Als Joplaya sich vom Schlickschreiter aus bis zur Magiergilde durchgefragt hatte, und sie nun vor der Tür genau derer stand, fühlte sie nicht mehr das beschwingende Selbstvertrauen wie zuvor. Das letzte Mal, dass sie Malukhat gesehen hatte, war vor sehr vielen Jahren gewesen. In der Zwischenzeit hatte sich sehr viel getan. Und das meiste daran: Joplaya war erwachsen geworden. Sie war nicht mehr das kleine Kind, das sie einst gewesen war, und es war recht fraglich, ob ein Mann, der vielleicht zwei Wochen bei ihnen gelebt hatte, sich noch an sie erinnerte, wo sie sich doch allzu sehr verändert hatte. In Gedanken malte sie sich aus, wie sie vor dem großen Erzmagier stand und er sie beim Erkennen in die Arme schloss. Andererseits sah sie dann den verwirrten Blick vor sich, wie er die Frage in den Raum stellte, wer sie denn bitteschön sei und aus welchem Grund sie ohne Vormeldung zu ihm gekommen war. So oft hatte er in ihrem Kopf bereits gesagt, dass er Wichtigeres zu tun habe, als sich mit einer Fremden zu unterhalten, und dass sie doch bitte gehen solle. Ein schrecklicher Gedanke. Und… vielleicht hatte auch er sich verändert. Nein – vielleicht war der Mann, den sie suchte, nicht der Erzmagier Malukhat. Das würde verdammt peinlich werden für sie, wenn sie da vor einem Fremden stand und ihm zu erklären versuchte, dass das alles nur eine Verwechslung war und es ihr Leid täte. Joplaya war derart in Gedanken versunken, dass sie gar nicht merkte, wie sich die Tür öffnete und eine hochgewachsene Dunmerin mit strengen Gesichtszügen vor ihr erschien.
„Eine schöne Hauswand, nicht?“, fragte diese mit scheinbar immer grimmiger Miene und einem Unterton von Sarkasmus. Joplaya schreckte auf und sah der Frau direkt in die roten Augen. Dann kratzte sie sich am Hinterkopf.
„Ich wollte… ich meine… ich suche…“, stammelte sie und sah betont zur Seite.
„Was willst du?“ Die Dunmerin verschränkte die Arme vor der Brust und sah die junge Frau von oben herab an.
„Ich möchte gern mit dem Erzmagier sprechen…“
„Ist nicht da“, war die knappe Antwort, und die Frau drehte sich um, wieder in die Magiergilde zu gehen, als Joplaya sie am Arm packte.
„Ich bin eine Freundin von ihm!“, rief sie, und es kam ihr gleichsam wie eine Lüge vor. Der Gesichtsausdruck der Dunmerin blieb unverändert, als sie die Hand der anderen abschüttelte und eine Augenbraue hob.
„Der hat Freunde?“, meinte sie nach einer kurzen Pause missbilligend. „Wie konnte denn das passieren?“
Joplaya war überrascht, aber wenn dieser Mann wirklich Malukhat war, dann würde er sie schon erkennen. Momentan war er ja ohnehin nicht da, also konnte sie diese Frau hier ruhig ein wenig weiter hinters Licht führen. Später würde sie dem Erzmagier alles erklären, und er würde es verstehen und sie unterstützen – jedenfalls hoffte sie darauf. Die Frau, die aus der Magiergilde getreten war, sah nicht so aus, als war sie ein besonders großes Licht am Sternenhimmel der Magier. Das würde ihr schon keiner Übel nehmen. Sodann legte Joplaya einen Arm um die Schulter der Dunmerin und erklärte: „Genau. Er hat mich herbestellt. Wisst Ihr, dass er nicht da ist, verwundert mich nun doch, denn eigentlich hatten wir diesen Termin abgemacht. Vor einiger Zeit schon.“
„Wie lange ist das her?“ Das Misstrauen in der Stimme der strengen Dunmerin war nicht zu überhören und langsam begann Joplaya, nicht mehr zu wissen, wann sie etwas und was sagen sollte.
„Vor einer Woche?“
Die andere dachte angestrengt nach. Plötzlich wirbelte sie herum und schleuderte Joplaya von sich.
„Vor einer Woche ist der Erzmagier im Rotlichtviertel Surans gewesen! Er hatte es geheim halten wollen, aber ich habe es schnell herausgefunden. So eine seid Ihr also, junge Frau! Nein, tut mir Leid, solche wie Euch lasse ich hier nicht rein!“
Langsam wurde es Joplaya zu viel. Nun gut, sie hatte keine Ahnung gehabt, was Malukhat vor einer Woche getan hatte. Ein wenig entrüstet über die Tatsache, dass der Mann in derartigen Kreisen verkehrte, war sie schon, aber das war nun von eher nebensächlicher Natur. Sie musste in die Magiergilde. Sie musste ihn wieder sehen. Komme, was wolle. Es war scheints an der Zeit, mit der Wahrheit herauszurücken.
„Mein Name ist Joplaya. Ich kenne Malukhat von früher her. Er hat meinen Eltern, meinem Bruder und mir das Leben gerettet und ist dann verschwunden. Ich muss zu ihm!“ Sie hatte ihre Worte mit einer solchen Inbrunst ausgesprochen, dass die andere für einen kurzen Moment inne hielt. Zwar war in ihrem Gesicht nicht zu erkennen, wie sie dazu stand, aber immerhin hatte Joplaya sie so weit gebracht, dass sie sich die ganze Angelegenheit noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
„Ich bin Ranis Athrys, Gildenvorsteherin Balmoras“, begann die andere einen scheinbar längeren Vortrag und in Gedanken stöpselte Joplaya sich schon einmal die Ohren zu. Wahrscheinlich brauchte sie sowieso nur Ja und Amen zu sagen, wenn eine Frage an sie gerichtet wurde, was wohl nicht mal passieren würde. „Malukhat ist hier der Erzmagier. Und bei all meinem… Respekt… kann ich mir nicht vorstellen, dass er jemals irgendwem geholfen hat. Der Mann ist ein Idiot, und Ihr, junge Dame, solltet, wenn Ihr schon so dreist seid, einfach unangemeldet hier aufzutauchen und nach einem Gespräch mit einem gewissen Herrn zu bitten, der sowieso nicht da ist, eine andere Ausrede vorschieben, das zu bekommen, was Ihr wollt. Den Erzmagier kennen wir hier, und es ist einfach dämlich, sich als die durch ihn Gerettete in höchster Not auszugeben. Allerdings weiß ich es nicht Bestimmtheit. Bei Eurem Aussehen kann es gut möglich sein, dass er Euch vor irgendetwas gerettet hat, aber, mal ganz im Ernst: Seid Ihr wirklich so naiv zu glauben, er hätte es um Euretwillen und ohne den leisesten Hintergedanken getan?“
Damit knallte Ranis ihr die Tür vor der Nase zu. Eine wirklich freundliche Person, diese Gildenvorsteherin. Und einen richtig reizenden Charakter hatte die dazu… Tja, der Erzmagier war wohl doch nicht der lang gesuchte Malukhat. Über den würde man nie so gemein sprechen, und dazu gab es auch keinen Grund. Er war ein Held und kein Idiot. Trotzdem hatte Joplaya keine Bleibe.
„So ein Mist!“, schrie sie und trat mit voller Wucht gegen die Tür. Erst Sekunden später spürte sie den Schmerz, hob das schmerzende Bein, fasste sich an den Fuß und hüpfte fluchend im Kreise herum. Derweil hatte Ranis Athrys die Tür geöffnet und starrte nun auf diese Person, die direkt vor ihrer Gilde eine Schau abzog. Ob Malukhat eine Tochter hat?, fragte sie sich im Stillen, verwarf den Gedanken allerdings sofort wieder. So einer bekam keine Frau ab. Nun dachte sie noch einmal über den Vorfall nach. Es mochte besser sein, die Frau bis zur Rückkehr des Erzmagiers hier zu behalten. Wenn die da ihn nämlich vorher aufsuchte und erzählte, wie hier mit ihr verfahren worden war, würde Malukhat in einem Tobsuchtanfall erst das balmorsche Gildenhaus und dann Ranis auseinander nehmen.
„Kommt rein!“, rief sie der Dunkelelfin, die sich wieder gefasst hatte, aber mit immer noch verzerrtem Gesicht da stand und mindestens in Gedanken die wildesten Verwünschungen an ihren Fuß sandte.
Joplaya ließ sich dieses Angebot nicht zwei Mal sagen. Mit hoch erhobenem Kopf folgte sie Ranis Athrys einen Gang hinunter in den Aufenthaltsraum, wo sie von einer Orkin einen verächtlichen Blick auffing. So hob sie ihren Kopf noch ein Stück höher, damit ihr Blick noch einen Grad an Würde und Überheblichkeit zunahm und ihre Ausstrahlung zur vollen Geltung kam. Ja, das hier war schon interessant. Die würden, so lange Joplaya hier war, schon noch sehen, dass sie mehr drauf hatte als die alle zusammen!
Ranis führte ihre junge Begleiterin in das Arbeitszimmer Malukhats. Wie sollte man dieses umschreiben? Wie immer: Wirr auf dem Boden liegende Zetteleien, unbeschriftete Tränke und Kräuterbeutel, im Schrank und auf dem Sekretär Seelensteine jeder Größenordnung und ein vollkommen überfüllter und unaufgeräumter Schreibtisch.
„Das nenne ich mal einen Sinn für Ordnung…“, sagte Joplaya ironisch, als sie das Chaos erblickte, in dem Ranis zu wühlen begann. Als sie das, was sie gesucht hatte, unter einem Stapel alter Bücher fand, hellte sich ihre Miene bis zu dem Moment auf, in dem sie sich auf den hölzernen Stuhl mit Sitz- und Rückenfläche aus Kagouti-Leder fallen ließ. In ihrer Hand hielt sie zwei Zettel.
„Hier wird niemand umsonst verköstigt“, begann sie mit ihrer Erklärung und Joplaya konnte sich schon vorstellen, was als nächstes kam.
„Wie bitte?“, rief sie empört. „Ich soll arbeiten?!“
„Natürlich. Entweder Ihr tut was oder Ihr fliegt raus. Was ist Euch lieber?“
Na super… Also, da führte wohl kein Weg dran vorbei, auch wenn Joplaya der Gedanke nicht sonderlich gefiel. Wenigstens bis jetzt hätte sie doch wohl ein hochherrschaftlicher Gast in diesen Gemäuern sein müssen – und so sollte sie auch behandelt werden! Ein wenig Geld zu verdienen war ja, zugegebenermaßen, nicht schlecht, aber sich von dieser Ranis Athrys unterjochen lassen? Halleluja…
„Manchmal kommen Abenteurer und andere hierher, um sich Aufgaben zu holen. Dem Erzmagier wird gesagt, was so anfällt und was gebraucht wird, und er schreibt es auf. Natürlich hat er auch einige Dinge niedergeschrieben, die ihm selbst zugute kommen,“ Sie räusperte sich, „aber das hat dich nicht zu interessieren. Du vergibst nur Aufgaben, die auf diesen Zetteln stehen. Sharn gra’Muzgob wird dich einweisen.“
Als wenn sie gerufen worden wäre, kam die Orkin mit Namen Sharn gra’Muzgob, gehüllt in eine einfache, braune Robe, auch schon in den Raum und starrte Joplaya grimmig an. Zwischen ihren Lippen lugten zwei spitze Zähne hervor. Ein absichtlich hervorgerufener Effekt, der dazu diente, die Fremde ein wenig einzuschüchtern. Und, wie nicht anders erwartet, verfehlte er seine Wirkung. Joplaya sagte in gespielter Naivität: „Das muss aber eine schlimme Krankheit sein, wenn man seinen Mund einfach nicht mehr zubekommt…“ Die Orkin hatte die Kauleiste eines Höllenhundes geerbt. Ranis verbiss sich jeden Kommentar und hielt Sharn mit einem einzigen Blick davon zurück, ein Donnerwetter auf die junge Dunmerin herabsausen zu lassen. Joplaya nahm nur die Liste, verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und sagte, in der Tür stehend, noch einmal: „Ich brauche keine Einweisung. So einen Quatsch kann ich auch ohne jahrelanges Training machen. Ach, und… ich frag’ mich zum Zimmer des Erzmagiers durch. Ein anderer Raum ist meiner einfach nicht angemessen.“
Beim Hinausgehen reckte sie das Kinn vor.
„Noch so jemand“, beschwerte sich Sharn nach dem überdeutlichen Zuknallen der Tür.
„Mhm… und ich hatte gedacht, der Erzmagier sei ein einzigartiger Kunstfehler der Natur.“
„Er wird doch nicht etwa eine Tochter haben, oder?“
Die beiden Frauen sahen sich mit ausdruckslosen Augen an. Beide sahen das Bild Malukhats vor sich, wie er mit dem Erzmagister des Hauses Telvanni umgesprungen war. Dann sagten sie, kopfschüttelnd ob ihrer eigenen Gedanken: „Niemals.“

Joplaya hatte an der Tür gelauscht. Dabei hatte sie die Frage auffangen können, die mit offensichtlicher Überzeugung verneint worden war. Was die bloß gegen den Erzmagier haben?, fragte sie sich ernsthaft. Denen fehlte es an hinreichendem Respekt. Wenn sie ihnen den hätte einbläuen können, sie hätte es getan, aber momentan war sie erstens nicht in der Position, dies zu tun, und zweitens wusste sie nicht einmal, ob der Erzmagier die Person war, die sie vorzufinden gehofft hatte. Irgendwie wünschte sie sich, er würde niemals wieder über die Schwelle der balmorschen Magiergilde treten. Sie hatte eine leichte Aufgabe, Verköstigung und einen kostenlosen Schlafplatz. Sollte der Erzmagier sich als der falsche Malukhat herausstellen, dann hatte sie ein gewaltiges Problem. Nichts, was diese beiden Frauen, Ranis und Sharn, gesagt hatten, hatte dem Bild entsprochen, welches Joplaya sich von dem heldenhaften Ordinatoren gemacht hatte.
Als die Dunmerin bemerkte, dass sie beobachtet wurde, ging sie einmal quer durch den Raum und stellte sich an ein Fenster, von wo aus sie in die Wolken blickte.
Was Malukhat wohl gerade machte?
Und ob er in denselben Himmel blickte wie sie jetzt?