Zitat
Der Lügenbeutel
(Ursel Scheffler)
Es war einmal ein Mann, der behauptete, alles Elend der Welt käme nur daher, dass die Leute nicht ehrlich zueinander wären. Er nahm sich daher vor die Welt von Lügen zu befreien. Deshalb kaufte er sich ein Schmetterlingsnetz und einen großen Sack und begann alle Lügen, denen er begegnete, einzufangen. Die Leute wunderten sich über den komischen Mann, der durch die Straßen rannte, hinter den Leuten herlief und scheinbar sinnlos mit einem Schmetterlingsnetz in der Luft herumfuchtelte. Sie bemerkten gar nicht, dass es ihnen immer schwerer fiel, sich Lügen auszudenken. Lügen wurden allmählich Mangelware! Der Mann hatte seinen Sack an jedem Abend gestopft voll. Er entleerte den Sack in kleine lügendichte Abfallbeutel, verschnürte sie sorgfältig und warf sie in den Müllschlucker.
So machte er es jeden Tag. Aber schließlich musste er sich seine Beute immer schwerer erkämpfen. Weil die Leute auf der Straße keine Lügen mehr hatten, schnitt er sie sich aus Zeitungsseiten aus. Er sammelte sie an Fernsehtürmen und Telefonleitungen. Immer häufiger hatten die Zeitungen leere Seiten und die Fernseher Ton- und Bildausfall. Die Telefonleitungen waren ständig gestört. Der Lügensammler stellte betrübt fest, dass die Leute immer weniger miteinander redeten. Vermutlich, weil sie nicht so viele Dinge wussten, die wirklich wahr waren. Jetzt reden sie wenigstens ehrlich miteinander!, dachte der Mann mit dem Lügenbeutel. Welch ein Glück! Doch da wude er zu seinem Entsetzen Zeuge eines Gesprächs auf dem Marktplatz. Zwei Frauen trafen sich am Gemüsestand.
“Schlechten Tag!” sagte die eine zu der anderen. “Dasselbe wünsche ich Ihnen auch!”, war die Antwort. “Wie es Ihnen geht, ist mir ziemlich egal. Aber es fällt mir auf, dass Sie sich verändert haben. Sie sind richtig fett geworden. Die modernen Röcke kleiden Sie gar nicht.” “Wie es mich ärgert, dass ich Sie treffe”; Sagte die dicke Frau. “Schon wenn ich Ihre Stimme höre, bekomme ich eine Gänsehaut. Ihre neue Frisur sieht aus wie Putzwolle und wenn Sie lachen, dann stört mich neben Ihrem Mundgeruch auch noch diese schreckliche Zahnlücke!” Die Frau mit der Putzwollefrisur bekam einen knallroten Kopf. Sie kochte vor Wut! Weil ihr in der Erregung nicht die passende Wahrheit einfiel, nahm sie ihren Regenschirm und zerschlug ihn auf dem Kopf der anderen. “Es tut mir so Leid!”, sagte der Lügensammler und stellte seinen Sack auf die Erde, um der misshandelten Frau wieder auf die Beine zu helfen. “Ich hätte das nicht sagen dürfen”, jammerte die dicke Frau. “Aber es kam einfach über mich!” “Ich hätte nicht gleich zuschlagen dürfen”, sagte die Frau mit der Putzwollefrisur. “Aber...” “Ich weiß, ich weiß!”, sagte der Man. “Die Wahrheit im falschen Augenblick, am falschen Ort ist manchmal sehr schmerzlich.” “Die Wahrheit? Wie meinen Sie das?”, sagte die Frau mit der Putzwolefrisur und bog ihren Regenschirm wieder gerade. “Sie wollen doch nicht behaupten, dass das die Wahrheit ist, was sie eben gesagt hat?” Drohend ging sie auf den Lügensammler zu. Der tat rasch einen Griff in seinen Lügensack und sagte: “Ich finde, Sie sehen beide recht hübsch aus, meine Damen. Man muss nur Fantasie haben.” “Finden Sie wirklich?”, fragte die Dicke und strich ihren unvorteilhaften Rock glatt. “Was haben Sie denn in diesem komischen Sack?”, erkundigte sich die andere Frau. “Lügen, lauter Lügen!”, seufzte der Mann. “Das glaube ich nicht. Kann ich mal reinsehen?” “Es ist gefährlich!”, warnte der Mann- “Viel gefährlicher ist es, die Wahrheit zu sagen, das haben Sie doch eben gesehen!”, antwortete die dicke Frau. Der Lügensammler wusste nicht, was er darauf antworten sollte. “Er lügt!”, sagten die beiden Frauen wie aus einem Mund und sahen den Lügensammler vorwurfsvoll an. Das konnte der Lügensammler natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Er öffnete den Sack ein ganz kleines bisschen und ließ die beiden hineinsehen. Aber weil sich die meisten Lügen unsichtbar machen können, bemerkten sie nicht, wie sich eine nach der anderen davonstahl. Seitdem gibt es wieder genügend Lügen auf der Welt.
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