Sie war um Mitternacht zu ihm gegangen. Zu demjenigen, der einst zu ihren besten Freunden gehört hatte. Damals, als ihr Körper ein anderer war, als Resdayn noch nichts von einer Besatzung wusste, die 600 lange schmachvolle Jahre dauern würde. Damals: als die entscheidende Schlacht am Roten Berg stattfand. Und ihr eigener Name noch Nerevar Indoril gewesen war. Nicht Ninièl wie heute. Sie war zurückgekehrt in die Heimat und so, wie die Prophezeiung Azuras es vorausgesagt hatte, als Fremde. Jede einzelne der Prophezeiungen hatte sie erfüllt und mit jeder Erfüllung war ein Stück ihrer einstigen, ihrer uralten Seele zurückgekehrt in ihren Körper und mit ihr das Wissen. Das Wissen um das, was sie war, ist und sein wird. Und was zu tun war.
Einen alten Freund musste sie töten und damit von seinem eigenen Wahnsinn erlösen. Jenem Wahnsinn, an dem sie selbst nicht unschuldig war, wenngleich sie das nie beabsichtigt noch je vorausgeahnt hatte. Doch dieser Wahnsinn war eine Gefahr. Für ihr Volk, für ihr Land und sie musste ihn auch beenden. Sie war schuld gewesen und wusste mittlerweile, dass sie die Last der Schuld seit 600 Jahren auf ihren Schultern trug. Auch wenn ihre Seele nicht die ganze Zeit einen Körper besessen hatte, so war die Schuld doch geblieben und hatte nur gewartet. Auf sie.
Und sie hatte Dagoth Ur getroffen in seinem Domizil am roten Berg. Um Mitternacht. "Welch eine stimmige Zeit", hatte sie zugleich schmerzerfüllt und ironisch gedacht. Es war jene Stunde, in der etwas endete und etwas Neues begann. Vielleicht wäre Azuras Stunde, jene Stunde, die in milde Dämmerung gekleidet, einher ging, die bessere gewesen, aber sie hatte dennoch bewußt diese Zeit gewählt. Sie wollte es sich nicht leicht machen. Und sie hatte gesiegt. Sie hatte in diesem letzten Zweikampf gesiegt und somit endgültig für den Untergang des Sechsten Hauses, einst ebenso stolz und wertvoll wie die anderen Fürstenhäuser, gesorgt. Und so war der Sieg Niederlage zugleich. Triumph ging mit Verlust einher und Verlust mit Schmerz, der die Seele schier zerriss. Doch wusste sie gleichzeitig, dass er nun frei war. Frei, um in Frieden zu ruhen.

Später jubelten die Menschen ihr zu, übeschlugen sich vor Freundlichkeit und ... ja, und Glück, weil niemals mehr Peststürme vom Roten Berg über das Land wehen würden, um Tod und Verderben zu bringen. Sie hatte getan, weswegen sie zurückgerufen worden war. Seit nahezu vier Jahren lebte sie wieder in diesem Land und manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie in den verschiedensten Inkarnationen hier geweilt hatte. Das Gefühl, ihre wahre Heimat gefunden zu haben, hatte sie allerdings von jenem ersten Moment, als ihre Füße Seyda Neen vor eben diesen vier Jahren betreten hatten, gehabt. "Heimgekehrt", hatte sie gedacht. "Heimgekehrt, um für immer zu bleiben".

Was blieb nun noch zu tun? Das Land frei, die Fürstenhäuser endlich vereint, in Mournhold hatte sie ihre einstige Gattin ebenso töten müssen wie zuvor Daogth Ur. Auch sie ein Opfer des Wahnsinns. In ihrer Verwirrung hatte sie sogar einen weiteren Freund aus dem alten Kreis getötet: Sotha Sil, denjenigen, der sich eigentlich niemals für die Rolle eines Gottes interessiert hatte, sondern Wissenschaftler und Forscher bis zum Schluß geblieben war.

Die Kunde hatte sie dann dem letzten ihrer damaligen Freunde überbracht: Fürst Vivec, dem pragmatischen Mann, der dem Wahnsinn widerstanden hatte.

Solstheim hatte sie erforscht und dort einen Ehemann gefunden. Einen Mond namens Yairun's Moon nannte sie ihr Zuhause und Uvirith Manor mitsamt einer dazugehörigen großen Stadt war ein drittes "Daheim" geworden. Sie hatte wahrlich das Land zurückerobert.
Doch sie spürte deutlich, dass eine Ära zuende ging und wan immer ihr dieser Gedanke kam, zog sie sich in die Einsamkeit zurück, um zu weinen. Vier Jahre, vier lange Jahre und soviel war geschehen. Sie erinnerte sich an einen alten Freund namens Jarlaxle, welcher in Vivec, der Stadt, gestorben war. Sie hatte eine Freundin namens Elaida, die zur Zeit irgendwo in der Gegend von Khuul ihr "Unwesen" treiben musste.

Sie selbst aber wanderte langsam in der friedlichen Schönheit der Ufer des Amaya-Sees und grübelte. Hatte sie ausgedient? War ihre persönliche Rolle vom Schicksal besiegelt worden, nachdem sie getan hatte, was getan werden musste? Vielleicht sollte sie auf eine lange lange Reise gehen. Mal wieder schauen, was in Cyrodiil los war. Sie hatte Gerüchte gehört und Caius Cosades war sicher nicht umsonst abberufen worden aus Morrowind. Ja, sie würde verreisen, vielleicht ebenfalls vier Jahre, aber sie wusste: Eines Tages würde sie zurückkehren nach Morrowind. Denn schließlich hatte sie hier Festungen und Verpflichtungen. Doch es war nicht nur das. Es war ihre Heimat. Ihre geistige, seelische Heimat und niemand konnte seine Wurzeln verleugnen, ohne auf Dauer sich selbst zu zerbrechen.

Und langsam wanderte die schöne Dunmerin Ninièl weiter und verschwand am Horizont. Und hoch oben vom Himmel klang der einsame Schrei eines Klippenläufers, der für die nächste Zeit wußte, dass er sicher war vor ihrem Bogen oder ihren Feuerbällen.