Ich möchte in diesem Thread mal eine in der Theorie der Spieleentwicklung aktuelle Thematik vorstellen, die sich interactive storytelling nennt ( ich kürze die mal öfters als IS ab ). Da ich mich in meiner Diplomarbeit mit dem Thema beschäftige, würde mich mal interessieren, was ihr von diesem Konzept haltet.

Was ist interactive storytelling?
Nun ja, das ist leider gar nicht mal so leicht zu sagen, da die Verfechter dieses Konzepts oft ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben. Vereinfacht gesagt, geht es darum, dass der Spieler in einem Spiel an der Story aktiv teilnimmt, also mehr entscheiden und beeinflussen kann. Normalerweise hat man in Spielen eine lineare, filmmässige Handlung, also eine Storyline. Beim IS soll es stattdessen eine vom Autor bestimmte Storyworld geben, die zwar schon einem Regelsystem folgt und ein festgelegtes Szenario hat, aber anstelle von einer Linie eher einem verästelten Baum gleicht. Dieser Baum kann aber durchaus einen gemeinsamen Endknoten haben ( viele IS-Vertreter fordern sogar ein gemeinsames Ende der Stränge ). Die Kritik der IS-Vertreter an den aktuellen Spielen ist, dass sich diese Spiele zu sehr auf das Gameplay konzentrieren und nur sehr oberflächlich eine Geschichte erzählen.

Man darf nun aber IS nicht mit Offenheit in Spielen verwechseln. Es gibt ja einige westliche Spiele, die sehr offen sind, aber diese Offenheit bezieht sich mMn eher auf das Gameplay, als auf die Story. Janet Murray, die sich in ihrem Buch "Hamlet on the holodeck" mit IS beschäftigt ( sie nennt es selber aber nicht so, sondern spricht dort u.a. von Cyberdrama ), hat dort folgenden Vergleich aufgestellt. Auf der einen Seite hat man eine Attraktion in einem Vergnügungspark - z.B. eine "Jurrasic Park"-Fahrt - bei der ständig irgendwelche spektakulären Aktionen passieren, aber der Zuschauer keine Einflussmöglichkeit hat und deswegen nur Betrachter ist. Auf der anderen Seite hat man eine Simulation der Enterprise ( von Star Trek ), bei der man jeden Winkel des Schiffes betreten und mit allem interagieren kann, aber rein gar nichts passiert. Sie sieht ihre Vorstellung von einem unterhaltsamen Spiel ungefähr zwischen diesen beiden Extremen.

Meiner Meinung nach lassen sich östliche und westliche Spiele auch gut in diese beiden Kategorien einteilen. Ratet mal welchen Spieltyp ich in welche Kategorie packen würde. ^^

Ich denke, ich hab mit meiner Erklärung zwar nur an der Oberfläcke gekratzt, aber als grobe Vorstellung vom Prinzip sollte es trotzdem reichen. Wer sich damit näher beschäftigen will, kann sich ja das Buch von Murray durchlesen und zusätzlich dazu "On interactive storytelling" von Chris Crawford, das sich auch mit der praktischen Umsetzung von IS beschäftigt.

Ist das nun toll oder nicht?
Ja, das ist die Frage. Normalerweise bin ich ja Fan von den cineastischen Handlungen der östlichen Spiele, die von den üblichen Gameplaypassagen unterbrochen werden und brauch deswegen eigentlich gar nicht die Möglichkeit, mit der Story zu interagieren. Da für mich aber auch die Stories ein elementarer Bestandteil von (Rollen)Spielen sind, überlege ich schon, wie Spiele nach dem IS-Konzept aussehen würden. Die entscheidende Frage ist, ob Spiele nach dem IS eine Geschichte besser erzählen, als lineare Geschichten - ob also ein tieferes Eintauchen möglich ist. Ich selber bin da zwar skeptisch, aber ich bin trotzdem schon ein wenig neugierig geworden, denn es gibt durchaus Beispiele, wo ich als Spieler gerne mehr an der Story teilnehmen würde. Ich zeig das mal am Beispiel von VD 2.


Vorsicht, der Text enthält Spoiler, also nicht weiterlesen, wenn ihr das Spiel noch spielen wollt.


In VD 2 hat man ja die Möglichkeit Valnar gut oder böse zu spielen. Diese Entscheidung hat aber keine grosse Auswirkung auf die Story ( ausser die Enden ), sondern vor allem auf das Gameplay. Ich hab mich entschieden, Valnar als einen guten, menschenfreundlichen Vampir zu spielen. Nun gibt es aber das Problem, dass handlungsbedingt ein paar Inkonsistenzen auftreten. So ermordet Valnar eine Prostituierte auf eine Weise, die ziemlich im Widerspruch zu einem guten Charakter steht, genauso wie die 3 Vampire generell viele Menschen töten, bei denen sie mit ein wenig Verhandlungsgeschick vielleicht auch ohne Gewalt weitergekommen wären. Auch das Foltern in Asgars Schloss ist nicht unbedingt dem Charakter entsprechend. In diesen Fällen hätte ich mir gewünscht, wenn ich als Spieler auch konsequent die gute Spielweise weiterführen könnte. Natürlich hätte Marlex dann einen viel höheren Aufwand durch alternative Handlungsstränge gehabt, weswegen er wohl auch darauf verzichtet hat. Dennoch ist das hier für mich eines der Beispiele, wo mehr Einflussnahme des Spielers durchaus gut gewesen wäre.

Eure Meinung
Wie seht ihr das? Haltet ihr das Konzept vom IS für den heiligen Gral der Spieleentwicklung ( oder sogar für die Zukunft vom Geschichtenerzählen, wie z.B. Murray es sieht ), oder glaubt ihr, dass es sich eher negativ auf Spiele auswirken würde? Mich würde sehr interessieren, was ihr davon denkt.