"Möchtet Ihr nicht irgendwas essen?", fragte Anyala und zupfte an Kurenais Umhang. Diese erwiderte nichts. Eigentlich hatte sie keinen Hunger, nein. Sie hatte das Mädchen doch nur hierher bringen und wieder verschwinden wollen, mehr nicht. Und nun saß sie hier, umgeben von diesen ganzen Leuten, und hatte ein flaues Gefühl im Magen. Irgendetwas ging hier verdammt schief und der Frau war vollkommen klar, was dies war: Sie war mit einem Mädchen in einer Taverne in einer Stadt. Das konnte so nicht gehen. In Kurenais kleiner Welt gab es seit sehr langer Zeit nur Einsamkeit, nichts anderes. Immer hatte sie sich danach gesehnt, wieder unter die Leute zu kommen und ein normales Leben zu führen. Doch genau das war doch ihre Strafe, was tat sie also hier?
Zudem war sie dieses Stimmengewirr nicht gewohnt, es war defintiv zu laut hier drin. Am Liebsten wäre sie aufgestanden und einfach gegangen. Ihre Hände verkrampften sich, als die Wirtin sich vor sie stellte und argwöhnisch musterte. Leicht hob Kurenai den Kopf, dass ein Teil der daedrischen Maske im Licht aufblizte. Die Frau ihr gegenüber war einen kurzen Moment erschrocken, dann fragte sie gleichgültig: "Was möchtet Ihr?"
Gerade, als Kurenai für ein improvisiertes "Nichts" den Kopf schütteln wollte, begann Anyala zu sprechen: "Ein sooooo" - sie breitete die Arme aus - "großes Stück Brot und einen sooooo" - sie hob einen Arm nach oben, den anderen ließ sie sinken - "großen Krug cyrodiilischen Weinbrand - den Besten, den Ihr habt. - Ehm, natürlich nicht für mich. Mein Papa sagt immer, dass ich sowas noch nicht trinken darf. Und meine Mama meint das auch. Und sie haben ja Recht. Alles, was Eltern sagen, stimmt, oder? Ansonsten würde das ja auch nicht viel bringen. Außerdem weiß ich ja aus eigener Erfahrung, dass sowas nicht gut für mich ist. Vor einem Jahr durfte ich einen Schluck Sujamma trinken. Und wisst Ihr, wie eklig das geschmekt hat? Ich hab's gleich wieder..." Sie stockte. Kurenai hatte ihr eine Hand auf den Mund gelegt und schüttelte nun den Kopf, bevor der Endlosstrom an Worten aus Anyalas Mund die Wirtin - und auch die Stumme selbst - in den halben Wahnsinn trieben. Anyala verstand den Wink als ein "Na, soviel musst du nun aber wirklich nicht sagen" (war eigentlich als ein "Halt endlich die Klappe!" zu verstehen, aber Kurenai machte die freundliche Variante auch nicht aus, insoweit der Wink das gewünschte Ziel erreichte) und verstummte. Mit einem Kopfnicken gegenüber der Wirtin billigte Kurenai dennoch die Bestellung durch Anyala. Ein bissen essen, ein Schluck Alkohol. Das würde sicherlich ihre Seele beleben.
Während die beiden so da saßen, sah Kurenai sich ein wenig auf ihre unauffällige Art und Weise um. Sie hatte jede Person in diesem Raum in Blick, jedenfalls so lange ihr Blickfeld dies zuließ. Nun aber wollte sie sich auch darüber im Klaren werden, was sich hinter ihr abspielte. Vor kurzer Zeit war ein Mann hereingestürmt und hatte für Aufsehen gesorgt, war dann durch eine Tür gestürmt und nun hörte Kurenai leisen Kampfeslärm. Es sollte sie nicht interessieren, aber noch fühlte sie sich für Anyalas Sicherheit zuständig. Nur einen einzigen Mann in diesem Raum erkannte sie: Den Anführer der Morag Tong. Wie hieß der gleich noch? Sie wusste es nicht mehr. Es war auch nicht von Interesse. Was sie weitaus mehr zum Nachdenken brachte, war der Grund seines Hierseins. Genaue Fragestellung: Was machte er hier? Antwort: Es musste mit seiner Arbeit zu tun haben. So einfach setzte der sich doch nicht in eine Taverne und unterhielt sich mit seinen "Freunden". Den musste sie genau im Blick behalten, vielleicht würde seine Anwesenheit noch für Aufruhr sorgen. Kurenai war sich sicher, dass er sich in dieser Welt weitaus mehr Feinde als Freunde geschaffen hatte.
Plötzlich, ohne jegliche Vorwarnungen, stürmte eine große Gruppe Wachen die Taverne. Die Tavernengäste erschraken, vereinzelt ertönten verängstigte Schreie. Anyala grinste: "Toll, toll, toll! Hier passiert sonst nie was! Meinst du da ist jemand umgebracht worden, hm? Wow, wär das cool! Eine richtige, tote Leiche bei uns in Pelagiad! Wie sehen Leichen denn so aus? Ich habe noch nie eine gesehen! Aber vielleicht sehe ich ja heute eine!" Die Worte des Mädchens verwirrten Kurenai derart, dass sie gar nicht merkte, dass die Wachen jeden Tavernenbesucher unter die Lupe nahmen und eine sich sie als erstes Opfer ausgesucht hatte. Die Stumme war einfach fassungslos über solch ohne Vorbehalt ausgesprochene Worte. Das Kind war unschuldig und naiv. Für es bedeutete der Tod nicht viel, es hatte ihn längst noch nicht vor sich. Arglos, wie Kinder nun einmal waren, sprach es aus, was es dachte und machte sich keinen Kopf darum, wie andere darüber denken würden.
"Hey! Los, Kapuze runter und Maske ab! Zeigt Euer Gesicht!", knurrte die Wache plötzlich von der Seite und legte ihr mahnend eine Hand auf die Schulter. Gelassen drehte Kurenai sich zu dem Mann um, machte aber keinerlei Anstalten, ihr Gesicht zu enthüllen. Wieso sollte sie auch? Dieser Kerl hatte ihr rein gar nichts zu sagen, Wache hin oder her.
"Nun macht schon! Oder soll ich Euch Beine machen?" Das wird nicht nötig sein, dachte Kurenai, denn es wird eh nichts bringen. Greif' mich ruhig an, Freundchen. Du wirst dann schon sehen, was du davon hast. Dass die starke Hand des Gesetzes zu einem Großteil eher mit dem Wort "Korruption" zu bezeichnen war, war selbst der Stummen nichts Neues und so hatte sie nicht vor, sich dem Willen dieses Kleingeistes von Wache zu beugen. Finster und bedrohlich erschien sie in ihrer Rüstung, sah ihn nur an, die Schultern gestrafft, und schien ihn in gewisser Weise ein wenig einzuschüchtern. Aber er hatte ja seinen ganzen Kollegen bei sich, die würden der Frau schon die Meinung geigen, sollte sie ihn angreifen. Die friedliche Variante war ihm dennoch lieber. Er sprach Anyala an: "Wer ist sie? Sag' es mir, oder du wirst Ärger bekommen." Nein, sagte sich Kurenai in Gedanken, DU wirst Ärger bekommen, wenn du nicht endlich dein vorlautes Mundwerk hältst. Mach' mich bloß nicht wütend, das wird dir nicht gut bekommen. Mir ist es egal, wer du bist und welchen Stand du in dieser Gesellschaft einnimmst, ich kenne dich nicht, ich mag dich nicht. Und das wäre mir durchaus eine Rechtfertigung dafür, dir die Kehle durchzuschneiden. Gegen so viele Wachen konnte sie nichts tun, aber in diesem Falle blieb ihr immer noch die Flucht aus der Taverne. Also wieso zögern?
"Ich weiß es nicht", stotterte Anyala. Die Begeisterung war aus ihren Augen gewichen. Doch auch wenn bei ihr nun die Angst vorherrschte, war doch in ihrer Haltung ein gewisser Anteil Trotz erkennbar. "Ich kenne sie gar nicht. Erst seit heute. Sie hat mich hierher gebracht."
Nicht zu viel Reden, Anyala, nicht zu viel, ich bitte dich - nur dieses eine Mal!, beschwor Kurenai das Kind in Gedanken.
"Natürlich, und mein Bruder ist der Rattenfänger von Hameln", spottete die Wache, "jetzt sag' mir verdammt noch mal, wer sie ist!" Er ging auf Anyala zu, wollte sie an den Schultern packen, doch in genau jenem Moment blitzte etwas in seinem Gesichtsfeld auf und ehe er sich's versah, zuckte eine Ebenerzklinge in Richtung seines Halses, stoppte aber, bevor es zu einer direkten Berührung von Stahl und Fleisch kam. Fass' sie nicht an, dachte Kurenai, geh' am Besten. Geh', bevor ich die Nerven verliere. Ich bin das hier nicht gewohnt, den ganzen Trubel. Es macht mich nervös. So nervös, dass mir unter Umständen die Hand ausrutschen könnte.
"Nehmt die Waffe runter...", versuchte er es, nun sichtlich verängstigt, "nehmt sie runter. Wenn Ihr mich jetzt tötet, werdet Ihr das bereuen, glaubt mir. Kein Mord bleibt ungesühnt..." Wenn er nur gewusst hätte, wie vollkommen egal der Stummen seine Worte waren. Sie hatte die Hölle gesehen, lebte jeden Tag in ihr. Und nun sollte der erste Mensch, der normal und ohne jeden Argwohn mit ihr gesprochen hatte, von einer Wache in die Enge gedrängt werden. Sie konnte nicht zusehen. Zwei andere Wachen hatten sich zu ihnen gesellt, der Rest der Gruppe schien sie gar nicht zu beachten. Scheinbar hatten sie andere Dinge im Kopf. Nur was?
Kurenai hatte keine Chance. Ruckartig zog sie das Schwert zurück und versetzte der Wache einen Ellenbogenschlag ins Gesicht. Dieser fiel stöhnend zu Boden und hielt sich seine blutende, wahrscheinlich gebrochene Nase. Unter dem Umhang befand sich eine schwere Metallrüstung. Wenn man diese ins Gesicht bekam, dann sollte dies schon wehtun. Die beiden anderen Wachen zogen ihre Waffen. Während der eine versuchte, ihr den Kopf von den Schultern zu schlagen, ging der andere von unten vor und machte sich an einen Schlag mit dem Schwert direkt in die rechte Kniekehle. Geschickt blockierte sie den oberen Schwerthieb mit ihrer Waffe und trat dem anderen ins Gesicht. Er traf ihr Bein nur knapp, konnte aber dank der Rüstung nichts ausrichten. Idiotenpack. Aber sie wollte sie nicht töten. Das wäre zu viel Aufsehens. Außerdem... Anyala sollte keine Leiche sehen. Und sie sollte nicht sehen, wie die Frau, die sie hierher gebracht hatte und der sie vertraute, drei Menschen ohne mit der Wimper zu zucken ihres Lebens beraubte.