Jermaine Clayton

Ich war überrascht. Bei manchen kam das Verstehen schneller, bei manchen nicht. Weiß Gott, der Bursche war nicht der erste, den ich zu einem Vampir gemacht hatte... um genau zu sein war er bereits mein drittes Kind. Die anderen zwei... nun, das würde ich dem Jungen nicht erzählen. Es war besser so. Hätte er gewusst, dass die beiden sich selbst das Leben genommen hatte, er wäre wahrscheinlich in Panik ausgebrochen. Vielleicht aber auch nicht. Er schien unberechenbar zu sein. Er verstand nicht im geringsten, was hier los war, glaubte nicht, was ihm wiederfahren, dass er nun ein Kind der Finsternis war. Aber dennoch trottete er neben mir her durch die nächtlichen Straßen Downtowns und ließ alles mit sich geschehen. Jeremias, das erste meiner Kinder, hatte eine ganze Nacht damit verplempert, sich dagegen zu sträuben, was aus ihm geworden war. Andreas hingegen hatte wenige Sekunden gebraucht und den Vampirismus zu akzeptieren. Aber sie beide hatten mich schnell ermüdet. Sie waren keine guten Kinder gewesen. Sie hatten sich nie für die Gabe bedankt, welche ich ihnen geschenkt hatte. In Ordnung, mein Erschaffer war von mir auch nicht unbedingt mit Danksagungen überschüttet worden. Entsprach scheinbar der Norm...
„Wie ist dein Name?“, wollte ich von dem Jungen wissen. Er antwortete nicht. Vielmehr schien er mit eigenen Gedanken beschäftigt, die seinem durstigen Körper sämtliche Fähigkeit zur Aufmerksamkeit abverlangten. Wie war es mir ergangen, als ich ein Vampir geworden war? Ich konnte mich kaum mehr daran erinnern. Meine Zeit als Küken war jedenfalls nicht von Freude geprägt gewesen oder sonderlichem Erfolg. Nicht mal, als mein Meister mich losgesagt hatte und ich in den Rang eines Neugeborenen aufgestiegen war, hatte ich die Hintergründe dieser ganzen Sache vollkommen erfassen können. Und nun war ich ein Ancilla. Außerdem... ah. Ein Sethskind. Genau das, was mein junger Schützling nun brauchte. Penner rannten überall hier herum, doch ihr Blut befriedigte nicht wirklich. Genauso gut hätte man sich von Ratten ernähren können... die Frau, die ich dort sah, verkaufte ihren Körper. Heute Nacht aber würde ihr Blut das Gut sein, dass ich erstehen wollte. Ich fasste den Jungen bei der Schulter und führte ihn zu ihr hinüber. Noch immer war er irgendwie abwesend.
„Oh, wen haben wir denn da. Möchtet ihr zwei vielleicht... aber das kostet dann mehr, wenn du verstehst“, richtete die Braunhaarige ihr Wort an mich. Ja, ja... Geldgeil bis zum Gehtnichtmehr. Aber immerhin gesund und frisch.
„Wie viel möchtest du denn haben?“, fragte ich und lächelte sie an. Wenn man uns – den Jungen und mich – sah, konnte man meinen, wir waren Brüder oder Freunde. Ich war im Alter von 28 Jahren gebissen worden und hatte nun seit 156 Jahren diese Gestalt erhalten. Das war einer der wenigen Vorteile am Vampirdasein. Man wurde und wurde nicht älter.
„Für euch beide? Sagen wir... 600 Dollar?“
„600 Dollar!“, keuchte ich. Dreistes Weib. Wie konnte sie nur erwarten, dass ich ihr so viel Geld bezahlen würde, nur damit mein junger Schützling zu Übungszwecken ein wenig an ihrem Hals knabbern konnte? Ein leises Grummeln von mir gebend zog ich meine Brieftasche aus der Hosentasche und zählte das Geld nach. 615, 25 Dollar hatte ich dabei. Gerade genug, sie bezahlen zu können. Als ich noch ein Mensch gewesen war, hatte ich mich nie mit so viel Geld auf die Straße getraut. Aber das hatte sich ja bereits erledigt... Mit bösem Blick überreichte ich ihr das Geld. Wenn sie ihre Kunden mit solch hohen Preisen immer kam, brauchte es sie nicht wundern, wenn einer von denen sie irgendwann umbrachte und das Geld wieder an sich nahm.
Die Dame hielt sich nah bei mir. Der Junge machte ihr mit seiner Apathie Angst. Augenrollend schlug ich ihm auf den Hinterkopf. Nicht zu doll, denn ich wollte ja auch nicht, dass ihm dabei die Augen aus dem Kopf fielen. Er aber scherte sich nicht darum, rieb sich mit einer Hand den Schädel und schlich weiter vor sich hin. Ich hatte bereits davon gehört, es aber nicht glauben wollen... manche Kainskinder sollten angeblich allein durch ihre Geburt einen seelischen, irreparablen Schaden erhalten haben.
Hätte ich nicht gewusst, dass es einen Gott nicht gab, ich hätte zu ihm gebetet, dass meinem dritten Kind ein solches Schicksal erspart blieb.
Die Gasse war dunkel und abgeschottet, von der Straße nicht einsehbar. Ein Obdachloser musste vertrieben werden, aber dann hatten wir unsere Ruhe. Und mehr als bereit wartete die Frau darauf, dass wir uns nahmen, wofür wir bezahlt hatten. Ich führte den Jungen also an sie heran und streichelte ihr anschließend durch das Haar, legte ihren Hals von Haaren frei und neigte ihren Kopf schief zur Seite. Alles weitere musste ich nicht erklären. Kaum hatte ich nämliche diese paar Bewegungen gemacht, stürzte das Küken sich bereits auf sie, vergrub seine Fänge in ihrem Hals und begann zu saugen. Ich ließ ihn gewähren, stand daneben und wartete ab. Die Prostituierte hatte nicht geschrieen. Alles war schnell und sauber vonstatten gegangen. Ich spitzte die Ohren und achtete auf ihren Herzschlag. Irgendjemand musste ja darauf aufpassen, dass der junge Vampir sie nicht tötete.
„Das reicht“, meinte ich, packte ihn und stieß ihn unsanft zurück, sodass seine spitzen Eckzähne ihren Hals verließen. Er warf den Kopf in den Nacken, atmete abgehackt und ruckte mit gegen die Mauern des Asylum. Das erste Mal Blut zu trinken... das war besser, als alles, was man in seinem Leben jemals erlebt hatte.
„Hat’s geschmeckt?“ Es war eine Frage, die keiner Antwort bedurfte. Und er antwortete auch nicht, sondern sah mich lange an.
„Wieso...“, setzte er dann an.
„... habe ich dich aufgehalten?“, beendete ich den Satz und setzte eine Lehrmeistermiene auf. „Nun. Die Sache ist folgende: Du darfst deine Opfer nicht töten. Nicht hier, denn das ist die Domäne eines Vampirs der Camarilla. Nennen wir es mal ein Maskerade-Gebiet.“ Und ich betete ihm die Sechs Traditionen runter: Die Maskerade, welche besagte, dass ein Vampir den Sterblichen sein wahres Wesen niemals zu enthüllen habe, da er – handelte er wider dieser Tradition – seine Blutrechte verlor. Die zweite Tradition, die Domäne, welche das Gebiet eines Vampirs seinen eigenen Belang nannte, und dass man einem Vampir in seiner Domäne Respekt zu zollen und sich niemals gegen sein Wort aufzulehnen hatte. Die dritte Tradition, die Nachkommenschaft, welche zum Gesetz machte, dass ein Vampir nur mit der Erlaubnis seines Ahnen einen anderen zeugen durfte, da ansonsten der Erschaffer und der Nachkomme erschlagen würden. Die vierte Tradition, die Rechenschaft, welche ein Küken zum Kind des Erschaffers machte, und dass es den Befehlen seines Erschaffers zu gehorchen hatte, da dieser die Sünden des Kükens trug, bis es auf sich selbst gestellt war. Die fünfte Tradition, die Gastfreundschaft, welche einen Vampir zu nichts erklärte, bis er sich dem vorgestellt hatte, der über die Domäne herrschte. Die sechste und letzte Tradition, die Vernichtung, die festlegte, dass ein Vampir einen anderen nicht zu vernichten hatte und dass nur ein Ahn eine Blutjagd ausrufen konnte.
Ja, das waren die sechs Tradition, die mir selbst einst von meinem Herrn vorgetragen worden waren. Ich hatte nicht sofort alles verstanden, hatte nachfragen müssen.
„Moment“, meinte mein Küken, „soll das heißen, ich muss dir gehorchen?“
„Natürlich“, erwiderte ich leichthin, „was dachtest denn du? Du bist mein Kind, ich dein Vater. Sag mal – hattest du keine Eltern oder was? Du weißt doch, wie so was abläuft. Ist doch scheißegal, ob deine Mutter dir sagt, dass du abwaschen sollst, oder ich von dir verlange, dass du den Dienstboten oder sonst was spielst.“ Oh-oh, war das da etwa Trotz in seinen Augen? Trotz war gar nicht gut. Es konnte negativ auf die Vater-Kind-Beziehung zwischen uns beiden wirken. „Wenn du Mist baust, dann muss ich den Kopf dafür hinhalten. Auch nicht gerade angenehm für mich, oder? Für beide Seiten gibt es Vorteile und Nachteile. Aber lass mich erst einmal zum Ende kommen. Dies ist die Domäne des Camarilla-Prinzen, dem du dich noch vorstellen solltest. Er ist ein Arschloch, aber das brauchst du ihn nicht wissen lassen. Jedenfalls solltest du hier keinen Menschen töten. Du kannst es gern tun, aber willst du dabei wirklich deine Menschlichkeit aufs Spiel setzen?“ Die Menschlichkeit, so erklärte ich, war ein wichtiger Bestandteil des Unlebens eines Toreador. Ein Vampir zu sein bedeutete weder Fluch noch Segen, doch gab es gewisse... Umstände, die unser Leben und das der anderen Kainskinder etwas erschwerten. Ich hätte jetzt mit Phantastereien anfangen können, von wegen ein Dämon hauste in seinem Körper und konnte jederzeit die Macht über ihn erlangen, was in Raserei ausartete. Ein Vampir zu werden veränderte einen, aber noch schrecklicher war die Vorstellung, nicht einmal mehr den eigenen, untoten Körper beherrschen zu können. Ein parasitäres Etwas nistete sich in unseren Körper ein; wir waren Wesen der Finsternis. Irgendeinen Haken musste es also daran geben, ein Vampir werden zu wollen. Dieses Etwas nannten wir schlichtweg „Das Tier“. Es war die einfachste und wohl treffendste Bezeichnung für das Wesen, dass die Abgründe unserer Seele beherrschte.
„Übrigens...“, machte ich weiter, „du musst für deine sterblichen Freunde und deine Familie tot sein. So lebt es sich leichter. Da gibt es kein ’Lebwohl, ich bin ein Vampir und kann mich nicht mehr mit euch blicken lassen’ oder so. Du musst einfach weg sein. Du kannst auch deinen eigenen Tod inszenieren, alles kein Ding, lässt sich einrichten – aber Hauptsache, deine Leute denken, du seiest tot. Nicht so tot, wie du es jetzt bist, sondern wirklich tot-tot. Alles klar?“
Er nickte.
„Schön, dann sag mir mal deinen Namen.“
Der Junge zögerte. Dann: „Ethan Knight.“
„Na endlich. Ich dachte schon, du würdest mir niemals sagen, wie du heißt. Ich hätte dich auch Küken nennen können, ist mir eigentlich völlig egal. Aber ich weiß ja selbst, dass man immer noch an bestimmten sterblichen, weltlichen Dingen hängt.“