Ich glaube, der Mensch ist auch irgendwie darauf ausgerichtet das Abnorme eher wahrzunehmen. Ein ganz einfaches Beispiel: Ein Mensch sitzt im Rollstuhl inmitten Menschen ohne körperlicher Behinderung. Wenn man nun den Blick in diese Menschenmenge wirft, wird man als erstes den Menschen im Rollstuhl wahrnehmen. Es gibt dieses "Phänomen" übrigens auch auf einer ganz einfachen Stufe: stellt euch ein weißer Papier mit Kreisen und einem Kreuz vor. Was wird euch eher auffallen, das Kreuz oder die Kreise? Was ist nun wenn man ein Ein unter die Kreise mischen würde? Es würde weniger auffallen. Demnach würde ich behaupten, dass ein entsprechender Kontrast notwendig ist.
Außerdem gibt es ja auch so etwas wie die Habituation. Der Mensch gewöhnt sich einfach an Dinge, die er öfters wahrnimmt. Natürlich werden positive Reize schneller habituiert als aversive, aber grundsätzlich setzt eine Habituation ein. Ebenso werden Handlungen immer schneller ausgeführt, je öfter sie ausgeführt werden; sie werden immer automatischer (Nervenbahnen bilden sich aus und die Myelinisierung wird ausgeprägter). Automatische Handlungen zeichen sich durch die Eigenschaft aus, dass sie unbewusst ablaufen. Und sie sind im Prinzip wesentlich effizienter als bewusst ablaufende Handlungen, die auch länger brauchen. "Normalität" ist IMO auch eine Verbesserung der Effizienz des Handelns.

Für die, die es interessiert:
In der klinischen Psychologie unterscheidet man 4 Formen von Normen.
1.) Subjektive Norm: Die eigene Befindlichkeit wird als Norm hergenommen. Abweichung werden eventuell als Kranksein wahrgenommen. Diese ist auch entscheidend für das Krankheitsverhalten (Arzt aufsuchen). Problematisch bei dieser Definition ist, dass z.B. bei Neglect häufig die Anosognosie auftritt, d.h. man glaubt, man ist gesund, obwohl dies nicht zutrifft (Neclect). Andererseits gibt es die Hypochondrie, wo der Patient glaubt, dass er eine somatische Krankheit hat, aber keine vorliegt.
2.) Statistische Norm: Abweichung von der Häufigkeitsverteilung (im Prinzip ähnlich wie beim IQ). Pathologisch wird aber nur ein geringer IQ angsehen. Problematisch ist hierbei, dass das Häufige auch das Gestörte sein kann und es schwierig ist, ab wann man von normabweichend spricht.
3.) Funktionsnorm: Krankheit ist aus der Funktionsbeeinträchtigung ersichtlich. Auch hier stellt sich das Problem, ab wann man von einer Funktionsbeeinträchtigung spricht und welches Alter man als Vergleich hernimmt (z.B. große interindivuelle Schwankungen im höheren Alter). Bei psychischen Funktionen ist es noch einmal schwieriger: z.B. Homosexualität wurde früher als Krankheit bezeichnet, da sie eine Abweichung vom "normalen" Sexualverhalten darstellt (Funktion der Fortpflanzung).
4.) Soziale Norm: Störungen sind eine Abweichung von der sozialen Norm. z.B. Explizite Normen, wie 50 km/h-Regelung in Orten, implizite Normen, wie Handschlag bei der Begrüßung und Blickkontakt. Dazu gehört auch der Labeling-Ansatz erwähnt: Der Verstoß gegen die soziale Norm ist wesentlich für die Krankheitsdefinition. Psychische Krankheiten resultieren aus Normverstößen, die geahndet werden.