Die Tür, vor der sie stand, war größer als die anderen und war aus Stahl. Beulen von der Größe eines ausgewachsenen Goronen waren in die Tür zu Lenjia hin gedrückt.
Sie streckte die Hand nach der Türklinke aus. Als sie das kalte Metall auf ihrer Haut spürte, durchfuhr sie eine plötzliche Hitze.
Statt loszulassen, umklammerte Lenjia die Klinke etwas fester. Sie drückte gegen die Tür. Als sie sich nicht öffnen ließ, stemmte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Endlich war ein Scharren und Knirschen zu hören.
Die Tür schwang auf und Lenjia trat in den Raum. Zuerst konnte sie nichts erkennen. Der Raum war stockdunkel und das spärliche Licht, dass der Kobold verbreitete, schien mit seiner Angst geschrumpft zu sein.
Lenjia trat vor. Ein Knirschen unter ihren Füßen verriet, dass sie soeben auf Scherben getreten war. Scherben?
Lenjia bückte sich und betrachtete die Scherben genauer. Vorsichtig hob sie eine auf und hielt sie sich vors Gesicht. Dabei bemerkte sie noch weitere Scherben, die den gesamten Boden übersäten.
Sie erhob sich und trat tiefer in den Raum. Die Scherben, auf die sie trat, ignorierte sie.
Es sah aus, als hätte ein Tornado in dem Raum getobt. Umgekippte Tische, zerrissene Papiere und Bücher
Lenjia trat an einen der Tische heran und fuhr mit der flachen Hand über die Tischplatte. Kratzspuren waren zu sehen, jedoch keine kleinen. Der Tisch wurde fast von ihnen gespalten!
Sie beugte sich etwas weiter über den Tisch, als ihr etwas rotschimmerndes ins Auge fiel. Was war das?
Sie ging um den Tisch herum, bückte sich und hob den Gegenstand auf. Er sah aus wie eine riesige, rote Fischschuppe, nur deutlich dicker.
“Welches Tier könnte nur solche Schuppen haben?”, murmelte sie. Aber war es überhaupt von einem Tier?
Sie sah sich um. Der Raum war ihr unheimlich und sicherlich nicht für jemanden wie sie gedacht. Wenn Ziffer oder Mika sie hier erwischen würde, gäbe es höchstwahrscheinlich Ärger.
Sie wandte sich der Tür zu, als die Schuppe, die sie immer noch umfasste, zu pulsieren begann.
Mit einem Keuchen warf sie sie quer durch den Raum. Sie schlitterte über den Boden und stieß gegen eine hölzerne Truhe. Dort angekommen fing die Schuppe stärker mit dem Pulsieren an.
Der Kobold auf Lenjias Schulter, der sich ängstlich an ihr Ohr geklammert hat, stieß ein hohes Kreischen auf. Nun fegte Lenjia ihn entgültig von seinem Sitz auf ihrer Schulter und mit einem Klatschen kam das kleine Wesen auf dem Boden auf.
Das Licht erlosch, die Lampe des Kobolds war zerbrochen. Mit ärgerlichem Gepiepse und Geknurre erhob das Kerlchen die Faust gegen Lenjia.
Ihre Aufmerksamkeit gehörte jedoch der Kiste, die nun anfing, mit der Schuppe im Rhythmus zu pulsieren.
Vorsichtig ging sie auf die Kiste zu. Verschlossen schien sie nicht zu sein. Sie kniete sich vor ihr hin.
Ganz langsam strich sie mit den Händen über das Schloss, schob die Finger unter das Holz und öffnete die Truhe. Staub schlug ihr entgegen. In der Truhe war es vollkommen dunkel. Sie griff hinein und tastete solange über den staubigen Boden der Truhe, bis sie gegen einen kalten Gegenstand stieß.
Es fühlte sich an wie ein kleines Kästchen, wahrscheinlich aus Metall und zu groß, als dass man ihn mit einer Hand hätte umschließen können.
Vorsichtig hob sie das Kästchen aus der Truhe. Staub hatte sich auf dem goldenen Deckel abgelagert und verdeckte beinahe das Abbild eines Drachen, der sich um einen roten Stein legte.
Lenjia fuhr am Rand entlang, um den Deckel zu öffnen, doch es gab keine Ritzen.
“Seltsam”, murmelte sie. “Warum kann man sie nicht öffnen?”
Sie drehte und wendete es, aber immer noch war nichts, dass wie ein kleines Schloss oder ein Knöpfchen aussah zu sehen.
“Es muss wohl einen Grund geben, dass diese Schatulle nicht geöffnet werden darf”, beschloss sie und richtete sich auf.
Sie wollte das Kästchen zurück in die Truhe legen und den Raum verlassen, als die Schatulle in ihrer Hand zu wackeln begann. So plötzlich und intensiv, dass sie Lenjia entglitt.
Sie überschlug sich im Fall und fiel mit dem Deckel voran zu Boden. Ein Knacken verriet Lenjia, dass der Stein beim Aufprall zersplittert war.
Schnell bückte sie sich, um die Schatulle wieder aufzuheben, als ein weiteres Knacken ertönte. Diesmal war es jedoch nicht der Stein, sondern die Schatulle selbst.
Dünne Risse zogen sich über die Ränder und den Boden des Kästchens, sie fingen an zu bröckeln, bis sie die Sicht auf den Inhalt freigaben.
Lenjia beugte sich tiefer über die nun zerbrochene Schatulle.
Das ‘Ding’, dass in der Schatulle lag, sah aus, wie eine Eidechse. Der Kopf erinnerte an den eines Vogels, auch Flügel hatte es, aber ohne Federn. Sie erinnerten an Fledermausflügel und schienen an den Ober- und Unterarmen des Wesens zu kleben. Mit seinem hellrot erinnerte es an eine Flamme.
Nun regte es sich. Langsam öffnete es die schwarzen Knopfaugen, streckte Beine und Arme von sich und stemmte sich vom Boden ab. Nun war auch ein langer Schwanz zu erkennen, er hatte fast die Länge vom Wesen selbst. Eine kleine Kneifzange hing am anderen Ende und schnappte kurz auf und wieder zu.
Es hustete. Eine kleine Stichflamme entstieg seinem Maul und winzige Reißzähnchen waren kurz zu erkennen. Nun wandte es sich Lenjia zu.
Lenjia starrte zurück. Sie wusste, was es war, aber warum hier? Schlüpften Drachen nicht normalerweise aus Eiern?
Abermals öffnete es das kleine Maul und gurrte leise. Dabei blinzelte es Lenjia neugierig an.
Sie streckte langsam die Hand in die Schatulle und ließ den kleinen Drachen auf die Hand hüpfen. Der Schwanz hing über die Handfläche drüber, auch die Hinterbeinchen hatten kaum noch Platz.
Lenjia realisierte erst jetzt, was sie da überhaupt tat. Sie hielt einen jungen Drachen in ihren Händen, der aus einer verschlossenen Schatulle kommt, in einem merkwürdigen Raum versteckt, in einer dunklen Truhe und nun knuddelte sie auch noch mit ihm?
Hektisch sah sie sich nach einem anderen Behälter um. Würde sie ihn einfach so in die Truhe setzen, würde er entkommen können.
Schnell richtete sie sich auf. Ein kurzer Schmerz durchzuckte ihr linkes Bein. Vom langen Hocken und jetzt nach der schnellen Bewegung...
Sie knickte wieder ein und stützte sich mit der freien Hand auf dem Boden ab.
“Ah!”
Glasscherben bohrten sich in ihre Haut, Blut tropfte zu Boden.
Vorsichtig zog sie die Splitter mit den Zähnen aus der Haut, um den Drachen nicht fallen zu lassen, dabei beschmutzte sie ihren Mantel mit dem Blut.
“Auch das noch”, murrte sie leise.
Der kleine Drache hatte den Kopf gehoben, als das Blut auf die Robe tropfte. Er schien zu schnuppern. Roch er das Blut? Natürlich, Drachen waren Fleischfresser!
Mit tapsigen Schritten erklomm der Drache ihren Unterarm, kletterte am Umhang hoch und leckte das Blut auf, dass auf den Bauch getropft war. Lenjia erstarrte. Der Drache schien zu wachsen!
Die Flügel wurden breiter, die Krallen größer, der Körper zog sich in die Länge und der Kopf wurde knochiger.
Das Gewicht des nun gewachsenen Drachen drückte Lenjia zu Boden.
“Wie konnte er nur so schnell wachsen?”, fragte sie sich entsetzt, während der Drache sich im Raum umsah.
Erst als Lenjia sich unter ihm wand, drehte er ihr den Kopf zu. Er bleckte die Zähne, was wohl ein Lächeln darstellen sollte.
“Dummer Mensch”, knurrte er. Seine Stimme war tief und grollend und erinnerte an die eines Zoras.
Lenjia blinzelte. “Was?”
“Immer wieder verfallen die Menschen der Neugierde und niemals lernen sie von ihren Fehlern.”
Nicht auf die Provokationen des Drachen eingehend, stemmte Lenjia die Hände gegen die breite Brust des Drachen.
“Geh runter von mir, Schuppenschädel! Beweg dich.”
Tatsächlich bewegte sich der Drache, nur, um sie mit dem nun weitaus breiteren Schwanz gleich wieder von den Füßen zu fegen. Wieder bohrten sich die Scherben in ihre Arme und den Rücken.
“Ich bin Glaurung, der mächtigste aller Drachen!”
“Sagen das nicht alle seiner Art?”, dachte Lenjia, sprach es aber lieber nicht laut aus. Sie hatte nicht nur einen gefährlichen, sondern auch einen furchtbar stolzen Drachen vor ihr. Als wäre der normale Stolz von Drachen nicht schon genug! Vorlaute Kommentare hatten ja schon vielen Rittern den Kopf gekostet...
Wichtiger war jetzt jedoch, einen Fluchtweg zu finden. Würde sie sich einen Millimeter bewegen, würde die Kreatur über ihr sie einen Kopf kürzer machen. Wenn sie sich langsam bewegen würde, könnte sie sich hinter einem der umgestoßenen Tische verstecken. In diesem Moment hörte sie das Knarren der Tür.
“Was ist hier los?”
Sie wandte den Kopf. Mika stand in der Tür.
Er starrte Glaurung fassungslos an, dann wanderte sein Blick zu Lenjia. Sie schüttelte stumm den Kopf.
Glaurung bleckte die Zähne und schien noch ein Stückchen zu wachsen.
“Du schon wieder! Hast du mich nicht letztes Mal schon belästigt?”, grollte er Mika entgegen.
“Letztes Mal?”, flüsterte Lenjia.
Mika antwortete nicht, er schob den linken Ärmel seines Umhangs zurück und fuhr über eine der Tätowierungen.
“Thetis!”, donnerte er und ein bläuliches Licht bildete sich um ihn. Aus dem Boden heraus stieg eine gewaltige Luftblase.Innen kniete ein junges Mädchen.
Als Lenjia genauer hinsah, entdeckte sie eine Fischflosse. Eine Meerjungfrau!
Sie glich einem Zora, mit ihrer blassen Haut, den dunklen Augen und dem zierlichen Körper. Lange, dünne Finger waren in den Schoß gelegt und blaues, feines Haar lag auf ihren Schultern. Sie sah eher aus wie eine Puppe und eine sehr zerbrechliche.
Mika deutete zu Glaurung hin, der den neuen Geist musterte.
Thetis schloss ihre Augen, bevor sie sie wieder öffnete und ein Bogen sich in ihren Händen bildete. Sie hob die rechte Hand und wie aus dem Nichts landete ein Pfeil darin. Ohne zu zögern, aber mit ruhigen Bewegungen, spannte sie ihn auf und zielte auf Glaurung.
“Wenn sie schießt, wird sie Blase zerplatzen”, schoss es Lenjia durch den Kopf. “Hier ist nirgends Wasser!”
“Nicht!”, schrie sie und sprang auf. Glaurung bemerkte ihre plötzliche Bewegung und hob eine Kralle.
Mika machte einen Hechtsprung auf Lenjia zu und riss sie zur Seite, als Glaurung sie fast zerfetzt hätte. Der linke Ärmel des Umhangs zerriss und Blut spritzte. Beide fielen zu Boden.
Lenjia richtete sich auf und bemerkte die Wunde an Mikas Oberarm. Ihr Herz fing an zu rasen.
Glaurung leckte sich das Blut von den Krallen. Nun schoss Thetis ihren Pfeil ab, doch ihre Blase zerplatzte nicht.
Der Pfeil raste durch den Raum und erwischte Glaurung an der schuppigen Stirn, doch prallte er wirkungslos ab.
Mika richtete sich auf und drückte die rechte Hand gegen die Wunde.
“Du Idiot!”, schmipfte er. “Thetis ist ein magisches Wesen, ihre Blase zerplatzt nicht.”
“Woher sollte ich das denn wissen? Ich weiß nichts über deine Geister!”, verteidigte sich Lenjia. “Warum hat der Pfeil eigentlich nicht gewirkt?”
Mika stand auf und schaute mit düsterem Blick zu Glaurung herüber, der wieder anfing zu wachsen.
“Als Glaurung in die Schatulle gesperrt worden war, verlor er all seine Kraft und wurde wieder zu einem Jungdrachen, doch wenn er das Blut seiner Gegner trinkt, gewinnt er an Kraft. Seine einzigste Schwachstelle ist nun der Bauch, wie bei jedem Drachen.”
Er packte Lenjia am Arm und half ihr hoch. “Wir müssen hier weg, momentan können wir nichts gegen Glaurung ausrichten.”
“Aber draußen kann er doch fliehen”, erinnerte Lenjia Mika, als sie an Thetis vorbeihasteten.
“Ein Drache flieht nicht”, knurrte Mika mit einem düsteren Lächeln. “Dazu ist er zu stolz.”
Sie rannten den Gang mit den blauen Fackeln entlang, bogen immer wieder ab, bis sie den Hauptraum erreichten. Von fern war das Toben Glaurungs zu hören.
“Was, wenn Thetis stirbt?”, fragte Lenjia. Mika schüttelte den Kopf und schloss die Tür.
“Ich habe sie darauf trainiert abzubrechen, bevor sie stirbt. Außerdem ist sie ein sehr starker Geist, ihr passiert nicht so schnell etwas.”
Lenjia drehte sich zum Raum um.
“Ziffer!”, rief Mika neben ihr und verschwand wieder zwischen den Säulen.
Sie blieb allein zurück, gegen die Tür gelehnt. Ihre Kehle war trocken und ihr Herz raste noch immer. Die Wunden an ihren Armen hatten aufgehört zu bluten, aber Schmutz hatte sich in ihnen verfangen. Sie brannten noch immer.
Mit leerem Blick starrte Lenjia zu Boden. Das eben war so schnell gegangen. Die Schatulle, der Drache, Mika, Thetis und ihre Flucht. Trotzdem galt es noch, den Drachen wieder einzusperren.
Eilige Schritte waren zu hören. Ziffer und Mika traten wieder ins Licht.
“Glaurung ist frei?”, fragte Ziffer und sah Lenjia schockiert an.
Ihr Herz rutschte ein Stück nach unten. “Ja. Das ist schlimm, oder?”
“Das ist fatal!”, rief Ziffer und fuchtelte mit den Händen, wobei er fast das Aquarium neben ihm umgefegt hätte. “Wenn Glaurung sich erst einmal erholt hat, ist er nicht mehr zu stoppen! Wir müssen handeln, jetzt sofort.”
“Die Schatulle müsste noch im Raum liegen”, erinnerte Mika ihn.
“Die, äh... ist kaputt”, nuschelte Lenjia leise.
Zwei Augenpaare legten sich gleichzeitig auf sie.
“Was?”, fragte Ziffer leise. “Wiederhol das bitte, ich glaube meine Ohren sind etwas schlecht.”
“Die Schatulle ist zerbrochen”, sagte Lenjia. Daraufhin folgte Stille. Ab und zu war ein entferntes Krachen zu hören.
“Kann man sie vielleicht kleben?”, fragte Lenjia vorsichtig.
Mika starrte sie an. “Kleben?”, krächzte er. “Wie willst du einen magischen Gegenstand bitte kleben?”
Alle Drei schwiegen. Dann endlich...
“Lenjia, dein Ring... Wie belastbar ist er?”, fragte Ziffer.
“Wie belastbar?”, wiederholte Lenjia. “Ich weiß es nicht.”
“Wird er beim verlassen deines Geistes weiß oder durchsichtig?”, fragte Mika.
Sie nickte. “Er wird klar wie ein Kristall.”
Ziffer richtete sich etwas auf. “Sehr gut, dann können wir den benutzen. Fürs Erste sollte er dem Drachen standhalten können.”
“Jetzt müssen wir ihn nur noch einfangen”, murmelte Mika. “Wir sollten vielleicht ein paar Pentagramme mitnehmen.”
“Auf jeden Fall!”, bestärkte Ziffer und eilte zu einer Truhe im Raum. Er holte fünf aus Messing gegossene Pentagramme heraus. Gehalten wurden die Sterne von Kreisen.
Ziffer gab Mika die Sterne. “Du weißt, wo du sie befestigen musst? Beine, Arme und Kopf.”
Mika nickte, dann gingen sie zur Tür. Lenjias Herz klopfte, als sie den Weg zurück gingen.
“Lenjia”, fing Ziffer an und hielt sie zurück, als sie den Gang mit den blauen Fackeln betraten. “Du bleibst hier. Du kannst uns nicht helfen und es ist nicht nötig, dass du dich auch noch in Gefahr bringst. Warte hier.”
Lenjia wollte etwas erwidern, doch Ziffer brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er lächelte. “Es wird nicht lange dauern.”
Damit folgte er Mika, der gerade die Tür aufstieß. Unsicher blieb Lenjia im Gang stehen.