Ethan Knight

In dieser Nacht lernte ich, meinem Erschaffer besser Vertrauen zu schenken, wenn es um vampirische Dinge ging, von denen ich als Neugeborener noch gar nichts wissen konnte. In der Welt der Dunkelheit ist so gut wie nichts, wie es auf den ersten Blick hin scheint. So erging es auch mir mit Jeanette und ihrem angeborenen Wahnsinn. Heutzutage weiß ich, dass dieser Wahnsinn bei ihr tatsächlich lange nicht so zutage trat wie bei anderen Vertretern ihres Clans, aber bei den Malkavianern ist es nun mal so, dass dieser Wahnsinn die unterschiedlichsten Formen annehmen kann. Keiner ist genau so wie der andere, aber alle sind irgendwo wahnsinnig. Sie unterhalten sich mit Verkehrsschildern, sprechen in symbolischen Rätseln, sind extrem geistig verwirrt oder was auch immer. Aber in den Kreisen der Kainskinder heißt es auch Gerüchten zufolge, dass gerade die am verwirrtesten wirkenden Vertreter dieses Clans hochgradig intelligent sind, wenn man in der Lage ist, den Sinn ihrer wirren Worte zu erfassen. Bis heute allerdings habe ich noch niemals eine solche Erfahrung machen können und damals in besagter Nacht wusste ich von alledem fast gar nichts. Jermaine sagte mir, sie sei verrückt und ich zweifelte daran, so war es gewesen. Mein Lehrmeister hatte meine Sturheit schnell bemerkt und ging wortlos fort, nachdem ich törichterweise an seinen Worten zweifelte. Einerseits nehme ich ihm dies übel, da ich mir sofort ohne ihn verloren vorkam und Jeanette wie eine Katze blickte, die sich eine Maus zum Spielen eingefangen hatte. Andererseits aber war es vielleicht die Lektion, die ich zu dem Zeitpunkt brauchte. Meiner Vermutung nach hatte Jermaine dies aber nicht unbedingt nur aus pädagogischen Gründen getan, sondern vielmehr einfach deshalb, weil er keine Lust mehr hatte, sich weiterhin mit meinem Dickschädel zu befassen.
Wie dem auch sei, gleich nachdem er das Asylum verlassen hatte, bat mich die Malkavianerin, sie nach oben zu geleiten, um „die heißeste Nacht meines Lebens“ zu verbringen. Sie war attraktiv in meinen Augen, wenn auch etwas sehr bleich, aber ohne Zweifel anziehend. Dennoch fühlte ich mich unwohl und wäre am liebsten sofort gegangen, jedoch war an Flucht nicht zu denken. In dem Moment wusste ich, dass Jermaine Recht hatte und wünschte mir, er wäre geblieben. So folgte ich ihr mit dem Aufzug in den Privatbereich des Asylums.
Jeanette ist eine Frau, die es versteht, die Männer - Sterbliche wie Vampire gleichermaßen - um den Finger zu wickeln und sie das tun zu lassen, was sie will. Sie wirkt absichtlich naiv, um dann so zu manipulieren und sie spielt ihre Rolle verdammt gut. Im Laufe unserer Unterhaltung und den folgenden Stunden in der Nacht, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen möchte, bemerkte ich dies und auch ihren unterschwelligen Wahnsinn. Oder war es doch nur eine sehr kranke Phantasie? Ich war auf jeden Fall froh, als ich das Asylum wieder verlassen hatte und ärgerte mich, dass ich mich zunächst so von ihr hatte einwickeln lassen. Clayton hatte mich gewarnt, aber ich lief geradeaus in ihre Fänge. Ich war gespannt, was Jermaine zu der ganzen Geschichte sagen würde, wenn ich sie ihm erzählte. Wahrscheinlich würde er amüsiert zuhören und vielleicht danach den Besserwisser raushängen lassen, wobei ich mir bei letzterem nicht ganz so sicher war. Amüsieren würde es ihn aber auf jeden Fall, soweit ich ihn bis jetzt kannte. Die anfangs angepriesenen Geheimnisse von Jeanette waren nicht mehr als interessante Informationen gewesen. Ich hatte von ihr erfahren, dass ich bereits das dritte Kind von Jermaine war und dass sich beide Vorgänger scheinbar das Leben genommen hatten (schon eine merkwürdige Aussage, wenn man bedenkt, dass sie schon vorher tot waren). Schön und gut, aber mit mir hatte das nichts zu tun, denn ich sah bisher keine möglichen und nachvollziehbaren Gründe für eine solche Entscheidung. Mein Erschaffer hatte mich zwar in dieser Nacht irgendwo ins kalte Wasser fallen lassen, aber insgesamt gesehen nahm er sich alle Zeit für mich, um mir das nötige Wissen für das Dasein als Kreatur der Finsternis mitzugeben. Wenn er anders gewesen wäre, mich einfach erschaffen und verlassen hätte ohne Wissen darüber, was ich eigentlich war, dann wäre ich sicherlich über kurz oder lang des Lebens bzw. Unlebens müde geworden. Aber dies war nun einmal nicht der Fall und deshalb wusste ich nicht, warum die Information darüber ein so großes Geheimnis sein sollte. Ich würde Jermaine in nächster Zeit darauf ansprechen, dann erführe ich sicher auch genaueres über meine beiden „Vorgänger“ und die Beweggründe ihrer Entscheidung.
Eine kühle Brise wehte, der Himmel war bewölkt und erste Regentropfen fielen herab, so dass ich meinen langen schwarzen Ledermantel enger um mich zog, obwohl ich eigentlich keinerlei Kälte verspürte. Es war einfach ein Reflex aus dem früheren Leben gewesen, genau wie das tiefe Einatmen der frischen Luft, die so viel besser roch als die im Asylum. Auch, wenn Vampire nicht auf Sauerstoff angewiesen sind, so verfügen sie dennoch über einen Geruchssinn, sogar ausgeprägter als noch zu Lebzeiten. Mich überkam ein seltsames Verlangen, eine Art Hunger. Doch nicht nach Fast Food war mir zumute, ich erkannte dieses Gefühl sofort wieder, hatte ich es doch auch beim Erwachen in den Skyline Appartements verspürt. Mein Körper verlangte wieder nach Blut, nur dass mein Lehrmeister diesmal nicht anwesend war. Aber das war auch nicht von Belang, er hatte mir ausführlich gezeigt, wie es ging, also würde ich mir einfach ein Opfer suchen und in einer dunklen Gasse davon trinken. So schwer konnte das doch nicht sein, dachte sich meine Wenigkeit. Ich schaute mir also unter den Passanten auf der Straße ein Opfer aus, denn im Gegensatz zu Jermaine war meine Brieftasche leer und eine auf gewisse Dienstleistungen im körperlichen Bereich spezialisierte Dame konnte ich mir nicht leisten.
Stattdessen fand ich eine junge Frau, die sich in den Straßen Santa Monicas verlaufen hatte und versprach, ihr den Weg zu ihrem Hotel zu zeigen. Sie willigte ein und sofort verspürte ich den Drang, ihr zu erzählen, wie bescheuert sie war, einem wildfremden Mann in eine dunkle Gasse zu folgen. Sie konnte froh sein, dass ich nur ein wenig von ihr Trinken wollte, denn außer ein paar Kopfschmerzen und etwas Benommenheit aufgrund des Blutverlustes würde sie am nächsten Tag nichts mehr spüren. Ich setzte meinen Charme ein und lockte sie so in eine Gasse zwischen zwei hohen Häusern, wo sich keine weitere Menschenseele befand unter dem Vorwand, dass es sich um eine Abkürzung handele. Hatte ich schon erwähnt, dass ich es mit einem sehr naiven Exemplar zu tun hatte? Ich war sogar etwas erleichtert, als sie endlich anfing, skeptisch zu werden, aber da war es schon zu spät. Ich packte sie und rammte ihr meine Zähne in den Hals, bevor sie anfangen konnte zu schreien. Zum Glück war ich ein Naturtalent darin, denn sonst wäre ihr womöglich noch jemand zur Hilfe gekommen und ich hätte mein Bestes tun müssen, die Maskerade aufrecht zu erhalten. Ich trank, labte mich an ihrem schönen warmen Blut und spürte, wie ihr Körper langsam schwächer zu werden schien. Jedoch konnte ich einfach nicht aufhören, so schön war es. „Nur noch einen kleinen Schluck“, dachte ich mir immer und immer wieder. Nur um Haaresbreite kam die Frau mit dem Leben davon und mein Verdienst war dies nicht. Ein übernatürlich kräftiger Arm zog mich weg von ihr und riss mich herum, bevor er mich gegen die nächste Wand drückte.
„Nun mal sachte, du willst sie doch nicht umbringen oder gehörst du zu diesen Sabbat-Arschlöchern?“, sagte der andere Vampir, welcher mittellange braune Haare und einen langen Kinnbart hatte. Aber bevor ich überhaupt antworten konnte, hatte er mich schon gemustert, ließ mich los und sprach weiter, während sich seine harten Gesichtszüge entspannten.
„Ah, ich merk’ schon. Du bist ein Frischling... Haha. Pass gut auf beim Trinken, Kiddo. Du sollst die Opfer nicht töten, aber das sollte dein Erschaffer dir auch gesagt haben.“
Die Frau stand indessen reglos auf der Stelle und wirkte benommen, sie war für einige Zeit betäubt und bekam nichts von dieser ganzen Unterhaltung mit. Es ist bei Sterblichen glücklicherweise immer so, dass sie sich nicht an den Trinkvorgang erinnern, sonst wäre die Sache mit der Maskerade wirklich verdammt schwierig und unsere Art müsste ihre Opfer zwangsläufig töten, um Geheimhaltung zu wahren.
„Hat er auch“, antwortete ich und richtete mich auf. „Ich muss dir wohl für deine Hilfe danken, ich... wollte sie nicht töten.“
„Aber der Genuss war einfach so überwältigend, dass du nicht aufhören konntest, ich weiß, Küken. Nichts zu danken, ich bin Jack. Pass auf dich auf, Kleiner.“
„Ich bin Eth...“, setzte ich an, aber dieser Jack hatte sich bereits umgedreht und war einige Schritte gegangen, so dass ich den Satz nicht vollendete, scheinbar interessierte ihn das nicht.
Gerade wollte ich ebenfalls gehen, da fiel mein Blick auf diese benommene Frau, die bald wieder zu sich kommen würde und total hilflos wäre. Ihr Hotel war nicht einmal weit entfernt, so schob ich sie behutsam vorwärts und bemerkte, dass sie zwar immer noch nicht ansprechbar war, sich jedoch von mir führen ließ. Schwer zu sagen, ob ein normaler Sterblicher sie auch so ohne weiteres von der Stelle bewegen hätte können, aber mit Hilfe meiner übernatürlichen Kräfte war es kein Problem, dies zu tun und zudem noch so aussehen zu lassen, als würden wir gemeinsam einen Spaziergang machen. Na ja, zumindest für Leute, die nicht ganz genau hinsahen, wie es unter den Sethskindern oft der Fall ist. Vor ihrem Hotel angekommen – ich achtete darauf, von möglichst wenigen Menschen gesehen zu werden -, ließ ich sie dort etwas abseits stehen. So sollte sie gleich ihr Hotel sehen, wenn sie zu sich kam und ich konnte mein Gewissen damit beruhigen, dass sich nach mir nicht irgendein Vergewaltiger oder sonstiger Verbrecher auf ihren betäubten Körper gestürzt hatte.
Ich beschloss, dass ich für diese Nacht genug auf den Straßen von Los Angeles erlebt hatte und rief mir ein Taxi, um mich nach Downtown bringen zu lassen. Ich ging davon aus, dass ich nun bei Jermaine wohnte, immerhin war mein menschliches Selbst gestorben und somit konnte ich mein altes Appartement über dem Tauschhändlergeschäft in Santa Monica unmöglich weiter bewohnen. Hoffentlich war Clayton dort, ich fühlte mich verloren und wollte meinem Lehrer von meinem Missgeschick erzählen. Und außerdem interessierte mich, um wen es sich bei diesem Jack handelte.