Es war bereits helllichter Tag, aber Zareg schlief immer noch. Am Liebsten hätte Malukhat ihn am Kragen gepackt, heftig geschüttelt und dessen Gesicht mit einem Vorschlaghammer bearbeitet. Sie hatte so oder so schon sehr viel Zeit verloren und allem Anschein nach hatten sie insgesamt nicht mehr viel davon über. Insgesamt schien diese Aufgabe einer Art Wettlauf in nichts nachzustehen. Es gab keine vorgegebene Zeitbegrenzung, es kam schlichtweg darauf an, der schnellere zu sein. Aber Draven, Zareg und er hingen weit in dieser selbst gesetzten Frist zurück. Alle anderen Läufer würden ihrem Ziel bereits entgegen sehen, während die drei immer noch in Sadrith Mora fest hingen und die Startlinie knapp hinter ihnen lag. Zareg war schwer verwundet gewesen, in Ordnung, das konnte man ja noch verstehen – aber Malukhat erging es von seiner astralen Kraft her momentan auch nicht besser. Einige kleinere Zauber konnte er dank seines recht schnellen, erholsamen Schlafes wieder ausführen, aber so etwas wie gestern… Das dauerte schon noch einige Wochen, bevor er irgendeinen manaraubenden Zauber wie beispielsweise einen der gestrigen Art würde aus dem Ärmel schütteln können. Draven war also im Moment das stärkste Glied der Truppe, aber er war auch der Anführer. Also kam es erst einmal nur auf ihn an. Und auch er musste sich wahrscheinlich zwischenzeitlich fragen, ob diese Zeitverschwendung weniger mit einem Heilungsprozess als einem ungemütlichen Kaffeeklatsch zu tun hatte.
Malukhat, der bis eben noch an einem der Tische in dem Hauptraum der Taverne gesessen, ein Buch gelesen und gefrühstückt hatte, klappte den Einband zu und übergab ihn erst einmal den Wirt, damit dieser in bis zu seiner Rückkehr sicher würde verwahren können. Er hatte keine Lust, es in sein Zimmer zu bringen, Zareg wohl dabei auch noch zu wecken und sich dann genötigt zu fühlen, sich mit jenem zu unterhalten, ihn nach seinem Befinden zu fragen und vielleicht noch einen Heiltrank hervorzuholen. Eigentlich wollte er nur einmal seinen Kopf leer bekommen und – wenn auch nur für wenige Stunden – wieder der Malukhat sein, der er gewesen war, bevor er sich Draven und dem Telvanni-Meister aufgezwungen hatte. Es war zwar noch recht früh, vielleicht die zehnte Stunde nach Mitternacht, und draußen musste es eisig kalt sein, doch das genau war es, was er in diesem Moment brauchte. Ein wenig Abstand zu dem Geschehenen, ja, das wollte er. Am Liebsten hätte er sich klammheimlich davon gemacht, denn die Situation, in der sie steckten, machte einen wenig hoffnungsvollen Eindruck auf ihn. Die Vampire schienen eine Art Theater mit ihnen zu spielen. Allesamt hingen sie an den Fäden in Händen des unbekannten Puppenspielers, der sie handeln, denken und sprechen ließ wie es ihm gerade gefiel. Und das Beste an der ganzen Sache war immer noch, dass der Erzmagier und die anderen keine Ahnung hatten, was jener Puppenspieler für ein Schicksal für sie erdacht hatte. Es sah ganz danach aus, dass sie auf dieser Reise sterben würden. Es war falsch zu sagen, dass Malukhat noch ein junger Mann war, das ein oder andere Jahrhundert hatte er bereits auf dem Buckel und in ein paar Jahrzehnten würde man ihm das auch ansehen. Aber noch hatte er keine Lust zu sterben, er hatte noch so einiges vor und würde Ranis Athrys niemals den Rang des Erzmagiers überlassen, was einem unterschwelligen Hass seinerseits gegenüber dieser Frau zugrunde lag.
Er verließ die Taverne „Zum Torbogen“ und machte sich auf den Weg in Richtung des Zentrums der Zaubererstadt, in dem etliche Händler ihre Waren feilboten. Durch den Regen der letzten Tage war die Luft ein wenig wärmer als sonst, und er sog sie geradezu gierig in seine Lungen. Trotz allem war es immer noch recht kalt. Der Regen hatte sich im Laufe des frühen Morgens in Dunst verwandelt, der nun wie ein leichter Nebel über dem Boden hing. So schritt der Dunmer sinnend vor sich hin, betrachtete das rege Treiben um sich herum und liebäugelte mit einem kleinen Kuschelkaninchen aus Hanf mit Wollfütterung. Zwar kaufte er es sich nicht, aber anschauen sollte jawohl noch erlaubt sein.
Aus heiterem Himmel jedoch wurde er schließlich angerempelt. Beinahe wäre er zu Boden gefallen, so in Gedanken versunken war er gewesen. Sofort wirbelte herum, öffnete den Mund zu einer lauthalsen Beschimpfung gegenüber diesem Frevler – doch dann erkannte er den Dunmer. Den Mund allerdings klappte er nicht wieder zu, zusammen mit seinen Augen wurde er nur noch größer. Es war ein Aschländer. Um nicht zu sagen jener Aschländer, der Malukhats Vater öffentlich verleugnet hatte! Und dieser hatte ihn nun fast zu Boden geworfen – wahrscheinlich auch noch absichtlich! – und sah ihn nun aus wissenden und überlegenen Augen an. Da besann der Erzmagier sich seiner Würde, klappte letztlich doch noch den Mund zu und bemühte sich um einen betont desinteressierten und gleichgültigen Gesichtsausdruck.
„Ich kenne Euch, Aschländer, nur leider Lorkhans ist mir Euer Name entfallen“, sprach er zu dem Aschländer. Seine Worte waren höflich, höflicher als er sie unter normalen Umständen gewählt hätte, doch nun musste er doppelt und dreifach über jedes einzelne seiner Worte nachdenken. Aus dem geruhsamen Spaziergang war also wieder einmal nichts geworden. War ja zu erwarten gewesen, so aufreibend hatten die letzten zwei Tage ausgesehen.
„Und ich kenne dich, kleiner Mann“, antwortete der Aschländer und seine Worte zeugten davon, dass er Malukhat das letzte Mal gesehen hatte, als dieser noch ein Kind von vielleicht vierzehn Wintern gewesen war.
„Was tut Ihr hier in Sadrith Mora? Euer Gebiet liegt doch auf dem Festland.“ Natürlich gab es einige Aschländer, die sich einen festen Wohnsitz in größeren Stätten zugelegt, somit also ihren Clan hinter sich zurück gelassen hatten, doch hatte der Erzmagier diesen Dunmer hier anders in Erinnerung. Er war immer sehr stolz auf seine Herkunft gewesen, hatte sich überlegen gegenüber der offensichtlichen Zivilisation gebärdet. Malukhat hatte schon immer gefunden, dass die Aschländer sich dem Fortschritt anpassen sollten, aber sie waren nun einmal viel zu stolz. Aber eben immer noch eine sehr primitive Gruppe.
„Nun, ich wollte mich ein wenig hier umsehen. Ich hörte, wie du in der Taverne mit dem Bretonen darüber sprachst, zu einem der Aschländer-Lager zu ziehen und dort Fragen auf deine Antworten bekommen.“
„Eigentlich wollte ich eher Antworten auf meine Fragen. Fragen habe ich nämlich genug, jedoch fehlen mir die Antworten immer noch.“ Der Aschländer war alt und zerstreut geworden. Als Malukhat ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er noch ein stattlicher junger Mann von höchstens siebzig Wintern gewesen, doch nun konnte man dessen Alter an den ergrauten, schütter gewordenen Haaren nur sehr schwer verkennen.
„Genau. Stimmt“, entgegnete der Aschländer und legte seine ohnehin faltige Stirn in noch mehr nachdenkliche Falten. „Ich habe dich auch nur testen wollen, ob du das verstehst oder vielleicht ein wenig verwirrt bist, aber du hast dich gut gemacht. Ein wirklich intelligenter Mann bist du geworden – aber in anderer Hinsicht wieder vollkommen dumm.“
Die Worte des Dunmers trafen den Erzmagier hart und schürten das Feuer der Wut in ihm. Man musste nicht unbedingt intelligent sein, um zu wissen, dass man sich nicht in einer Rate-Schau befand, in der es darum ging, Antworten den richtigen Fragen zuzuordnen. Außerdem hatte er ein ernsthaftes Problem, welches wohl in keinster Weise als Dummheit zu bezeichnen wäre. Doch auch jetzt noch konnte er sich zügeln.
„Und in welcher Hinsicht bin ich ’dumm’“
„Kein Aschländerstamm wird euch die Antworten geben, die ihr haben wollt. Insbesondere nicht dann, wenn du dabei bist. Die Ältesten haben dich verzogenes Gör noch in sehr lebhafter Erinnerung; so wie ich zum Beispiel.“
Das reichte. Verzogenes Gör! Seine Mutter hatte ihn verdammt noch mal gut erzogen! Mit einem Satz stand er direkt vor dem Alten und packte ihn am Kragen seines leichten Lederhemdes, funkelte ihn wütend an.
„Sag mal, hast du sie nicht alle, Alter?!“, knurrte er ihn zornig an – und ehe er sich’s versah, standen auch schon sieben Wachen in einem Kreis um sie herum, die Speere und Schwerter gezückt und auf ihn gerichtet.
„Euch kenn ich doch!“, sagte plötzlich der eine unter ihnen, ein Mann ohne Maske, der ihn nun aus großen Augen anstarrte. Seine Verwunderung verwandelte sich in rasende Wut. „Der Kerl hat Shemediz vor einigen Tagen getötet! Er ist ein Geächteter, ein Mörder!“
Malukhat ließ das Hemd des anderen los und hob beide Hände, um anzuzeigen, dass er zwar bewaffnet war, sich allerdings auf keinen Kampf einlassen wollte. Es war einfach schlauer, sich nicht zu wehren, dann würde er lebend aus dieser Sache herauskommen. Wenn sich dann später klärte, dass das Kopfgeld nicht mehr auf seinen Schultern lastete, musste man ihn wieder gehen lassen. So ein Mist!, dachte er, nun wird uns nur noch mehr Zeit gestohlen!
Der Aschländer wandte sich von Malukhat ab und machte sich auf, zwischen zweien der Wachen hindurchzugehen und das Weite zu suchen. Der Erzmagier streckte eine Hand nach vorn, um ihn festzuhalten, doch die Speerspitze, die eine der Wachen unter seinem Kinn platzierte, hielt ihn von weiterem Handeln ab.
„Lass den Alten in Ruhe!“, knurrte der Halter bedrohlich. „Ansonsten steche ich dich ab.“
„Wie kommt es“, begann Malukhat nun ruhig, „dass dem Erzmagier der Magiergilde eine solche Behandlung zuteil wird?“
„Erzmagier?“, fragte der Dunmer ohne Maske und alle Wachen brachen in schallendes Gelächter aus. „Du willst Erzmagier sein? Bei dem Kopfgeld würden man ja eine Schlammkrabbe eher zu einem solchen ernennen!“
Malukhat wusste, er musste diese Schmach über sich ergehen lassen, so sehr es ihm missfiel. Es war eine Schande, dass man ihn derart behandelte, das hatte er versucht zum Ausdruck zu bringen, und wenn erst einmal aufgedeckt wurde, dass er in der Tat der amtierende Erzmagier ohne jegliches Kopfgeld war, dann würde er diese Männer und Frauen hier zur Rechenschaft ziehen, das stand fest. Rache war sein Fachgebiet. Wenn er es nicht sofort verteilen konnte, dann kam es eben später – aber dann auch per Eilpost!
Doch wieder einmal entwickelte sich die Sache anders als erwartet.
„Er ist der Erzmagier und auf seinen Kopf ist gewiss kein Kopfgeld ausgesetzt“, ertönte eine Malukhat wohl bekannte Stimme im Hintergrund, welche die Wachen zum Schweigen brachte. „Ich, Draven, der Erzmagister des Fürstenhauses Telvanni, bürge für ihn.“
Somit war ihm also eine noch größere Schande zuteil geworden. Draven musste sich auch immer und überall in sämtliche Angelegenheiten einmischen, die ihn gar nichts angingen – in letzter Zeit besonders was Malukhat betraf. Und das machte letztere verdammt wütend, denn auf diese Art zeigte der Erzmagister ihm nur seine Schwächen – und über diese dachte er bekanntlich nicht oft und wenn doch dann nicht lange nach.