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Krieger
Erschöpft und durcheinander erreichte Lenjia schließlich den See. Ein leichter Nebel hing über dem Wasser, hier und da bedeckten dünne Eisschichten das Ufer des Sees. Kraftlos schleppte sie sich durch den Schnee. Im Dunkeln erkannte sie die Umrisse eines kleinen, schiefen Hauses, doch hatte sie keine Kraft mehr, groß um eine Bleibe zu betteln. Stattdessen lehnte sie sich an die kalte Steinwand neben der Tür. So hatte sie den größten Teil des Sees im Blick.
Anfangs noch bemüht, sich nicht dem lauerndem Schlaf hinzugeben saß sie gerade, mit angezogenen Beinen und die Arme fest um die Knie geschlungen da und betrachtete den See. Manchmal sah es aus, als ob Etwas für einen Sekundenbruchteil aufzutauchen schien, verschwand dann aber wieder. Als Lenjia noch in der Stadt war, hatte sie von Wesen gehört, die sowohl an Land als auch im Wasser leben konnten. Selbst heute überraschten einige Dinge sie noch...
Allmählich verschwamm der See, das Gras und der Sternenhimmel vor ihren Augen und ihr Kopf kippte zur Seite. Somit viel Lenjia in einen unruhigen Schlaf.
“Hey, du! Alles in Ordnung? Hallo!“
Eine helle Stimme drang zu Lenjia durch. Müde setzte sie sich auf und rieb sich die schweren Augen. „Thelon?“, nuschelte sie. Langsam wurde ihre Sicht klarer. Nein, es war nicht Thelon. Ein blaues Wesen, die Form ähnelte der eines Menschen, hockte vor ihr im Schnee.
Stopp! Blaues Wesen?
Erschrocken aufkeuchend sprang Lenjia auf. Alarmiert hob das Wesen die blauen Hände.
“Ganz ruhig!“, sagte es und stand langsam auf. „Keine Angst. Ich werde dir nichts tun, ich bin nur ein Zora.“
“Zora?“, wiederholte sie. Das Wesen nickte. „Zoras sind Wasserbewohner. Weißt du das denn nicht? Komisch, hier gibt's überall welche. Wie auch immer... Tut mir wirklich Leid, dich erschreckt zu haben. Ich heiße übrigens Mika und du bist?“
Lenjia versuchte sich vorsichtig hoch zu rappeln, allerdings knickten ihre Beine immer wieder ein. Hilfsbereit hielt der Zora ihr die Hand hin. Unsicher ergriff sie diese und ließ sich von ihm hochziehen. Kaum stand sie, zog sie die Hand schnell zurück. Urgh, hat sich wie die Schuppen eines Fisches angefühlt! Glitschig und feucht.
“Um deine Frage zu beantworten“, fing sie an und lehnte sich an die Hauswand, „ich heiße Lenjia und komme aus der Stadt.“
“Die Stadt, hm? Was tust du dann hier?“, fragte Mika und vergrub die Hände in den Taschen seines weißen Umhangs.
“Wieso interessiert dich das?“, fragte sie biestig und musterte ihn. Die starken Arme waren von Kringeln und Schriftzeichen bedeckt. Unter dem Umhang schaute der Griff eines Schwertes hervor. Unsicher, ob der Zora nun ein Magier oder ein Schwertkämpfer war, rückte sie etwas von ihm weg.
Mika zuckte mit den Achseln. „Es ist nicht üblich, das ein junges Mädchen beim See an einer Hauswand lehnt und schläft.“ In seinen Augen lag nicht weniger Misstrauen, als bei Lenjia. Beide schwiegen.
“Wenigstens nicht so eine Labertasche wie Thelon“, kam Lenjia der Gedanke. Der Zora ging auf sie zu. Schnell griff sie nach ihrem Bogen, doch Mika lief nur an ihr vorbei.
„Wo gehst du hin?“, fragte sie verdutzt.
Er drehte sich zu ihr um. „Wieso interessiert dich das?“ Er lächelte belustigt. Lenjia plusterte sich ein wenig auf. „Erst machst du so ein Aufstand, weil ich an einer Hauswand schlafe, weckst mich und dann verschwindest du? Ich habe wohl das Recht noch zu erfahren, wo du hingehst.“
Nun ging Mika zu ihr zurück. „Wenn du nichts besseres zutun hast, kannst du auch mitkommen. Ich habe etwas zu erledigen und keinen Grund es zu verheimlichen. Eigentlich wollte ich einen Freund besuchen, aber...“, er seufzte und ein trauriger Ausdruck huschte über sein Gesicht, „leider ist er nicht anwesend.“ Für einen Moment hing Stille zwischen den beiden, nur das Schwappen der kleinen Wellen des Sees unterbrach sie. Er zuckte noch einmal die Achseln. „Wie auch immer. Du kannst mitkommen oder was auch immer machen.“ Er drehte sich weg.
Lenjia blieb noch unschlüssig stehen. Warum sollte sie nicht mitgehen? Aber... Sollte der Zora ein Zauberer sein, wäre sie im Falle eines Falles hilflos ihm gegenüber. Als sie wieder aufblickte hatte der Zora bereits den Durchgang zur Steppe erreicht.
Beleidigt drehte sie sich weg. Was interessiert sie die Geschäfte eines mutierten Fisches?
Als sie sich umdrehte sah sie, wie ein spinnenartiges Monster an Land hüpfte. Für einen Moment huschte sein rotes Auge über das feuchte Gras, dann blieb der Blick an Lenjia hängen. "Iih..."
Es sprang auf sie zu. Hastig lief sie Mika hinterher. Sie würde sich schon was einfallen lassen.
Mika sah nicht auf, als Lenjia ihm folgte. Dass er sie gefragt hatte mitzukommen, war ihm so rausgerutscht. Es lag wohl an der Kraft der Magie, die das Mädchen umwaberte. Auch als sie schlief hatte er etwas gespürt. Eine fremde Magie, die über seine Kenntnisse hinaus ging und er war kein unerfahrener Magier. Schwach, aber sie war dort...
Vor Jahren wäre er dazu noch nicht im Stande gewesen, aber als er damals mit Meister Ziffer mitging und dieser ihn unter seine Fittiche genommen hatte, hatte er sich in der Magie stark verbessert. Er umklammerte den Griff seines Schwertes. Das Schwert, dass ihm Alukath vor Jahren geschenkt hatte. In den ersten Monaten hatte er seinen Freund aufs Schmerzlichste vermisst, allerdings lenkte der strenge Lehrplan von Ziffer ihn schnell davon ab.
Nun holte das Mädchen ihn ein. Lenjia musterte ihn immer noch. „Bist du ein Magier?“ Mika antwortete, ohne sich umzudrehen: „Ja, warum?“ „Kein besonderer Grund. Ich wollte nur nachfragen.“ „Soso. Bist du eine Magierin?“ Lenjia schaute ihn fragend an. „Nein. Wie kommst du darauf?“
Mika schielte auf ihren roten Ring. „Ist das nicht ein Bannring?“
„Bannring?“ Lenjia hob den Ring von Thelon gegen die Sonne. „Was ist das?“
Der Zora lächelte. „Sagt der Name nicht alles? Er wird dazu benutzt Geister von Dämonen und magischen Geschöpfen festzuhalten. Sie können dann nicht mehr entfliehen und sind dazu verpflichtet, denjenigen zu beschützen, der den Ring überstreift. Meistens sind sie jedoch wertloser Plunder. Besonders... Als damals das Drachen jagen modern war und viele buchstäblich ihren Kopf für den Spaß der Leute hinhalten mussten, hatten diese Ringe kaum mehr Sinn. Es soll aber auch einige seltene Exemplare von Dämonen geben, die noch irgendwo herumschwirren.“
Schweigend strich Lenjia über die Eingravierungen. Ob Thelon das gewusst hatte? Mikas weitere Frage riss sie aus ihren Gedanken. „Hast du ihn schon einmal eingesetzt?“ Sie stockte. Die Bilder der toten Wölfe kamen in ihr hoch. Eben jene lagen doch noch vor dem Tor! Kaum hatte sie dies realisiert, hörte sie von Mika einen missbilligenden Laut.
Unbewegt und noch übelriechender als gestern lagen die toten Wölfe im Schnee - oder eher das, was von ihnen übrig war. Mika kramte in den großen Taschen seines Umhangs.
„Ich hatte doch hier irgendwo...“, murmelte er. Schließlich, es kam Lenjia wie eine Ewigkeit vor, erhellte sich seine Miene und er holte eine mittelgroße Flasche heraus. Innen war nur eine blauschwarze Flamme zu sehen, die ärgerlich gegen das Glas der Flasche klopfte.
„Was ist das?“, fragte Lenjia. Mika ging auf die Überreste der Wölfe zu und öffnete dabei die Flasche. Vor einem Wolf stellte er sie auf den Kopf und klopfte mit der Hand auf den Flaschenboden.
„Na komm“, murmelte er. „Es gibt was zutun.“ Zögerlich rutschte die Flamme aus dem Gefäß heraus und klatschte auf dem Boden auf. Statt den Schnee zu schmelzen, sackte es nur ein wenig ein. Mika trat zurück. Als er wieder neben Lenjia stand, rief er der Flamme etwas entgegen. Es musste wohl eine andere Sprache sein, Lenjia verstand es nicht. Die kleine Flamme fing an zu wachsen und sich auszubreiten. Funken sprühten, als sich lange, dünne Arme und Finger formten. Beine, mit großen breiten Plattfüßen stemmten den Rest der Flamme, aus dem sich langsam ein zerrissenes Tuch, dass um einen großen, runden Körper geschlungen war, gebildet hatte, vom Boden ab. Die Hälfte des Körpers nahm ein großer unförmiger Mund ein, mit vielen Reihen schafer Zähne. Augen hatte das Wesen keine, aber dafür eine große Nase. Gierig fing es an zu schnuppern und tastete sich zu den Wölfen vor. Kaum hatte es einen der Kadaver erreicht, stürzte es sich darauf und fing an, es... zu essen?
Lenjia wurde schwindelig, als sie die schmatzenden Geräusche vernahm. Sie wandte sich an Mika. „Was genau... ist das?“
Ungerührt beobachtete der Zora das Wesen, wie es die Überreste der Tiere gierig verschlang. „Ein Nimmersatt. Ein sehr schwacher, aber dafür nützlicher Dämon der unteren Klasse. Sehr nützlich, wenn man Dinge verschwinden lassen will.“ Ein lautes Rülpsen aus Richtung Nimmersatt.
„Verschwinden lassen?“, wiederholte Lenjia. Der Nimmersatt, nun fertig mit seiner Mahlzeit, drehte sich zu den beiden um. Mika nickte und lachte, als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck sah. „Ich bin kein Mörder und ich meinte mit ‚verschwinden lassen‘ allgemeine Dinge. Er kann dir auch Sachen wie Bäume aus dem Weg räumen. Nur solltest du ihn schnell wieder einfangen, wenn er mit der ‚ersten‘ Mahlzeit fertig ist.“ Er schnipste mit den Fingern und das Wesen zog sich wieder zu einer blauschwarzen Flamme zusammen. Bevor es entwischen konnte, stülpte Mika die Flasche über die Flamme und schob die Hand drunter. „Nimmersatte essen alles und jeden. Es gab bereits Fälle, wo der Inhaber nicht schnell genug war und... Na ja, du weißt ja.“ Er sah auf. „Wärst du wohl so gütig... Der Korken.“
“Ach so, natürlich!“ Schnell stopfte Lenjia den Korken in den Flaschenhals zurück, als Mika seine Hand wegzog. Die Flamme fing nun wieder an, gegen das Glas zu klopfen. „Woher hast du den eigentlich?“
Nicht auf den Protest des Geschöpfes achtend, ließ Mika die Flasche wieder in die Umhangtasche gleiten.
“Die gibt es eigentlich in jedem Laden für besondere Artikel“, antwortete er. „Gehen wir. Ich habe noch einiges zu erledigen.“
“Was denn?“, fragte sie neugierig. Er musterte sie. „Wirst du schon sehen.“ Grummelnd folgte sie ihm.
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