alledem wäre... Wenn nur sie nicht gewesen wären!" Er wandte sich um und schlug wie besessen auf den nächstgelegenen Baum ein, dass die Äste über ihnen knarrend erzitterten. Er schrie jetzt, dass seine Stimme von den Tiefen des Waldes widerhallte. "Wenn nur sie nicht gewesen wären!!"
"Das reicht!" fuhr Elly ihn an. Sie war selbst verwundert über die plötzliche Schärfe ihrer Stimme, doch sie ignorierte Feis überraschten Blick und fuhr unbeirrt fort. "Du bist ein Feigling!"
"Ich...?" entgegnete er langsam, "Ein Feigling?"
"Genau, du bist nichts weiter als ein Feigling. Alles was du sagst ist 'wenn sie nicht gekommen wären', alles, was du tust, ist, die Schuld auf andere zu schieben. Tu nicht so, als ob du keine Verantwortung dafür tragen würdest."
"Ich trage die Verantwortung? Aber..." begann er, doch sie schnitt ihm das Wort ab, sie wollte sich jetzt nicht unterbrechen lassen, wollte sich nicht ihre plötzliche Energie nehmen lassen.
"Ja, so ist es. Natürlich war die der direkte Auslöser des Gefechts, dass eine Gruppe von Gears in eurem Dorf notlanden musste. Aber alles, was Kislev wollte, war doch das Gear, oder? Es war keine Invasion, sie waren nicht darauf aus, Lahan zu zerstören. Die wirkliche Katastrophe passierte erst, als du unbedingt in ein Gear klettern musstest und versucht hast, zurückzuschlagen."
Fei entgegnete nichts mehr, sah nur noch betroffen an ihr vorbei.
"Warum überhaupt hast du das Gear bestiegen? Nicht jeder beliebige Surface Dweller kann die Maschinen einfach steuern! Es braucht jahrelanges Training! Es besteht keine Möglichkeit, dass ein Zivilist sie auch nur ansatzweise kontrollieren könnte! Abgesehen davon hättest du stattdessen besser den anderen Dorfbewohnern helfen sollen, sich in Sicherheit zu bringen. Wie kannst du dem Gear die Schuld geben, wenn du es warst, der überhaupt erst beschlossen hat, zu kämpfen? Warum übernimmst du nicht selbst die Verantwortung? Warum schiebst du die Schuld auf andere? Alles, was du tust, ist davonzulaufen! Das ist es, was dich zu einem Feigling macht!"
"Nun, wenn du es so ausdrückst...," entgegnete er verbittert, "Ja, es stimmt, ich bin ein Feigling. Ich war mir meiner eigenen Stärke nicht bewusst und habe andere für die Folgen verantwortlich gemacht. Ich bin eine Schande für einen Mann. Aber... Ich verspürte einfach diesen betäubenden Blutrausch, ich konnte nichts dagegen tun! Ich konnte mir nicht helfen... Konnte niemandem helfen..." Er ließ sich kraftlos gegen den Baumstamm sinken, gegen den er noch wenige Momente zuvor wie von Sinnen gehämmert hatte, und verbarg das Gesicht in den Händen.
"Ich... Es... tut mir leid," sagte Elly leise. Sie wusste, dass sie zu weit gegangen war.
"Halt den Mund!" schrie er mit tränenerstickter Stimme, "Was weißt du schon! Als ich zu mir kam, lag um mich alles in Trümmern... Ich wusste nicht, was geschehen war oder was ich getan hatte. Ich konnte mich an rein gar nichts erinnern. Alles, was ich wusste, war, dass meine Hände immer noch fühlen konnten, was sie getan hatten. Das einzige, was die Panzerung des Gears durchdrungen hatte, waren Schreie gewesen. Schreie, gepaart mit dem Gestank von Blut, dem Krachen von Knochen und meinen eigenen Verwünschungen..." Er streckte ihr die Hände entgegen. "Sieh! Sieh auf meine Hände! Siehst du es? Verstehst du dieses Gefühl? Das Gefühl, deine eigene Heimat zerstört zu haben...? Nichts für die Kinder tun zu können, die zurückgelassen wurden...? Sie haben jetzt nichts mehr... Ich habe nichts mehr... habe keinen Ort, an den ich gehöre... niemanden... Glaubst du wirklich, ich wollte, dass es dazu kommt? Ich hatte keine Wahl... Es gab keinen anderen Weg..."
Sie blickte ihn lange an, auf der Suche nach etwas, was sie sagen könnte, doch alles, was ihr in den Sinn kam, erschien ihr jämmerlich und unangebracht. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ließ Fei allein zurück.

Die Wunden der umgestürzten Bäume wurden mit der Zeit frischer, das gesplitterte Holz heller, während Elly den Weg entlang schritt.
Warum hatte sie das alles zu ihm gesagt? Sie hätte es nicht sagen dürfen, sie war zu weit gegangen. Sie hatte kein Recht gehabt, so mit ihm zu reden. Wahrscheinlich hatte sie einfach nur nicht gewollt, dass er unwissentlich so über sie und ihre Kameraden redete, aber das war noch lange kein Grund, ihm derartige Vorwürfe zu machen.
Ein flüchtiges Bild zog an ihrem inneren Auge vorbei, eine Erinnerung, die sie lieber vergessen hätte. Es war so erschreckend nahe, als wäre es erst vor wenigen Augenblicken geschehen, die leeren vorwurfsvollen Blicke der Toten, die mit unnatürlich verrenkten Gliedern auf dem kühlen, von im trüben Licht der Notbeleuchtung dunkelrotem Blut überfluteten, Stahlboden lagen, die Mienen immer noch von Schmerz und Entsetzen verzerrt. Und inmitten dieser grausamen Szenerie ihre eigenen blutüberströmten Hände, doch nicht von ihrem eigenen.
Sie hatte es nicht aus freiem Willen getan, sie hatte schlicht keine Kontrolle über sich gehabt. Sie hatte damals alles getan, um sich selbst zu beweisen, dass nicht sie für den Vorfall verantwortlich gewesen war. In gewissem Sinne hatte sich ihre Situation damals nicht sehr von der unterschieden, in der Fei sich jetzt befand.
Sie verdrängte die Erinnerung und warf einen Blick in die Runde. Vielleicht war es falsch gewesen, Fei zurückzulassen und auf eigene Faust den Wald zu durchqueren, doch sie hatten seit gestern ein gutes Stück des Forstes durchquert und die Umgebung wurde zunehmend verheißungsvoller, dass sie sich dem jenseitigen Waldrand näherte. Sie konnte noch nicht weit gekommen sein, doch es war bereits heller geworden und die Bäume hatten sich zunehmend gelichtet, immer wieder durchzogen von anderen gewaltsam geschaffenen Schneisen, die den Weg kreuzten.
Vor ihr weitete sich der Wald zu einer kleinen sonnendurchfluteten Lichtung, hohes Gras bedeckte die offensichtlich schon seit langer Zeit hier ruhenden Gerippe umgestürzter Bäume, Farn wucherte zwischen den vereinzelt noch wie Felsen in der Brandung stehenden Baumgrüppchen und unter den mächtigen Stämmen der einst stolzen Eichen des Neumondwaldes. Friedliche Stille hing in der Luft – zu friedlich beinahe. Es fehlte jeglicher Laut neben dem verstohlenen Rascheln des Windes in den Blättern, kein Summen von Insekten noch der selbst im düsteren Herz des Waldes gegenwärtig gewesene Vogelgesang. Nein, dies war nicht die friedliche Stille einer verborgenen Waldlichtung – es war die Ruhe vor dem Sturm.
Rein instinktiv tastete ihre Hand nach dem Revolver an ihrem Gürtel. Vielleicht war es nur ihre Einbildung, doch sie vermeinte, Schritte von jenseits der Lichtung zu vernehmen, meinte, ein dumpfes Beben im Grund zu spüren. Mit einem Mal wurden ihr bewusst, dass diese Lichtung im wuchernden Dickicht des Waldes von selbst niemals hätte bestehen können. Etwas hatte diese freie Fläche geschaffen und dafür gesorgt, dass sie nicht binnen kurzem wieder verschwand. Indessen war das Geräusch schwerer Schritte und berstenden Holzes unverkennbar geworden. Sie wünschte sich bereits, nicht am vergangenen Abend den einen Schuss abgefeuert zu haben; was immer sich hier näherte, machte nicht den Eindruck, als ließe es sich so leicht beeindrucken wie die marineblauen Geschöpfe der vergangenen Nacht.
Gleich wie, sie konnte nicht hier bleiben und abwarten, bis der Urheber des anwachsenden Tumults sie entdeckt hatte. Immer noch den Revolver schussbereit umklammert zog sie sich in den Schatten der Bäume zurück und schlich so leise es ihr möglich war um die freie ungeschützte Fläche herum auf die jenseitige Waldmauer zu. Sie bemerkte ihren Fehler erst, als es bereits zu spät war. Die Schritte kamen nicht von der anderen Seite der Lichtung...
Begleitet von dem Getöse splitternden Holzes und fallendem Geäst brach die gewaltige Echse zwischen den Bäume direkt neben ihr hervor; irgendetwas schleuderte sie hinaus auf die Lichtung und auf den Rücken. Die Wucht des Aufpralls nahm ihr den Atem und für kurze Zeit legte sich ein schwarzer Schleier über ihre Augen, doch sie langte sofort nach der Kanone und feuerte alle verbliebenen Projektile auf das bis fast zu den Baumkronen aufragende Ungeheuer ab, ohne jedoch mehr zu bewirken, als dass das Tier einen wütenden markerschütternden Schrei ausstieß und dabei eine Reihe messerscharfer dolchartiger Zähne entblößte. Hastig rappelte sie sich auf und wich vor der Echse zurück, die sich nun beinahe auf ihre Vorderbeine herabgelassen hatte und sich ihr mit gesenktem Schädel näherte, sodass ihr der heiße Atem der Kreatur entgegenschlug.
Mit einer letzten verzweifelten Geste hob sie schützend die Arme über den Kopf und bereitete sich auf die Begegnung mit den rasierklingenartigen Krallen des Geschöpfes vor...

Der angsterfüllte Schrei schreckte Fei aus seinen Gedanken hoch. Ohne einen Moment zu zögern sprang er auf und rannte in die Richtung, aus der Ellys Hilferuf gekommen war. Die majestätischen Stämme zu beiden Seiten des Weges verschwammen regelrecht, während er vorwärts stürmte. Er hätte sie nicht alleine gehen lassen dürfen. Er konnte nur hoffen, dass er noch rechtzeitig kam.
Als er auf die kleine Lichtung hinausstürmte, lag Elly zusammengekrümmt zwischen den von Farn und Moos überwucherten Stämmen einstiger Baumriesen, über sie gebeugt ein mächtiges echsenartiges Geschöpf, die grausamen Zähne gebleckt. Er kannte diese Kreaturen nur aus den Berichten des Docs, Wesen, die ihm erschreckend und faszinierend zugleich erschienen waren. Doch jetzt, wo er einem leibhaftigen Rankar gegenüberstand, war wenig von der einstigen Faszination über jene wilden Kreaturen geblieben.
"Elly!" schrie er, während er auf sie zurannte, ungeachtet der riesenhaften Echse. Der Rankar wandte sich, aufgeschreckt von der Untersuchung seines potentiellen Opfers, blitzartig dem unerwünschten Neuankömmling zu und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Soweit Fei erkennen konnte, war Elly am Leben, doch nicht bei Bewusstsein.
Entschlossen wandte Fei sich um und rannte auf den Rankar zu. Wie von Sinnen sprang er die Riesenechse an, legte all seine Kraft in die Sprungattacke und drosch, nunmehr an den Hals des Ungetüms geklammert, auf seinen massiven Schädel ein, als existiere nichts anderes mehr auf der Welt, ohne jedoch die Echse zu beeindrucken.
Mit einer Leichtigkeit, die ihn beinahe elegant erscheinen ließ, schüttelte der Rankar den Angreifer ab und warf ihn unsanft zu Boden. Unbeirrt rappelte Fei sich wieder auf und setzte zu einem erneuten Angriff an, als plötzlich Motorenlärm über der Lichtung erklang, leise zunächst, doch schnell anschwellend, ehe sich ein Schatten vor die Sonne schob, gefolgt von einer Sturmböe, die über das hohe Gras hinwegfegte. Der Rankar hielt für einen Moment inne, um die bizarre Gestallt zu untersuchen.
Als Fei aufblickte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Direkt über ihnen hing eine im Sonnenlicht hell funkelnde krabbenartige, metallene Konstruktion, die vielgelenkigen Beine unter dem Rumpf gefaltet, die sich mit flirrenden Rotorblättern in der Luft hielt – im Schlepptau das schwarze Gear, das Lahan vernichtet hatte. Eine vertraute Stimme klang aus der Landkrabbe herüber.
"Fei!" rief Citan, als er sich über den Rand des absonderlichen Gefährts beugte und zu ihnen herunterblickte. "Ich habe dich bereits gesucht!" Er erblickte den Rankar und erfasste die Situation augenblicklich. "Hier! Du kannst das hier benutzen!" Damit löste er die Verankerung des Gears und der stählerne Gigant stürzte wie ein lebendiger Schatten auf die Lichtung nieder, fing seinen Sprung selbständig ab und verharrte in der typischen Landeposition auf ein Knie herabgesunken.
Fei blieb stehen wie versteinert, den Blick auf die nachtschwarze, von dunklem Blau durchzogene, Rüstung des Gears gebannt. Er sah zu der in der Luft schwebenden Landkrabbe auf. "Hey! Warte mal eine Sekunde!" rief er, "Du erzählst mir, ich soll dieses Ding benutzen? ...Elly... Verdammt! Doc! Ich muss dich um einen Gefallen bitten! Ich werde diese Bestie bezwingen! Aber..." er warf einen Blick auf die unmissverständlichen glänzenden Metallläufe, die an den Flanken der Krabbe verliefen, "Sollte es so aussehen, als würde ich außer Kontrolle geraten wie letztes Mal – erschieß mich!"


"Dann lass uns beten, dass es nicht so weit kommt," antwortete Citan ernst. Fei nickte entschlossen, sprang über einen von Farn und Moos überwucherten Baumstamm und erklomm hastig den stählernen Giganten, so wie er es schon einmal getan hatte, während Citan die Landkrabbe über das Haupt des Rankars hinweg lenkte, um die Kreatur lange genug abzulenken, bis Fei zum Gegenangriff übergehen konnte.
Als er sich etwa auf halber Höhe der Maschine befand, glitten die massiven Brustplatten mit einem hohlen Pochen wie von Geisterhand zur Seite, eine einladende Geste, als wolle ihn das Gear auf diese Weise willkommen heißen. Er holte tief Luft und kletterte ins Innere des Stahlgiganten. Dämmerung umfing ihn, als sich die Luke hinter ihm schloss und das einfallende Licht ruckartig abschnitt. Es war ein seltsames Gefühl, als er sich wieder in den Steuersessel fallen ließ und die Finger um die Kontrollgriffe schloss, das kühle Metall unter seinen Händen fühlte, der Anblick der sanft glühenden Statusanzeigen – als hätte er dies schon unzählige Male getan, als wären er nicht erst zwei Tage, dass er auch nur ein Gear zu Gesicht bekommen hatte.
Instinktiv flitzten seine Finger über die Kontrollen, betätigten die Sensorfelder, korrigierten die Schalthebel und gleichzeitig erhob sich der Gigant knirschend aus seiner demütig knienden Ehrfurchthaltung. Citan zog sich wie auf Kommando von der Echse zurück, die in voller Größe nahezu das Gear überragte, um Fei Raum zur Attacke zu verschaffen. Ein vermodernder Baumstamm, der einst einer stolzen Eiche gehört haben mochte, zersplitterte lautstark unter dem enormen Gewicht des Gears, als Fei einen Schritt zurücktrat, um etwas Abstand zu gewinnen, bevor er vorwärts sprang und zum Angriff ansetzte.
Der Rankar gab ein überraschtes schmerzerfülltes Knurren von sich, als er vorwärts schnellte und in einer flinken Drehung das gepanzerte Bein des Stahlkolosses in die Flanke der Kreatur krachen ließ. Selbst durch die Barriere von Stahl und Glas hindurch konnte er das Knirschen gebrochener Knochen vernehmen, doch die Bestie ließ sich nicht sonderlich davon beeindrucken, sondern fuhr nur behände herum und versetzte dem Gear einen Schwanzhieb, der es beinahe von den Beinen gefegt hätte. Fei fühlte beinahe, wie das Metall des Kniegelenks der Maschine splitterte und es kostete ihn einige Mühe, einen Sturz zu verhindern. Ehe er sich ganz gefangen hatte, nutzte der Rankar auch schon den kurzen Moment der Ablenkung aus und rammte seinen wuchtigen Schädel derart heftig gegen die Brustpanzerung des Gears, dass er unkontrolliert einige Schritte zurücktaumelte. Er sah ein, dass es unter den gegebenen Umständen keinen Zweck hatte, sich auf einen Nahkampf einzulassen, die Gefahr war zu groß, dass Elly dabei verletzt würde.
Seine Finger krampften sich um die Kontrollen der beiden Etherkanonen, als er hinkend zurückwich, er entsicherte den Auslöser, aktivierte die Energiezufuhr. Synchron mit seinen eigenen Bewegungen breitete das Gear seitlich die Arme aus, verharrte einen kurzen Moment in der Position, ehe es in einer grazilen fließenden Bewegung die Fingerspitzen aneinander legte und, die metallenen Finger durchgestreckt, die Arme dem etliche Meter entfernten Rankar entgegenreckte.
Dem Gear war die knisternde Anspannung deutlich anzusehen, die durch sein stählernes Skelett lief, als müsste es sich selbst vollständig auf die Attacke konzentrieren. Die Luft begann zu flimmern, als sich der Ether um die klauenartigen Kanonen verzerrte, dünne weiße Lichtfäden tanzten geisterhaft über das dunkle Metall. Von allen Richtungen her strömte der als bläuliches Licht sichtbar gewordene Ether auf die gespreizten Finger des Giganten ein, vereinte und verdichtete sich zu rasch anwachsender ungebändigter Energie, lebendiges pulsierendes Licht, das einen hellen Widerschein auf die nachtschwarze Panzerung der Maschine warf.
Das tobende Schauspiel endete plötzlich und schlagartig, als sich die aufgestauten Energien in einem blendenden Lichtblitz entluden. Gleißende Flammen, ein Strahl flüssigen Feuers, schossen auf die Bestie am anderen Ende der Lichtung zu. Jede Reaktion des Rankars kam zu spät, als das entfesselte Inferno über ihn hereinbrach, hungrig und verzehrend, und ihn trotz seiner ungeheuren Größe widerstandslos rückwärts schleuderte. Mit einem letzten markerschütternden Aufschrei brach die Kreatur zusammen und blieb regungslos liegen.
Fei gönnte sich keine Atempause und sprang sofort auf, hechtete zur Luke und kletterte hastig die äußere Hülle des Gears hinab. Als er sich noch ein gutes Stück über dem Boden befand, löste er den Griff von den Sprossen, ließ sich hinab ins hohe Gras fallen und stürzte hinüber zu Elly. Erst als er neben ihr kniete und sich vergewissert hatte, dass sie weitgehend unverletzt war, abgesehen von einigen Spuren, die die Klauen des Rankars auf ihrem rechten Arm zurückgelassen hatten, bemerkte er, dass Citan inzwischen die Landkrabbe am Rand der Lichtung gelandet hatte und auf sie beide zuschritt.
"Fei!" rief er ihm entgegen," Bist du in Ordnung?"
"Ja... Ich denke schon," antwortete er, während er sich erhob.
Citan blieb vor ihm stehen und blickte von Fei zu dem Stahlgiganten, der erstarrt hinter ihm aufragte. "Dieser Kampf mit dem Rankar war beachtlich," bemerkte er, "Ein gewöhnliches Gear hätte nicht die geringste Chance gehabt gegen diese Kreatur."
Fei wandte sich um und folgte seinem Blick. "Warum hast du es hierher gebracht, Doc?" fragte er.
"Das...? Du meinst Weltall?"
"Weltall? Wovon redest du? Das ist das Gear, das unser Dorf zerstört hat. Warum hast du überhaupt daran gedacht, es hierher zu bringen?," seine Stimme gewann einen bitteren Unterton, "Ich möchte nie wieder ein Gear auch nur sehen müssen..."
"Ich verstehe, wie dir zumute ist," antwortete Citan ruhig, "Aber um dich selbst zu schützen, benötigst du ein gewisses Maß an Stärke, gerade jetzt, wo wir verfolgt werden."
"Es mag schon sein, dass man Stärke braucht, um sich selbst zu verteidigen. Und wenn dieses Gear hier nicht gewesen wäre, wären Elly und ich jetzt bereits..." Er sah keine Notwendigkeit, den Gedanken weiter auszuführen. "Aber seine Kraft geht weiter über das hinaus, was notwendig ist. Ist es denn wirklich nötig, die Macht zu besitzen, alles zu zerstören?" Darauf entgegnete Citan nichts. Er hatte selbst die verheerenden Auswirkungen gesehen, die der Etherstrahl auf den Rankar gehabt hatte. Der Gestank von versengtem Fleisch hing immer noch stechend in der Luft und dort, wo die geballte Energie des Ethers über die Kreatur hereingebrochen war, war das Gewebe bis auf die Knochen verbrannt.
Fei wandte den Blick von dem Gear ab, das der Doktor Weltall genannt hatte. "Ich brauche keine solche Macht..." fuhr er düster fort, "Ich hasse Gears einfach nur."
Citan blickte ihn ernst an. "Aber Macht zu benutzen oder von Macht benutzt zu werden... Ist das nicht eine Frage des Herzens? Wenn die Menschen ihre Macht nicht falsch einsetzen würden, könnte viel Gutes aus ihr entspringen... Ich glaube daran, dass diese Macht uns helfen könnte. Und was das betrifft, weiß ich, dass ich mir um dich keine Sorgen zu machen brauche." Er lächelte aufmunternd. "Außerdem hat es dir diesmal tatsächlich geholfen, nicht wahr?"
"Ich würde es nur zu gern glauben... Aber da ist etwas, das mich zurückhält. Dieses Gear... Wie auch immer... Wenigstens ist Elly jetzt in Sicherheit."
Citan blickte auf die junge Frau hinab. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig, der Ausdruck auf ihrem Gesicht war geradezu friedlich. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung geriet in ihre Glieder, leise ächzend tastete sie über den Boden, als versuche sie, irgendwo Halt zu finden.
"Sie scheint zu sich zu kommen," bemerkte Citan überflüssigerweise, analytisch wie immer, als sie schließlich die Augen öffnete und ihm direkt in die Augen blickte. Ein überraschter Laut entkam ihren Lippen und sie warf einen fragenden Blick auf Fei.
"Ich bin Citan," ergriff der Doktor sogleich das Wort, "Ein alter Freund von Fei. Du bist gerade noch davongekommen. Du kannst von Glück sagen, dass Fei so schnell reagiert hat. Wenn er nicht geholfen hätte, ich möchte gar nicht daran denken, wie die Sache hätte ausgehen können. Obwohl ich nicht allzu begeistert war von seiner Übereiltheit, einen Rankar mit bloßen Fäusten erlegen zu wollen."
Ihre Augen weiteten sich. "Mit bloßen Fäusten...?"
"Nun, ich bin jedenfalls froh, dass ihr einen Nutzen dafür gefunden habt, was ich euch gebracht habe," setzte er unbeirrt fort.
Sie richtete sich auf und folgte seinem Blick, als sie den gewaltigen Schatten bemerkte, der ein Stück hinter ihr aufragte. Sie erstarrte und blickte ihn entgeistert an. "Was..." begann sie.
"Sagen wir einfach, wir leihen uns das aus, was die Kislev-Armee zurückgelassen hat..." entgegnete er ruhig.
"Oh..." Sie wollte ihren Augen kaum trauen. Was hier stolz und aufrecht auf der Lichtung stand, war eben jenes Gear, das sie bereits verloren geglaubt hatte. Und doch, mit einemmal fühlte sie sich, als hätte sie kein Anrecht mehr auf die Maschine, nicht etwa weil sie Kislevs Truppen entwendet worden war, es war ein viel unbestimmteres Gefühl, so als fühlte sie sich mitschuldig daran, was dieses Gear an Zerstörung und Leid über Lahan gebracht hatte. Dennoch war es dieses Gear, das sie vor den messerscharfen Reißzähnen des Rankars bewahrt hatte?
"Danke, Fei," wandte sie sich an ihn, "Das war das zweite Mal..."
"Nicht der Rede wert." Er grinste. "Ich setz es einfach auf deine Liste." Sie konnte nicht anders, sie musste bei der Bemerkung einfach lachen. Während der vergangenen Tage hatte sie beinahe vergessen, was für ein Gefühl das war. Und innerlich war sie auch froh, dass Fei, zumindest rein äußerlich, endlich seine Niedergeschlagenheit überwunden hatte, was jedoch nichts an den nagenden Gewissensbissen änderte, die sie angesichts ihrer scharfen Reaktion vorhin empfand. Sie nahm sich vor, es wieder gut zu machen.
"Es wird bald dunkel," ließ sich Citan vernehmen. "Es hat keinen Sinn, heute noch weiter zu gehen. Ich würde vorschlagen, wir machen hier Rast und brechen morgen früh zum Waldrand auf. Soweit ich auf dem Weg hierher erkennen konnte, sind es nur noch ein paar Wegstunden. Ihr seht beide müde aus und ich kann die Zeit nutzen, um unseren Freund hier instand zu setzen," fügte er mit einer Geste auf das schwarze Gear hinzu.
Die Sonne begann bereits hinter den Wipfeln zu versinken und blinzelte nur hier und da noch vereinzelt durch die dichten Baumkronen ringsum. Die Schatten wurden länger und das Licht schwand sehr bald und die Lichtung wurde in samtenes Dämmerlicht gehüllt. Es dauerte nicht lang, bis Fei erschöpft von den Ereignissen des Tages einschlief.

Die Nacht war friedlich und still, unterbrochen nur vom eintönigen Lied der Grillen und gelegentlichen metallischen Geräuschen, die von einem riesenhaften menschenähnlichen Schatten herrührten, der bewegungslos am Rand der freien mondbeschienenen Fläche Wache hielt.
"Es hat keinen Zweck," murmelte Citan leise vor sich hin, "Das Kniegelenk und der Bypass-Schaltkreis sind beide beschädigt. Das Gelenk lässt sich reparieren, aber der Schaltkreis macht mir Sorgen... Ohne Ersatzteile wird nichts daran zu machen sein."
Er seufzte, knipste die Arbeitslampe aus und kletterte die Stahlkonstruktion hinab. Unten angekommen bemerkte er Elly, die das Gear nachdenklich beobachtete. Er verstaute Lampe und Werkzeug in der Landkrabbe und schritt auf sie zu.
"Oh, hast du Probleme, hier einzuschlafen?" fragte er.
"Ja..." antwortete sie abwesend.
"Das dachte ich mir. Du hast einen ereignisreichen Tag hinter dir. Das ist die Maschine, die Fei steuerte, als das Dorf angegriffen wurde," erläuterte er und deutete auf den stummen Giganten, der im milchigen Mondlicht gespenstisch gen Himmel aufragte. "Das Gear befand sich verlassen am Rand des Dorfes." Sein Tonfall änderte sich plötzlich, als er in ihre Sprache überwechselte. "Es war deines, nicht wahr?" flüsterte er.
Sie blickte ihn erschrocken an. "Genau wie ich dachte...," fuhr er, jetzt wieder in der Sprache Ignas', fort. "Der verschwundene Pilot des notgelandeten Gears... und die mysteriöse Frau, die allein im Wald herumirrte... sind tatsächlich ein und dieselbe Person. Wenn ich mir deine Uniform ansehe, würde ich außerdem sagen, dass du zum Militär gehörst... Hab ich recht?"
"Woher... Wer bist du?" fragte sie unsicher. Sie war verwirrt; die Art, wie er sprach, wirkte nicht bedrohlich, erweckte nicht den Eindruck, als wolle er sie an Kislev ausliefern oder seinen eigenen Nutzen daraus ziehen, außerdem vertraute sie ihm, immerhin hatte er sie und Fei vor dem Rankar gerettet. Andererseits verfügte er über Kenntnisse, die selbst einer ihrer Leute nicht ohne mühselige Nachforschungen durchschaut hatte.
"Ich habe die Identitätsschilder der Soldaten überprüft, die in der Attacke auf Lahan ums Leben gekommen sind. Das Zeichen auf deiner Uniform ist identisch."
Ein frostiger Schauer durchfuhr sie. Hatten ihre Kameraden es also nicht geschafft, rechtzeitig zu entkommen.
"Mach dir keine Sorgen," setzte er fort, als hätte er ihre Gedanken erraten, "Sie haben alle ein ordentliches Begräbnis erhalten. Allerdings werden sie nicht allzu erfreut gewesen sein, in einem fremden Land zu sterben."
"...vielleicht," antwortete sie unbestimmt, immer noch nicht sicher, was sie von der ganzen Sache halten sollte.
"Weiß Fei von dir?" fragte er.
"Ich glaube nicht, dass er es bisher bemerkt hat," erwiderte sie.
"Höchstwahrscheinlich nicht..." meinte Citan nachdenklich, "Fei weiß kaum etwas über die Welt außerhalb von Lahan."
"Verstehe... Woher also..."
"In jedem Fall halte ich es für besser, wenn wir nicht mehr in unser gegenseitiger Vergangenheit wühlen."
"Aber..."
"Sagen wir einfach, ich weiß mehr über die Welt bescheid, als die meisten," antwortete er schlicht, "Jedenfalls möchte ich dich um einen Gefallen bitten, Elly."
"...Was für einen Gefallen?" fragte sie vorsichtig.
"Halte dich einfach weiter an den Weg geradeaus. Du wirst dann auf eine Straße stoßen, der du einfach nur weiter nach Westen zu folgen brauchst... Würdest du uns bitte verlassen, bevor Fei aufwacht?"
"Was?" Sie erkannte nicht ganz den Sinn hinter dieser Bitte.
"Unglückliche Dinge geschehen um Fei herum," erklärte er ernst, "Ich möchte versuchen, ihn wenn möglich zu beschützen... Ich will nicht, dass er unnötigerweise in irgendwelche sinnlosen Konflikte hineingezogen wird. Ich sage das auch um deinetwillen, Elly. Du gehörst nicht hierher. Geh zurück zu deiner Familie."
"Aber... Ich..." Wie sollte sie ihm nur klarmachen, weshalb sie nicht gehen konnte, jedenfalls nicht sofort?
"Mach dir keine Sorgen," beschwichtigte Citan, der ihr Zögern falsch interpretierte, "Ich werde Fei nicht erzählen, wer du wirklich bist. Ich werde ihm einfach erzählen, dass du zurück zu deiner Familie gegangen bist."
"Das ist es nicht," erwiderte sie, "Ich habe etwas Schreckliches getan... Deshalb... wollte ich mich entschuldigen."
"Etwas Schreckliches?"
"Fei behauptete, es sei unsere Schuld gewesen, dass das Dorf zerstört wurde. Er sagte die ganze Zeit nur... wenn nur 'sie' nicht gekommen wären... Daraufhin nannte ich ihn einen Feigling, weil er versuchte, der Verantwortung zu entkommen... Aber in Wahrheit war ich es selbst, der versuchte, die Schuld nicht auf sich nehmen zu müssen... Wenn ich nicht dort abgestürzt wäre, würden sie jetzt alle noch in Frieden leben. All diese Leute wären nicht in diese Tragödie verwickelt worden. Doch ich gab Fei die Schuld..."
Citan sah sie lange und nachdenklich an. Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein. Er hatte bereits zuvor bemerkt, dass sie anders war, doch die Art und Weise, wie sehr sie sich das Schicksal eines Surface Dwellers zu Herzen nahm...
"Du bist eine Seltenheit, weißt du das?" sagte er schließlich. "Ich hätte nicht gedacht, dass einer von euch jemals so denken würde. Für euch sind die Surface Dweller doch nichts weiter, als zahme Nutztiere, oder etwa nicht?"
"Die Shepherds, Abel, übernahmen die Kontrolle über die Surface Dweller, Lambs," zitierte sie leise, "Sie besitzen das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, wie sie es für richtig erachten."
"Exakt," antwortete er, "Dennoch scheinst du dich Fei und den Dorfbewohnern gegenüber verantwortlich zu fühlen. Weshalb?"
"Ich bin mir selbst nicht sicher," überlegte sie, "Bei 'Jugend' erzählte man uns, die Surface Dweller seien nieder und primitiv... Und dass wir sie deshalb beherrschen müssten, zu ihrem eigenen Schutz... Aber..."
"Aber als du Fei getroffen hattest, hat dich etwas an ihm verunsichert, ob das tatsächlich der Wahrheit entspricht?"
"Ja," gab sie zu, "Er ist nicht anders, als wir selbst... Im Gegenteil, in gewisser Weise scheint er uns überlegen zu sein. Er besitzt etwas... Etwas, das uns fehlt. Er hat selbst sein Leben für mich riskiert... zweimal."
"Die meisten eurer Leute würden so etwas als Erniedrigung ansehen. Und dennoch bist du Fei dankbar?"
"Vielleicht ist es wegen meinem Vater. Er war gegenüber Surface Dwellern immer sehr aufgeschlossen. Unser Kindermädchen war ein Surface Dweller... Auch wenn niemand davon wusste. Davon abgesehen... bin ich genauso wie Fei..."
"Genauso?" Er sah sie fragend an.
"Nein, nicht weiter wichtig," entgegnete sie, "Mach dir keine Gedanken darüber."
Er nickte zustimmend. "Ich verstehe. Tut mir leid, wo ich doch gerade selbst sagte, wir sollten nicht in unserer Vergangenheit forschen. Es liegt einfach in meiner Natur, weißt du? Meine Frau sagt immer, ich bin zu aufdringlich und rede zuviel, auch wenn ich persönlich da anderer Meinung bin." Er hielt kurz inne, um den Faden wieder aufzunehmen. "Nun, in jedem Fall ist es wahrscheinlich das Beste, wenn du in dein Heimatland zurückkehrst. Du solltest wirklich nicht hier sein."
"Ich werde ins Hauptquartier zurückkehren...", entgegnete sie leise, "Aber was dann?"
"Du bist besorgt..." Es war eine reine Feststellung.
"Ja...", antwortete sie zögernd. Sie wusste nicht, was sie derartig aus der Bahn geworfen hatte, doch etwas in ihr hatte sich verändert, tief in ihrem innersten Selbst war eine Reaktion auf ihre Begegnung mit dem Surface Dweller erfolgt.
"Sich Sorgen zu machen ist nur natürlich", erwiderte der Doktor. "Es gab eine Zeit, da selbst ich mich gesorgt hatte."
"Ach, Citan." Sie wünschte, sie könnte zuversichtlicher sein, könnte dem Rat seiner ruhigen optimistischen Stimme folgen. Im Grunde genommen konnte sie ohnehin nichts tun, als ihren Weg zu gehen und abzuwarten, wie es weitergehen würde, wenn sie erst einmal wieder im Hauptquartier zurück wäre.
"Jedenfalls, überlass die Sache mit Fei mir", schloss Citan, "ich werde überlegen, was ich ihm am Besten sage." Er blickte in den klaren Nachthimmel hinauf. Die kalte silbrige Scheibe des Mondes kletterte langsam dem Horizont hinter den dunklen Wipfeln des Waldes entgegen und kündigte den nur noch wenige Stunden entfernten Anbruch des Morgens an. "Du solltest jetzt besser gehen..."
Elly war dankbar für die Art und Weise, wie er die Aufforderung eher als gut gemeinten Ratschlag erscheinen ließ denn als eine abweisende Geste. Sie erhob sich und nickte ihm zu. Es gab nichts mehr, was noch hätte gesagt werden müssen. Mit einem letzten entschuldigenden Blick auf Fei, der zusammengerollt, ins weiche Gras im illusionären schützenden Schatten eines uralten vermodernden Baumstammes gekuschelt, friedlich schlief, wandte sie sich ab und schritt auf den an jener Stelle etwas schmäleren Pfad zu, auf den Weg hinaus aus dem Wald, hinaus in eine ungewisse Zukunft.
Citan sah ihr nach, bis sie mit der Dunkelheit zwischen den mächtigen Stämmen verschmolz, die den Weg jenseits der Lichtung, jener einsamen Insel des Lichts in diesem Forst der Nacht, beiderseits säumten wie eine undurchdringliche Mauer, und vom Schlund der Finsternis aufgenommen wurde. Noch lange nachdem er sich selbst in das vom Kampf niedergetrampelte hohe Gras gebettet hatte, um doch noch etwas Schlaf zu finden, ging ihm nicht aus dem Kopf, was sie gesagt hatte. Im Grunde genommen waren die Surface Dweller nicht so verschieden von ihrem Volk. Ihre Worte hatten ihm einen Stich mitten ins Herz versetzt, hatten in ihm eine Erinnerung hervorgerufen an seine eigenen verlorenen Ideale. Es war jene Anschauung, die er so lange vermisst, die er so verzweifelt gesucht hatte, damals...
Er hüllte sich fester in seinen Mantel, um die kühle Nachtluft fernzuhalten und wälzte sich auf die andere Seite. Es hatte keinen Zweck, die verbleibenden Stunden damit zu verbringen, über gescheitertes Streben zu grübeln, er musste die Zeit nutzen, etwas Ruhe zu finden. Der Weg würde von nun an bestimmt nicht einfacher werden, wenn sie einmal den Wald verlassen hatten. Ihre Reise hatte gerade erst begonnen...