Es ist der 31. in jenem gottverdammten Mai. Ich und Lal' hockten schon seit zwei langen Tagen in diesem abgedunkelten Raum in seiner schäbigen Wohnung und zogen uns Horrorvideos rein. Draussen war es schwül und stickig. Hier drinnen roch es dementsprechend. Nein, eigentlich roch es nicht, es miefte bestialisch. Der Aschenbecher quoll über, so dass der Tisch eingesaut wurde. Sah aus, wie eine Woche Ascheregen auf-exitus-komm-raus. Soweit ich mich zurückerinnern kann, war ich der Erste, der das Wort ergriff. Beziehungsweise ergriff ich es erst nach einigem Husten, Schnauben und Stöhnen. Hab ich schon erwähnt, dass die Luft im Zimmer eigentlich keine echte Luft war, sondern eher sowas wie gasförmiger Stacheldraht, welcher sich wie'n gieriges Schwein in die Atemwege beißt?
»Alter, hast du noch Kippen?«
»Puh...« Er holte ein Päckchen hervor, nachdem er sich aus seiner Bildröhrenstarre gelöst hatte. »Lass mal schauen- Ja, noch einige. Das reicht noch bis zum Ende der Welt.« Seine Bemerkung war beiläufig und nur ein Nuschelgeräusch, wie man es kennt, wenn man auf einen kleinen Jungen einschlägt. Und doch bereitete mir dieses Nuscheln ein unbehagliches Gefühl und für fünf Sekunden oder so wurde ich ein Sklave der Lethargie. Ich meine, es war nur der Bruchteil eines Moments und doch verspürte ich in diesem einen kleinen Augenblick die größte Angst meines Lebens, welche mich sofort lähmte und unfähig zu denken machte- Aber, wie gesagt, es war nur ein Moment. Nicht einmal das war es, und es war auch sowieso schon vorbei.
»Ja, ich hab auch noch ein paar. Drei um genau zu sein.«
»Drei? Scheisse, ich hab nur noch Zwei.«
»Was sollte dann dieser Massenhaltungsspruch?«
»Keine Ahnung, aber am Ende wollte ich von dir schnorren.«
»Tja, daraus wird wohl nichts.«
»Du meinst, wir müssen-?«
»Ja, wir müssen-!«
»Kippen holen.« sagten wir beide im Chor und streckten uns mal wieder. Die Knochen knackten und ich fühlte mich plötzlich irgendwie anders- irgendwie leichter- als wäre ich aus Gummi. Und was passiert, wenn man aus Gummi ist? Richtig, wenn's brennt, stinkt's. Aber auch dieser kleine Flash war schnell vorbei und ich war dankbar, dass mich in dieser kurzen Zeit kein Feuersturm verschlang. Naja, auch sonst bin ich dankbar, wenn mich kein Feuersturm verschlingt. Wie auch immer, wir wateten durch eine Brunst aus in die Wohnung gezogenem Qualm und merkwürdigen Gebilden am Boden, die mal irgendwas Nützliches gewesen waren, und jetzt bestenfalls noch als abstrakte Gebilde in irgendeine verdopte Kunstgalerie passen würde. Ich sah mir das näher an, worin ich grad getreten war und dachte, es müsse schon eine sehr verdopte Kunstgalerie sein. Wir blieben in den selben Klamotten, in denen wir die letzten zwei Tage gesessen, gegammelt, geschlafen und gepisst hatten, und verließen die Wohnung. Meine Haare klebten an mir wie Ejakulat. Lal' hatte es gut, der hatte 'ne Glatze. Okay, selbst die brauchte mal wieder 'ne vernünftige Politur. Wir steckten uns jeder eine Fluppe an und peilten so den Pfad der Unterpenner entlang.
»Oh mann, das Licht tut echt scheiss weh in den Augen.« Lal' hielt sich die Augen zu und sah somit nicht, wo er hinlief. Er lief genau gegen eine alte Dame, die offenbar stehengeblieben war, um etwas zu ihren Füßen zu suchen. »Hey, können sie nicht aufpassen, wo sie stehen?- Hallo?« Die Frau stand immernoch da, rührte sich nicht.
»Was ist los?«
»Die Oma hier steht da, wie versteinert.« Er schubste sie an. »Hey Oma-!« Und- Wie soll ich das sagen? Jetzt geschah etwas. Etwas, was uns aus unserer Leichtigkeit des Lebens reißen sollte. Als Lal' der alten Frau einen Schwung verpasste, stolperte sie nicht etwa nach vorne, wie man es vermutet hätte. Nein, an der Stelle, wo Lal' mit den Händen aufkam, schlugen sich faustgroße Kerben in den immernoch regungsunfähigen Körper. Die Wunde vergrößerte sich schnell und unaufhaltsam. Blut und Knochen vermischten sich in einem morbiden Theater des Grauens. Das Schlüsselbein tanzte Hoolahoop mit der Milz, und am Ende blieb von der guten Omi nichts als bloßer Matsch. Wasserfallartig bildete sich eine Pfütze aus altem Fleisch und noch älterer Haut im Panorama, und auf einmal umgab uns ein Meer aus abgrundtiefem Zerfall und unergründlichem, im menschlichen Moder ertränktem Alb. Es war einfach überall.
»Scheisse oh gottverfluchte Scheisse!! Was- Was- Was?!« Lal' wich zurück, rutschte aus und landete prompt im ungünstigen Terrain, bestehend aus wabberndem Omapudding. »Ach du- ist das eklig?!« Er schwam jetzt schon fast in der blubbernden Brühe. Er sah dabei aus wie ein Kartoffelchip, ertränkt im Dipp. Seine Sachen wurden eingerieben- oder besser ausgedrückt- vollends ruiniert durch ein fein rinnendes und stark haftendes Gewebe aus Warzen und Haaransatz. »Scheisse, nun hol mich schon endlich hier raus!« Ein wenig verwirrt und sehr angewiedert packte ich seinen Arm und zog ihn aus dem glitschigen Schlund.
»Das wäre geschafft. Ein Wunder dass deine Kippe noch brennt, Mann.«
»Bei mir doch nicht. Die Tricks hab ich drauf- Ähm- Scheisse, egal- Was war das jetzt eigentlich?« Eben noch beruhigt, verfiel Lal' jetzt schon wieder der Panik. »Sollen wir zu den Bullen? Ich meine, es ist hellichter Tag. Die Sauerei hat die halbe Stadt mitbekommen und ich seh aus wie neu geboren.« Da hatte er recht. Ich blieb kühn und bedacht.
»Untertauchen?! Scheisse, woher soll ich das wissen?«
»... Hey.«
»Was denn?«
»Sieh dich mal um.« Und da sah ich es. Oder viel mehr ich sah es nicht. Niemand war auf der Straße. Nichts war zu hören. Nur ein paar vereinzelt rumstehende Gestalten in der Ferne. Nichtmal von denen ging ein Lebenszeichen aus. Wir hörten kein Summen oder Zirpen der Insekten. Kein Hupen oder Rufen. Gar nichts. Es war einfach nur still. Mal abgesehen von unseren Schritten, die jetzt - wenn man sich drauf konzentriert - mörderisch und furchtbar angsteinflößend in einem großen Sog aus Hall und Leere erklangen. Laut. Aber nicht einfach nur laut, wie man sich das jetzt vorstellt. Für einen Aussenstehenden mochte es wie ein gewöhnliches Aufpochen auf den Asphalt klingen. Ich würde sonstwas geben, wenn ich von uns sagen könnte, ebenso empfunden zu haben. Aber es war richtig böse laut. Scheiss dröhnend. Es klang wie mehrere Tonnen aufeinanderprallendes Gestein und Geröll. Nach jedem Schritt zuckten wir zusammen und sahen uns heimlich um. Nach schier endlosem Krachen, von unseren Schuhen ausgehend, kamen wir am Marktplatz an. Das Erste, das wir sahen, war, dass wir nichts sahen. Waren unsere Blicke getrübt? Wenn ja, wovon? Aus meinem jetzigen Wissensstand bin ich immernoch nicht in der Lage zu erklären, warum wir nichts sehen konnten. Wir gingen weiter. Der Boden unter uns war ebenso schwarz wie alles sonst um uns herum. Doch er war ziemlich aufgeweicht und fühlte sich unter den Sohlen an, wie ein Haufen erschlaffter Luftballons oder eine ganze Menge Kartoffelbrei. Ich wage es nicht weiter darüber zu spekulieren, wo wir da eigentlich durchstampften.
»Warum ist es hier eigentlich so schwarz und dunkel?«
»Keine Ahnung.« Wir gingen noch eine ganze Weile so, bis der Boden wieder eben wurde. Ich wollte Licht machen. Ich hatte ja noch meine Streichhölzer. Ich holte also meine Streichhölzer hervor, es waren noch zwei Stück drin. Ich holte gleichzeitig eine neue Zigarette hervor und zündete diese an. Ich hielt Lal' das entzündete Holz hin und er lies seine letzte Zigarette entflammen. So liefen wir rauchend weiter durch die Dunkelheit, die uns umgab. Das Feuer konnte kein Licht in dieses Wirrwarr aus schwarz und schwärzer bringen. Wir kamen schließlich an eine Laterne.
»Hey, hier steht eine Laterne.«
»Das seh ich auch.« Ich stütze mich an die Laterne. Der Marsch durch das Undurchsichtige hatte meine Kräfte stark dezimiert und ich brauchte eine kleine Denkpause. Und dann- »Was-?« Die Welt um uns herum nahm wieder eine gewohnte Form und eine ebenso gewohnte Farbe an.
»Hey, hier war ich schonmal!«
»Idiot, wir sind im Kreis gelaufen. Dahinten ist unser Wohnblock. Wir sind wieder fast am Markt.«
»Oh-.«
»Ja. Oh.« Er war wirklich keine Hilfe in diesem Netz von merkwürdigen Begebenheiten. Aber besser als gar kein Lebewesen in der Nähe. Wir sahen uns also am Markplatz um. Dort bot sich uns ein Bild des Krieges. Überall waren grausam verzogene Fratzen des Wahnsinns in die Gesichter stehengebliebener Menschen geschnitzt. Jedenfalls bei denen, die wirklich nur stehengeblieben waren. Die Meisten waren zerfetzt und zerfleischt, und das Abstoßenste waren jene, die mitten in der eigenen Kadaverexplosion angehalten waren. Es war abscheulich. Worte können die Häßlichkeit, wie sie sich uns in Reinform bot, nicht annähernd beschreiben. Lal' stieß, für mich vollkommen unerwartet, einen hohen Pfiff aus.
»Cool.« Das war das letzte Wort, welches mein langjähriger Freund von sich gab. Ein kurze Pause entstand.
»Hey, Lal'.« Er konnte nicht mehr anworten. Ich sah ihm ins Gesicht und erkannte, dass auch er erstarrt war. Die Lippen spitz zu einem Pfiff geformt, die Hände in den Hosentaschen, die Zigarette ausgetreten am Boden. Ich konnte ihm nicht länger ins Gesicht blicken, ein Schwall von Trauer drohte mich zu überrollen. Also blickte ich zu Boden. Da lag die Zigarette, an der Lal' bis eben noch lebendig geraucht hatte. Die Zigarette- Scheisse ja-! Die Zigarette! Mit einem Mal erkannte ich das, was sich wie ein winziger Parasit in meinem Gehirn festgesetzt hatte. Ich hatte schon fast bis zum Filter geraucht, warf den Stummel fort wie verdorbenen Fisch und trat darauf, wie auf Ameisen. Sofort zückte ich meine letzte Zigarette und zündete sie mit meinem letzten Streichholz an. Der Rauch schoss durch meine Blutbahnen und gab dem Blut, wonach es lechtzte. Doch dann wurde ich aus meiner Rettung in die nächste Katastrophe geschleudert. Ich blickte mich um. Was ich brauchte, war Leben. Was ich brauchte, waren Zigaretten. Ich kann nicht sagen, woher ich es wusste, ob es stimmte oder überhaupt Sinn ergab, doch ich hatte ein Gefühl in der Lunge. Dann sah ich den Tabakladen. In diesem Moment erschien er mir unschätzbar wertvoll. Eine einzige Zigarette hätte mir in dieser Sekunde gereicht. Ich weiß, dass ich danach noch eine gebraucht hätte. Doch für einen Verdurstenden ist jeder Tropfen Nässe pures Gold. Ich hastete also los, immer den Tabakladen im Visier. Dort würde ich leben wie eine Fliege in der Scheisse, doch ich würde leben. Als ich ankam, war ich erstmal aus der Puste. Verdammtes Rauchen, dachte ich kurz, und widmete mich dem, was ich vor Augen hatte. Als ich eintrat, schob ich einen älteren Mann beiseite, der das Geschäft gerade verließ und postwendend in einem groben Batzen zerfledderte. Aus dem Weg, schoss es mir nur durch den Kopf. Drinnen angekommen, sah ich nur die ganzen Schachteln. Alle Marken waren vertreten. Ich spürte Rettung. Ich spürte Erleichterung. Ich nahm mir also das teuerste Päckchen überahupt, zog wie ein König eine Zigarette hervor, trat meine aktuelle aus und steckte mir die neue in den Mund. Ich holte meine Streichhölzer hervor. Doch das kleine Quadrat war leer. Es muss hier irgendwo ein Feuer geben, dachte ich noch ... Nun, das war irgendwo der Moment, wo ich angefangen habe, zu erzählen. Schätze das war's.