Jermaine Clayton

Meine Unterhaltung mit Strauß verlief so ziemlich wie immer. Man sprach über dies und das, aber tiefgreifender wurde es in der Regel nicht. Er war ein Tremere und hütete seine Geheimnisse. Für mich – meines Zeichens Toreador – gab es da kein Herankommen. Die einzige wirklich interessante Information war, dass eine Tremere aus seinen Reihen den Menschen auf einem Campus ganz schön zugesetzt hatte – und er auf diese Frau hohe Stücke gesetzt hatte und nun den Kopf für ihre Untat hinhalten musste, welche man mit einem Wort zusammenfassen konnte: Maskeradebruch. Und zwar einer der delikaten Sorte. Und wahrscheinlich erzählte er mir das auch nur, weil ich es ohnehin irgendwann erfahren hätte oder er so wütend darüber war. Ich sparte mir Sätze wie „Na, Strauß – hast du deine Leute nicht unter Kontrolle?“, denn ich konnte den man sehr gut nachvollziehen. Erstens konnte man nun wirklich nicht zu jederzeit auf jedermann ein behütendes Auge haben, zweitens wollte ich nicht als vampirische Zicke rüberkommen. Ein solcher Ausspruch wäre einfach zu freundschaftlich gewesen. Ein Zustand, der auf uns nicht passte. Wir waren einfach nur Bekannte, die ab und an miteinander redeten. Während er sich also mit Informationen zurückhielt, versuchte er mich über mein neugeborenes Küken auszuquetschen und redete mir obendrei noch ins Gewissen. Ob das denn so gut sei, wo bereits zwei von mir erschaffene Kainskinder den Freitod gewählt hatten, ob ich mir sicher sei, dass Ethan das Leben als Vampir ertragen konnte... dies, noch weiteres und der Gedanke an eine wohl bald aufgehende Sonne verleiteten mich schließlich dazu, mich zu verabschieden und nach Hause zu gehen. Wenigstens wohnte Strauß nicht allzu weit von mir entfernt, also konnte ich zu Fuß gehen und sparte mir das Geld für ein Taxi.
Warum immer Taxifahren? Nun, ich besitze keinen Führerschein. Ich bin nie in den Genuss gekommen, selbst hinter einem Steuerrad zu sitzen. Damals, als das erste Auto mit Gas das Fahren gelernt hatte, habe ich mir gewiss keines leisten können. Und auch später waren Automobile eher noch den Reichen zugekommen. Es war schon eine Attraktion und ein Zeitpunkt des Schmachtens, einen solchen „Kasten“ sich einfach fortbewegen zu sehen, doch mit der Zeit verlor ich das Interesse daran. Ob mein wunderschöner Ethan wohl Autofahren konnte? Ich konnte ihn ja mal fragen und ihn mit einem kleinen Geschenk überraschen... das Geld, einen Wagen zu kaufen, besaß ich zwischenzeitlich. Und es war eine Möglichkeit, ihm eine kleine Freude zu bereiten.
Plötzlich sah ich eine Gestalt durch die Dunkelheit wandern. Ich sah sie, sie selbst mich aber nicht. Und ich wusste, dass es Ethan war. Und als mich die Erkenntnis überströmte, dass er gar so lange mit Jeanette zusammen gewesen war, wurde ich etwas wütend. Diese Wut war – wie ich selbst wusste – vollkommen unberechtigt. Er musste eigene Erfahrungen machen, um überleben zu können, er musste die Clans und Sekten kennen lernen, damit er später nicht sagen würde, ich hätte ihn in seiner Meinungsfreiheit beschnitten. Leise schlich ich auf den jungen Mann zu, der den Weg zu meinem Appartement schlenderte. Als ich direkt hinter ihm stand und er mich immer noch nicht bemerkte, kam mir eine Idee.
Ich brüllte laut und packte ihn von hinten bei den Schultern. Und er brüllte mit, schrie vor Angst laut auf. Augenblicklich ließ ich von ihm ab und lachte. Und als mir der Gedanke kam, dass der Vampir aussah, als war ihm das Herz stehen geblieben, lachte ich nur noch lauter über meinen eigenen, unausgesprochenen Witz.
„Du hast mich erschreckt!“, rief Ethan ein wenig gereizt.
„Das war ja auch Sinn der Sache, falls dir das entgangen sein sollte“, grinste ich ihn an. Sofort aber nahm mein Gesicht wieder normale Züge an und ich wechselte abrupt das Thema: „Kannst du Autofahren?“
Ethan sah mich irritiert an. „Ähm, ja... aber – was tut das denn jetzt zur Sache?“
„Ich wollte es nur gerne wissen. Und nun lass’ uns nach oben gehen. Wir haben noch eine gute Stunde, dann geht die Sonne auf.“
Ich war nicht immer so gut drauf. Meist war ich weder lustig noch in irgendeiner Weise originell oder kreativ. Die Toreador selbst hielten sich für einen Clan, der eine ganze Menge mit Kunst zu schaffen hatte, aber ich machte mir da nichts vor. Viele Toreador wussten nicht einmal, wie man einen Pinsel oder Geigenstock oder sonst etwas hielt. Sie nannten sich trotzdem Künstler. Anderen nannten sie „Poseure“. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich hatte nie viel mit Kunst am Hut. Ich hörte sie mir gerne an, aber selbst erschaffen konnte und wollte ich sie gar nicht.
Das war nun nebensächlich. Der heutige Abend hatte mich ausgelaugt und mein toter Körper verlangte nichts dringender, als dass ich mich sofort ins Bett legte. Genau: Ins Bett. Die meisten mochten ja immer noch auf ihre Särge bestehen, das will ich ihnen gar nicht absprechen, aber so ein Bett ist weitaus gemütlicher. Das Appartement in den Skylines gehörte mir, ich konnte damit machen, was ich wollte. Und ich machte damit auch, was ich wollte. In den beiden Schlafzimmern jedenfalls waren die Fenster entfernt worden. Einen Raum einfach abzudunkeln, kam mir unvorsichtig vor. Man konnte sterben und würde es nicht einmal bemerken.

„Wer ist Jack?“
„Hm?“ Ich war gerade einmal dazu gekommen, meine Schuhe ausziehen, als Ethan mit dieser Frage heraus platze. Na, das war doch super. Wenn er nämlich den Jack meinte, den ich nun im Kopf hatte, hatte er mit diesem Kerl ein Paradebeispiel eines Anarchen kennen gelernt. „Braune, längere Haare? Langer Bart? Slang?“
„Ja – du kennst ihn?“
„Natürlich. Wer tut das nicht. Seine Art und Weise mit anderen umzugehen ist legendär.“ Anstatt noch weiter von ihm zu reden, ging ich in den Wohnraum, setzte mich auf einen der drei weißen Ledersessel und nahm die Fernbedienung zur Hand, um das Fernsehgerät einzuschalten. Nachrichten gucken. War immer wieder interessant. Ethan folgte mir und blieb in der Tür stehen, als wusste er nun nicht, wie weiter.
„Wer ist er?“
Oha. Da hatten ja mal wieder ein paar Sabbat-Schläger ein kleines Unheil angerichtet. Tse, tse... hirnlos. Absolut bescheuert. Und die Sethskinder merkten nicht einmal, was sie waren. Und, nun, die meisten Anhänger der Sabbat waren leider Gottes Sterbliche. Und das machte die ganze Sache nur umso lächerlicher.
„Jack ist ein Anarch.“
„Anarch?“
Leiche am Pier gefunden. Grausam niedergemetzelt und an einen Laternenmast gehängt worden. Wie interessant...
„Die Camarilla ist ein Zusammenschluss von Vampiren, den man Sekte nennt. Die Anarchen sind ebenfalls ein Zusammenschluss von Vampiren, den man Sekte nennt.“ Ich schaltete den Fernseher aus. Die Zeit würde ich mir für meinen schönen Liebling nehmen können. „Die Camarilla und die Anarchen sind sozusagen Gegenspieler. Die Anarchen sagen, die Traditionen und all das sei die größte Scheiße. Die wollen ein bisschen mehr Freiheit. Ich kann nicht genau sagen, wer diese Leute ’anführt’ aber einen Vampir, der sich als Anführer bezeichnet, wird es wohl nicht geben. Dann hätten sie ja so was wie einen Prinzen. Und die sind bedacht darauf, dass sie alles genau anders machen, als die Camarilla. – Nein, ich will wirklich nicht schlecht von ihnen sprechen. Aber mit dem richtigen Prinzen finde ich das Camarilla-System durchaus passend.“
„Du magst den Prinzen nicht?“
„Junge, bilde dir deine eigene Meinung. Aber ich sage dir: Auch du wirst keine gute von ihm haben. Sag mal irgendwem, dass LaCroix auch nur einen Vampir unter sich hat, dem etwas an dem Prinzen liegt, und du wirst sofort als Spinner hingestellt. Klar, der Sheriff, der scheint große Stücke auf den zu halten. Aber der spricht auch nicht sondern steht immer nur dumm rum, erledigt die Drecksarbeit und guckt böse. Du wirst die beiden Herrschaften morgen kennen lernen. Du kennst die Traditionen ja nun. Der Prinz sieht L.A. als seine Domäne an. Und weil du hier in L.A. rumsaugst, hast du dich ihm natürlich vorzustellen.“
Das alles an Informationen musste er wohl erstmal verarbeiten – was ihn jedoch nicht davon abhielt, gleich die nächste Frage zu stellen.
„Warum haben sich meine Vorgänger das Leben genommen?“
„Ahr, scheiße. Ich wusste, dass das kommen würde.“ Es war ein offenes Geheimnis, dass meine beiden ersten Schützlinge sich das Leben genommen hatten. Und letztlich war es mir auch total egal, dass Ethan davon wusste. Nur wollte ich wirklich nicht darüber reden. Mit diesen zwei Kapiteln hatte ich abgeschlossen.
„Die Toten sind tot, Ethan. Merk dir das und sprich nicht über sie.“
„Aber...“
„Es ist genug. Ich will nichts mehr davon hören. Küken, das geht dich einfach nichts an, okay? Ich hab damit abgeschlossen.“
Die anderen beiden waren auch nur Küken gewesen, nicht mal derart Vampire, die man als neugeboren bezeichnete. Sie hatten sich weder Rang noch Namen gemacht, die anderen hätten sie vergessen können. Aber sie vergaßen sie nicht, denn – war das nicht eine schöne Art, einen alten Vampir aufzuziehen? Insbesondere Jeanette erwähnte es immer wieder gerne, um mich zu ärgern. Vielleicht sei ja mein Blut zu schwach, als dass ich gute Kinder schaffen konnte? Vielleicht sei ich ja einer der Dünnblütigen, und man hatte es nur nicht bemerkt? Zum Kotzen. Einfach nur zum Kotzen.